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    Deutscher Bundestag 7. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1973 Inhalt Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . 121 A Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Brandt, Bundeskanzler 121 B Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Barzel (CDU/CSU) 134 B Wehner (SPD) . . . . . . . 143 C Mischnick (FDP) 147 D Nächste Sitzung 154 C Anlagen Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 155* A Anlage 2 Antwort des Parl. Staatssekretärs Rohde (BMA) auf die Fragen A 25 und 26 — Drucksache 7/12 — des Abg. Ziegler (CDU/CSU) betr. Neuberechnung der Renten nach Mindesteinkommen 155* B Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretärs Hermsdorf (BMF) auf die Frage B 5 — Drucksache 7/12 — des Abg. Flämig (SPD) betr. Erweiterung der Kapazität des US-ArmyFliegerhorstes Langendiebach . . . . 155* C 7. Sitzung Bonn, den 18. Januar 1973 Stenographischer Bericht Beginn: 10.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Achenbach * 20. 1. Adams * 20. 1. Dr. Aigner * 20. 1. Dr. Arndt (Berlin) * 20. 1. Dr. Artzinger * 20. 1. Behrendt * 18. 1. Dr. Burgbacher * 20. 1. Fellermaier * 20. 1. Flämig * 20. 1. Gerlach (Emsland) * 20. 1. Dr. Jaeger 18. 1. Dr. Jahn (Braunschweig) * 20. 1. Jung *** 20. 1. Lange * 20. 1. Lautenschlager * 20. 1. Lemmrich *** 20. 1. Lücker (München) * 20. 1. Memmel * 20. 1. Dr. Miltner 2. 2. Frau Dr. Orth * 20. 1. Richter 20. 1. von Schoeler 18. 1. Schwabe * 20. 1. Dr. Schwörer * 20. 1. Seefeld * 20. 1. Dr. Slotta 2. 2. Springorum * 20. 1. Dr. Starke (Franken) * 20. 1. Stücklen 18. 1. Todenhöfer 18. 1. Wagner (Trier) 20. 1. Wolfram * 20. 1. Anlage 2 Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Rohde vom 20. Dezember 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abgeordneten Ziegler (CDU/CSU) (Drucksache 7/12 Fragen A 25 und 26) : Was hat die Bundesregierung bisher unternommen, um die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer zügigen Abwicklung der Rentenreformgesetze, insbesondere zur Neuberechnung der Renten nach Mindesteinkommen zu veranlassen, und was gedenkt sie zu unternehmen? Ist die Bundesregierung weiterhin der Auffassung, daß die Neuberechnung der Renten nach Mindesteinkommen bis zu fünf Jahre in Anspruch nehmen wiirde? *) Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ***) Für die Teilnahme an Sitzungen der Versammlung der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht In der Fragestunde des Deutschen Bundestages hatte ich gebeten, die zur Neuberechnung der Renten nach Mindesteinkommen von Ihnen und von dem Kollegen Geisenhofer eingereichten Fragen im Zusammenhang beantworten zu können. Sie beziehen sich auf den gleichen Sachverhalt. Insofern darf ich mir erlauben, auf die Antwort hinzuweisen, die ich in der Fragestunde des Bundestages vom 19. Dezember 1972 zu den von Ihnen eingereichten Fragen zur Durchführung des Rentenreformgesetzes gegeben habe. Anlage 3 Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf vom 20. Dezember 1972 auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten Flämig (SPD) (Drucksache 7/12 Frage B 5) : Billigt die Bundesregierung die von den US-Streitkräften beantragte Erweiterung der Kapazität des US-Army-Fliegerhorstes Langendiebach (Landkreis Hanau), oder teilt die Bundesregierung die Meinung der vom Fluglärm besonders betroffenen Bevölkerung im Wachstumskreis Hanau sowie der örtlichen Behörden, wonach der bestehende Fliegerhorst in unmittelbarer Nähe der Wohngebiete nicht erweitert werden darf, sondern so bald wie möglich in eine dünner besiedelte Gegend verlegt werden muß? Im Zusammenhang mit dem Ausbau der B 3 im Raum Friedberg sind von den US-Streitkräften Überlegungen angestellt worden, ob und unter welchen Umständen der Flugplatz Ockstadt aufgegeben werden könnte. Hierbei ist als möglicher Ersatz u. a. auch eine Verlängerung der Startbahn in Langendiebach genannt worden. Z. Zt. wird mit dem HQ USAREUR darüber verhandelt, in welchem Umfange überhaupt eine Ersatzgestellung notwendig ist. Erst nach Abschluß dieser Verhandlungen wird unter Einschaltung der zuständigen Stellen des Landes Hessen und unter Berücksichtigung der Fragen der Raumordnung und des Naturschutzes darüber gesprochen werden können, wo der Ersatz tatsächlich gestellt werden kann oder ob durch geeignete Maßnahmen auf dem Flugplatz Ockstadt selbst die Einschränkungen im Flugbetrieb beseitigt werden müssen. Soweit von den örtlichen Behörden eine Verlegung des Flugplatzes Langendiebach angestrebt wird, darf ich Ihnen mitteilen, daß sich weder die US-Streitkräfte noch der Bund einer derartigen Maßnahme widersetzen würden, wenn die Fragen der Finanzierung und der Bereitstellung geeigneter Ersatzflächen zufriedenstellend gelöst werden können. Vorerst sehe ich allerdings keine Möglichkeit, eine Verlegung zu realisieren, da bei allen nach ihrer Lage in Betracht kommenden Ersatzflächen, für deren Erkundung das Land Hessen zuständig wäre, wahrscheinlich die gleichen Lärmprobleme auftreten würden.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Rainer Barzel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute jährt sich ein für alle Deutschen nach wie vor wichtiges Ereignis: Am 18. Januar 1871 wurde das Deutsche Reich gegründet. Das ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Vergangenheit, sondern auch unter dem der Zukunft wichtig. Heute hörten wir eine Regierungserklärung, die mit keinem Wort dieses Tages gedachte. Auch wer diese Terminplanung oder diese Unterlassung als einen Zufall oder als Flüchtigkeit entschuldigt, wird dies doch gleichwohl als ein Zeichen bedrückender Geschichtslosigkeit empfinden.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Widerspruch bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, dabei wäre es sehr wohl angebracht, gerade im Hinblick auf das, was der Herr Bundeskanzler in einer sehr verkürzten Form über den Zusammenhang von Frieden und Nation gesagt hat, noch einmal an folgende Sätze des Kanzlers Bismarck zu erinnern ich möchte dieses Zitat erneut in die Debatte einbeziehen, weil wir es für wichtig halten —:
    Ich habe stets den Eindruck des Unnatürlichen von der Tatsache gehabt, daß die Grenze, welche den niedersächsischen Altmärker bei Salzwedel von dem kurbrandenburgischen Niedersachsen bei Lüchow, in Moor und Heide dem Auge unverkennbar, trennt, doch den zu beiden Seiten plattdeutsch redenden Niedersachsen an zwei verschiedene, einander unter Umständen feindliche völkerrechtliche Gebilde verweisen will, deren eines von Berlin und das andere früher von London, später von Hannover regiert wurde, ... und daß friedliche und gleichartige, im Konnubium verkehrende Bauern dieser Gegend der eine für welfisch-habsburgische, der andere für hohenzollernsche Interessen — aufeinander schießen sollten.
    In diesem Zitat kommt doch als ein bleibendes Element jeder auf eine europäische Friedensordnung gerichteten deutschen Politik das Friedensmotiv der deutschen Einheit klar zum Ausdruck. Ich meine, allein dieser Bezug ist ein Anlaß, heute, wo ja angeblich die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland in die Regierungserklärung einbezogen sein soll, darüber nachzudenken.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir haben doch, Herr Bundeskanzler — die Väter der Verfassung, unterstützt von Historikern und Juristen , darum gekämpft, wirksam festzuhalten, daß das Deutsche Reich in der Niederlage Hitlers nicht untergegangen ist; daß dieses Reich fortbestehe; daß diese Bundesrepublik Deutschland im Interesse der Einheit der Rechtsnachfolger dieses Deutschen Reiches sei. Diesen Tatbestand hat unser höchstes Gericht bestätigt. Die deutsche Politik sah in dem Fortbestand des Reiches einen für die Zukunft so hohen Wert, daß die Bundesrepublik Deutschland z. B. viele, viele Milliarden Deutsche Mark für die Wiedergutmachung von Schäden geleistet hat, welche das Deutsche Reich unter Hitler anderen zugefügt hat.
    Das Ganze — das ist eben an diesem Tag festzuhalten — war Bestandteil einer Politik, welche die Einheit wahrte, indem sie mit Erfolg die deutsche Frage in der Substanz offenhielt. Das war eine Politik, die für viele draußen nicht bequem war. Aber wir meinen, wer moralisch, politisch und historisch verpflichtet ist, die Menschenrechte von 17 Millionen Deutschen einzufordern, der kann nicht immer bequem sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wer aufhört, diese Rechte einzufordern, wird sie hier im freien Teil Deutschlands verspielen. Wer aufhört, Unrecht und Unfreiheit beim Namen zu nennen, wird Recht und Freiheit hier nicht bewah-



    Dr. Barzel
    ren. Dem Frieden dient das nicht, denn Frieden ist eine Sache der Menschenrechte.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Mit keinem Wort ist in dieser Regierungserklärung — was doch zu Beginn dieses 7. Bundestages wichtig gewesen wäre — Bezug genommen worden auf die völkerrechtlich relevante gemeinsame Entschließung des letzten Bundestages vom 17. Mai 1972. Wir haben sie damals beinahe einstimmig angenommen. Es wäre doch gut gewesen, Herr Bundeskanzler, zunächst einmal jene Gemeinsamkeiten festzuhalten, über die wir uns bereits verständigen konnten.
    Vergleichen wir nämlich den deutschlandpolitischen Teil Ihrer Regierungserklärung z. B. mit dem letzten NATO-Kommuniqué oder mit dieser gemeinsamen Entschließung, wo doch sehr präzise die Rede ist von Deutschland, von dem einen deutschen Volk, von der fehlenden Einheit, dem Selbstbestimmungsrecht und dem Friedensvertrag, so müssen wir diesen Teil der Regierungserklärung als unzureichend qualifizieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Statt dessen spricht die Regierung von den beiden deutschen Staaten und nicht mehr, wie noch anläßlich des Verkehrsvertrages gemeinsam verabredet, von den beiden Staaten in Deutschland. Dies letztere ist doch eine Aussage von hohem Wert für den, der an der Einheit der Nation nicht nur im Wort festzuhalten die Absicht hat.
    Aber, meine Kolleginnen und Kollegen, man wird uns dann wohl entgegenhalten: Kann nicht die Einheit der Nation weit besser dadurch bewahrt werden, daß man lebendige Kontakte hin und her ermöglicht? Nun, uns braucht keiner über Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen als einen Maßstab für Entspannung und als eine Möglichkeit, die Wirklichkeit der Nation lebendig zu halten, zu belehren! Das ist ja unsere eigene Politik, und wir haben dazu unseren konkreten Stufenplan vorgelegt.
    Es ist doch aber leider wahr, daß es der Ostpolitik der Bundesregierung eben nicht gelungen ist, diese Freizügigkeit herzustellen. Wir stimmen dem Gedanken zu, daß durch mehr Freizügigkeit die Zusammengehörigkeit der Nation und der Wille, ein Volk zu bleiben, in praktischer Weise lebendig erhalten werden können. Aber was ist erreicht? Es ist erreicht, daß z. B. früher entstandene Verwandtschaften zu einer Einladung führen können und damit zu einer Begegnung. Es ist aber nicht erreicht, daß sich z. B. junge Menschen hin und her begegnen können, um neue Verwandtschaften zu begründen. Das allein würde doch für die Zukunft die Einheit der Nation eine lebendige Wirklichkeit werden lassen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Für die Zukunft wird dieser Zusammenhang nicht
    stärker. Dieses Rinnsal an Freizügigkeit, das nur in
    einer Richtung fließt, kann zudem noch durch Manipulationen der anderen Seite jederzeit wieder abgeschnitten werden.
    So haben wir für die Zukunft also nicht die lebendige Nation, die sich manche als Ergebnis dieser Politik erhofften. Der Bundeskanzler selbst hat diesen unseren Einwand eben bestätigt, indem er davon sprach, Familien und Freunde „aus alten Tagen", so seine Worte, fänden wieder zusammen. Was wird auf diesem Wege in zehn und in zwanzig Jahren sein, wenn diese Gründe „aus alten Tagen" für das Zusammenfinden nicht mehr bestehen.
    Dabei war an diesem Punkt, Herr Bundeskanzler, die deutsche Politik nicht nur der Unterstützung der Opposition sicher, sondern auch der nachdrücklichen Hilfe aller- NATO-Staaten. Die Kommuniqués der NATO bezeichnen seit vielen Jahren die Freizügigkeit als Inhalt und Maßstab wirksamer Entspannung zwischen Ost und West.
    Die Koalition hat dies beides nicht genutzt. Und ich muß leider hinzufügen: Der deutsche Vertreter in Helsinki hat am 29. November 1972 anläßlich der Vorbereitung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit peinlicher Zaghaftigkeit dieses Thema eher als einen Merkposten denn als zentrale Forderung einer freiheitlichen und realen Entspannungspolitik behandelt. Und die Regierungserklärung dazu war eben mehr als dürftig.
    Wir vermissen auch, Herr Bundeskanzler, jeweden Hinweis darauf, daß Sie entschlossen sind, die Ihnen gegebenen Zusagen auf dem humanitären Gebiet einzufordern. Denn diese Zusagen werden doch nicht sämtlich so eingehalten, wie sie uns hier mitgeteilt worden sind. Wir sehen — und das sollte debattiert werden —, daß sich z. B. die Zahl der Umsiedler aus der Sowjetunion kurz vor Bundestagswahl erhöhte; und nun ist diese Zahl rapide gesunken. Immerhin darf nicht in Vergessenheit geraten, daß vor den Verträgen und ohne sie, also von 1955 bis 1970, 22 568 Menschen aus der Sowjetunion kamen.
    Dasselbe gilt für Polen. Die Zahl der Umsiedler verringerte sich 1972 gegenüber 1971; sie ging um fast die Hälfte zurück. Und so ließe sich auch über die Zahlen aus der DDR hier vieles sagen.
    Inzwischen aber sehen wir, daß die Behörden der DDR die durch den Verkehrsvertrag, dem wir zugestimmt haben, verabredeten Reise- und Besuchsmöglichkeiten durch Druck und durch Drohung einengen, manipulieren, ja verhindern. Wann und wie werden Sie das, Herr Bundeskanzler, in Ordnung bringen, damit die Buchstaben dieses Vertrages so erfüllt werden, wie sie hier im Hause vorgetragen wurden?
    Die Regierung und auch Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben vor dieser Debatte mitteilen lassen, Ihre Regierungserklärung werde zugleich die Lage der Nation behandeln. Nun, es ist die Pflicht der Bundesregierung, einem Parlamentsauftrag entsprechend, über die Lage der Nation im g e s p a 1-



    Dr. Barzel
    tenen Deutschland zu berichten — so der Auftrag an die Regierung.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

    Schon 1971 haben Sie dem nicht entsprochen, indem Sie lediglich einen Bericht zur Lage der Nation vorlegten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der Umgang mit dem Parlament!)

    Seither haben wir immer wieder gerügt, daß Sie Mitteilungen über die Zahl der an der innerdeutschen Grenze Ermordeten und über die Fluchtversuche ebensowenig machten wie über die innere Lage und die menschenrechtswidrige Situation der Menschen in der DDR.
    Auch Ihre heutige Regierungserklärung schweigt sich — entgegen den öffentlichen Ankündigungen — über die Wirklichkeit in der DDR aus und verzichtet darauf, den schuldigen Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland hier einzubeziehen.
    Wie ist es dort — diese Frage muß man doch stellen und durch die Regierung auch beantworten — mit der Freiheit der Berufswahl, mit der Freiheit der Information, der Meinung, des Reisens? Wie ist es dort mit Mitbestimmung, mit Schülermitverantwortung, mit Betriebsräten? Wie ist es mit der Transparenz gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse? Wie ist es dort etwa mit Vermögensbildung, mit Renten, mit Wohnungen? Warum schweigt Ihre Regierung dazu, Herr Bundeskanzler?
    So haben Sie meinen Vorwurf, erhoben vor dieser Debatte, erhärtet: Diese Bundesregierung enthält dem Parlament pflichtwidrig den Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland vor.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Deshalb, Herr Bundeskanzler, kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen — der wird nicht gemildert durch Ihre Ankündigung, künftig jedes Jahr über den Stand der Beziehungen zwischen den Regierungen zu berichten —, daß Sie, indem Sie darzutun unterlassen, was drüben wirklich ist, dazu beitragen, daß die fundamentalen Unterschiede verwischt werden und die Wertvorstellungen unserer freiheitlichen Ordnung hier im Bewußtsein vieler an Strahlkraft verlieren.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, am Beginn dieser Politik stand die von dem jetzigen Minister Bahr begründete Forderung nach einem „Wandel durch Annäherung". Als man danach fragte, was dies heiße, antwortete man: Wandel in der DDR durch Annäherung an die DDR. Besteht inzwischen nicht die Gefahr, daß daraus ein Wandel in der Bundesrepublik Deutschland wird? Wenn, was viele hoffen, dieses Ergebnis nicht gewollt ist, stellen sich doch doppelt deutlich folgende Fragen:
    Warum gab es z. B. auf dem Landesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von Nordrhein-Westfalen Anträge, die darauf abzielen, unsere heimatvertriebenen und geflüchteten Mit-burger zu diskreditieren, — Anträge, nach denen Steuergelder nicht zur Pflege von Kultur und Heimat, sondern nach Wohlverhalten gegenüber der Politik der Bundesregierung verteilt werden sollen?

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

    Wir stehen — dies muß hier gesagt werden — gerade jetzt zur Meinungsfreiheit und zur Koalitionsfreiheit auch unserer vertriebenen und geflüchteten Mitbürger, die wir nicht in eine isolierte Ecke abdrängen lassen wollen. Was sie erlebt haben, ist schlimm genug.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Warum, Herr Bundeskanzler, geht die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", Ihnen doch in der Ostpolitik eher hilfreich, am 5. Januar 1973 mit der Mitteilung in die Öffentlichkeit, die journalistische Arbeit über die DDR sei erschwert? Da heißt es — ich zitiere dies, zumal Fritz Ullrich Fack mit seinem Namen dafür steht —:
    Hier wird ein Stück jener Verstrickungen sichtbar, die sich als Ergebnis der forcierten Annäherungspolitik eingestellt haben. Das Wort vom „Wandel durch Annäherung" erfüllt sich auf unvorhergesehene Weise mit Sinn. Es gibt zahlreiche Indizien für diesen Wandel: Da sind die vielen „Geheim"-Stempel, die neuerdings in den Bonner Ministerien alle von drüben gemeldeten (negativen) Vorgänge versiegeln.
    Das Taschenbuch über die DDR erscheint nicht mehr: alles keine opportunen Themen mehr.
    Was es sonst noch an öffentlich verbreiteter Beschwichtigungspolitik gibt, kann der Staatsbürger in kurzen Abständen vor dem Fernsehschirm verfolgen, wenn die Rede auf die jeweils neuesten DDR-Schikanen kommt und ein Regierungsmann sich dazu äußert. Da mischen sich Bedauern, Entschuldigung und stilles Verständnis für die — wie immer — schwierige innenpolitische Lage der SED zu einem ungenießbaren Informationsbrei.
    Diese Zeitung hat deshalb wohl recht, wenn sie daran die Frage knüpft: „Wird hier eine Latte im Gartenzaun morsch?" Wenn wir das Ganze im Zusammenhang sehen, ist dies wohl mehr als eine Latte.
    Unserer Regierungspolitik von 1949 bis 1969 galt die politische Freiheit auch in diesen Fragen als oberstes Prinzip. Das machte uns selbst die getarnte Form der Anerkennung der DDR unmöglich. Die politische Freiheit — dies ist eine Antwort auf Ihre Bemerkung zur Nation, Herr Bundeskanzler ist für uns die unabdingbare Voraussetzung nationalstaatlicher Einheit. Daran werden wir festhalten, auch wenn etwa irgendwann mit Schalmeientönen der Einheit Konföderationspläne lanciert werden sollten, die nur zur Unfreiheit führen könnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Von Deutschland, so meinen wir, darf nicht nochmals der Geist der Unfreiheit und des Unrechtes ausgehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)




    Dr. Barzel
    Wir haben nicht vergessen, daß im Laufe des Zweiten Weltkrieges vom Westen her immer wieder betont wurde, „daß eine freiheitlich-demokratische Ordnung in Deutschland eine wesentliche Voraussetzung des Friedens in der Welt" sei (Buchheim). Wir haben von Anfang an daran geglaubt, und wir glauben daran. Die Union hat ihre Strategie des Friedens darauf ausgerichtet. Wir glauben daran, obwohl das zur Zeit selbst im Westen nicht überall und jeden Tag Mode ist; denn unser Ja zur Freiheit und zum Westen ist weder zeitweilig noch opportunistisch. Ich wünsche nur, daß alle, die nun Wettläufe nach Ost-Berlin antreten, dies eben auch nicht bei ihrer Überprüfung vergessen, nämlich die frühere uns mitgeteilte moralische und historische Kategorie des Friedens, „daß eine freiheitlich-demokratische Ordnung in Deutschland eine wesentliche Voraussetzung des Friedens in der Welt sei".
    In den letzten Wochen hat die Sache Berlins — ich kann nur sagen: als Folge von Geschwätzigkeit — eine überflüssige und folgenschwere Niederlage erlitten. Das Berliner Stimmrecht, das wir alle wollen, ist nun wohl nicht näher

    (Abg. Mattick: Seit wann denn?)

    — lesen Sie doch unser Programm, Herr Mattick! —, sondern eher weiter weg als vorher. Berlin ist keine Sache für politische Sandkastenspiele mit Schlagzeilenabsicht! Berlin ist eine Probe auf unsere Haltung: Wo bleiben, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Ihre Beratungen, die nach dem Abkommen möglich und legitim sind? Sie könnten als Fraktionen und Parteien häufiger in Berlin zusammentreten. Warum lassen so viele Minister Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, den Bundespräsidenten allein in Berlin amtieren?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir haben dort Rechte. Sie werden verkümmern, wenn wir sie nicht nutzen. Hinsichtlich Berlins sollten wir, wenn dies möglich ist und auch von anderen gewünscht wird, zum Zusammenwirken aller zurückkehren. Nur so wird mit Erfolg das möglich sein, was das Abkommen uns aufgibt, nämlich die Bindungen nicht nur zu halten, sondern zu entwikkeln.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Dazu gehört, daß wir dies hier aufwerfen.
    Es war in diesen Tagen zu lesen, die Sowjetunion selbst habe diplomatische Hinweise über ihre Auffassungen zum Berliner Stimmrecht und zum Luftverkehr mit Bulgarien gegeben. Wir werden diese Interventionen in den vertraulichen Ausschüssen zur Sprache bringen und hoffen dabei auf volle Aufklärung. Wir hoffen, dabei auch nicht auf die geringste Spur einer Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten zu stoßen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir begrüßen mit Dank und mit Erleichterung und mit Genugtuung die Aussichten auf Frieden in Vietnam. Wir verurteilen Unfreiheit, Terror und Unrecht überall in der Welt und überall nach denselben Grundsätzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Für uns — und dies ist eine innenpoliische Bemerkung — ist der Vietkong kein Vorbild. Wir sind zu humanitärer und sozialer Hilfe in Vietnam bereit und haben an dieser Stelle ja auch soeben sichtbar dem Bundeskanzler unsere Unterstützung gegeben.
    Der Bundeskanzler hat einige Worte zum Problem Israel gefunden. Für uns sind die Aussöhnung und die Zusammenarbeit mit Israel und mit dem jüdischen Volk von Anfang an eine wesentliche Substanz unserer Politik gewesen. Und dies bleibt so.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Anders als 1969 enthält diese Regierungserklärung einen europäischen Akzent. Hier ist, so sieht es aus, die Handschrift des Herrn Außenministers unverkennbar. Wir werden diese Erklärung sorgsam prüfen. Wenn Sie bereit sind, den Worten Taten folgen zu lassen, und in diesen Fragen Zusammenarbeit suchen, so könnte sich auf diesem Gebiet Fortschritt einstellen.
    Freilich, die Formulierung, die Sie für die europäische Union fanden, bedeutet nur ein Geflecht und nicht eine Gemeinschaft. Wir sind auf die Gemeinschaft angelegt, denn wir haben unsere Interessen und unsere Wirtschaftskraft endgültig in die Gemeinsamkeit mit unseren europäischen Nachbarn eingeordnet. Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat. Wir wollen, da sich hier möglicherweise ein Gespräch über das Verhältnis von Regierung und Opposition hinaus andeutet, doch einiges mehr zu unserer Auffassung dazu sagen. Wir wollen diesen europäischen Bundesstaat durch praktische Schritte erreichen, welche unwiderrufliche Tatsachen auf dem Wege zur Vereinigung Europas schaffen. Gleichzeitig mit den Schritten zur Wirtschafts- und Währungsunion wollen wir auch die politische Vereinigung Europas anstreben, und zwar, nacheinander, durch die Pflicht der Partner, einander über wichtige politische Fragen zu unterrichten und die Meinungen der anderen einzuholen, dann: durch die Zusammenarbeit und das Zusammenwirken in Bereichen der gemeinsamen Politik und schließlich durch die Bildung der politischen Union. Wir wollen die Gemeinschaft und ihre Organe, vor allem das Parlament, stärken und glauben, daß in den Fragen der Entwicklungshilfe, des Umweltschutzes und der modernen gesellschaftspolitischen Probleme die Gemeinschaft vermehrte Zuständigkeiten erhalten muß. Wir legen Wert auf die Feststellung, daß dieses sich vereinigende Europa seine Beziehungen zu anderen ordnen sollte durch einen Konsultations- und Kooperationsvertrag zwischen den USA und der Gemeinschaft, durch einen Kontaktausschuß mit den Staaten Ost- und Mitteleuropas und durch eine abgestimmte Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt einschließlich der Entwicklungspolitik auf der Grundlage der internationalen Solidarität.
    Wir haben — und wir sagen dies erneut — unsere Zukunft endgültig auf den Vorrang der Politik der Vereinigung des freien Europa gesetzt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Indem wir diese einzige verwirklichte europäische
    Friedensordnung ausbauen, dienen wir — durch



    Dr. Barzel
    Friedfertigkeit, durch vermehrten Austausch und durch Offenheit auch noch Osten — einem Europa, das allen Europäern Frieden, Gerechtigkeit und Zusammenarbeit bringt.
    Wir haben — und dies muß gesagt werden — auch in unserer Außenpolitik einige grundsätzliche Wertentscheidungen getroffen. Wir sagen deshalb: Wir haben Freunde und Verbündete in der Welt gewonnen, zu denen wir stehen und mit denen wir zusammenwirken. Unser Platz ist endgültig an der Seite derer, die Selbstbestimmung und Freiheit so wollen wie wir; die mit uns entschlossen sind, durch gemeinsame Anstrengungen Frieden und Freiheit zu sichern; die mit uns bereit sind, Not und Armut in der Welt zu überwinden. Wir haben weder in unserer Wertordnung noch in unserer Außenpolitik Platz für wertfreien Neutralismus, meine Damen und meine Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir betonen in die andere Himmelsrichtung und in alle Richtungen, daß Frieden und Zusammenarbeit die Hauptaufgaben dieser Zeit sind, daß dem Frieden, wie wir meinen, am besten der dient, der die Menschenrechte verwirklicht. Das gilt auch für jene Landsleute, denen Menschen- und Gruppenrechte vorenthalten werden.
    Was die DDR betrifft, so werden wir das ja bald hier zu diskutieren haben. Wir betonen erneut: Es muß ihr zugemutet werden, der Realität der Einheit unseres Volkes in dem Maße Rechnung zu tragen, in dem wir der Realität ins Auge sehen, daß die staatliche Einheit Deutschlands zur Zeit nicht verwirklicht werden kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir sind — bei allen grundsätzlichen Unterschieden, die wir nicht verwischen — im Interesse der Menschen in dem Maße zum Miteinander mit der DDR bereit, in dem diese Schritt um Schritt den Weg für die Freizügigkeit freigibt.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Wir wollen gute Beziehungen mit allen Staaten Ost- und Mitteleuropas und die Vermehrung des wirtschaftlichen, kulturellen und wirtschaftichen Austausches. Wir hoffen, daß es auf diese Weise zu Verständigung und Zusammenarbeit im Interesse des europäischen Friedens kommt, und wir sind bereit — dies gehört in diese Erklärung —, die internationalen Vorhaben einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sowie eine Konferenz über die ausgewogene gegenseitige Truppenverdünnung in Europa in dem Maße zu unterstützen, in dem auf diesem Wege zur Entspannung nicht nur mit Worten, sondern in den Realitäten beigetragen werden kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Voraussetzung bleibt die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Ihre innere und äußere Freiheit werden wir zu schützen wissen, indem wir ohne Vorbehalt in der atlantischen Gemeinschaft zu Frieden und Sicherheit beitragen.

    (Vorsitz: Vizepräsident von Hassel.)

    Wir wollen betonen, daß Entwicklungshilfe — die in der Debatte der kommenden Woche sicherlich eine Rolle spielen wird — für uns auch eine Sache des Herzens und der moralischen Verpflichtung ge-gegenüber dem Nächsten in Not ist.
    Meine Damen und Herren, auch im innenpolitischen Bereich zeichnet die Regierungserklärung am meisten das aus, was fehlt.
    So fehlt — auch das ist wohl kein Zufall — das
    Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft. Das wundert uns um so mehr, als doch diese Regierungserklärung, wie verkündet worden ist, eine „liberale Handschrift" tragen sollte. An dieser Stelle ist das nicht zu finden. Wir greifen dies auf, weil nach unserem Eindruck — wenn er falsch ist, sollte das diese Debatte bestätigen — sich hier innerhalb der sozialdemokratischen Partei ein Wandel vollzieht. Ich zitiere den Vorsitzenden der SPD in seiner von uns als bedeutungsvoll empfundenen Rede vom 10. Dezember 1972:
    Andererseits dürfen wir nicht glauben, der Klassenkampf habe schon deswegen aufgehört, weil wir ihn überwiegend anders nennen.

    (Abg. Dr. Apel: Na und?)

    Noch werden wir gar auf diejenigen hereinfallen, die das Grundgesetz mit einem Festschreiben gegenwärtig bestehender Machtverhältnisse gleichsetzen möchten, die sie soziale Marktwirtschaft nennen.

    (Abg. Dr. Apel: Na und? Das ist doch richtig!)

    — Gut, Herr Apel, wenn Sie sagen: „Na und?" und wenn Sie die Fragezeichen nicht spüren! Dies ist ein Punkt für die Debatte. Entweder ist dies so gemeint, wie er sagt, oder es ist so gemeint, wie wir hier befürchten müssen. Denn wir haben doch erlebt, wie mit der Veränderung von Worten durch diese Regierung am Schluß eine ganz andere Politik herauskommt.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir werden also diese Debatte gern aufnehmen und weichen ihr nicht aus, auch wenn es zu einer Konfrontation in den Fundamenten führen sollte. Wir wollen diese Ordnung mit dem Ziel auf mehr soziale Gerechtigkeit verbessern. Eine andere Ordnung oder eine Sprengung dieses Systems wollen wir nicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Auch mit dem guten Wort „Lebensqualität" — einem selbstverständlichen Ziel aller Parteien, einem in der internationalen politischen Welt üblichen Begriff — wird man von dieser fundamentalen Auseinandersetzung über Grundwerte und Zielvorstellungen unserer freiheitlichen Ordnung nicht ablenken können.
    Im übrigen: es wäre redlich oder redlicher — gerade wenn man dieses Wort „Lebensqualität" so häufig benutzt —, z. B. die reale Lage einer kinderreichen Familie im dritten Jahr der durch die Politik der Bundesregierung verursachten trabenden Inflation zu erkennen, deren verschlechterte Lage



    Dr. Barzel
    einzugestehen, konkret zu helfen und endlich das überfällige, notwendige und mögliche Signal zu geben, das Signal eines ernsthaften Stabilitätswillens der Bundesregierung.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Dieses Signal ist erneut ausgeblieben, und auch dieses Fehlen ist bedeutsamer als der Wortreichtum der Regierungserklärung.
    Die lezten Tarifabschlüsse und die damit zusammenhängenden Urabstimmungen sprechen doch eine beredte Sprache, deren Ernst niemand übersehen sollte. Die Verniedlichung der Lage durch die Koalition stimmt eben z. B. weder für die Kohle noch für Stahl noch für die beschwichtigenden „Unter-demStrich-Rechnungen" dieser Koalition.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Das Ergebnis der letzten Lohnrunde offenbart diesen Zielkonflikt: für den einzelnen zu wenig — es ist ja nicht einmal der Status gehalten — und für die Stabilitätspolitik trotzdem zu viel. Das ist doch der Zielkonflikt, von dem hier zu sprechen ist

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    und der eine Folge ist vom Treibenlassen, vom Verharmlosen, vom Verschweigen, vom Verniedlichen durch diese Bundesregierung.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir haben immer wieder aufgefordert, der Rückgewinnung der Stabilität Priorität einzuräumen, und Sie werden noch sehen, Herr Bundeskanzler, daß Sie alle die Absichten, die Sie hier in schönen Worten verkündet haben, nur werden realisieren können — selbst wenn Sie die Steuerschraube anziehen —, wenn wir wieder Stabilität haben werden. Wir haben deshalb eine nüchterne wirtschaftliche und finanzpolitische Bestandsaufnahme angeregt. Wir haben gefordert, ein umfassendes Stabilitätsprogramm zu entwickeln, und dazu selbst eigene Vorschläge in den Wahlkampf eingeführt und darum gebeten, durch ein entschlossenes Handeln ein deutliches, für alle sichtbares Zeichen zu setzen. Dies ist ausgeblieben, obwohl das Gutachten des Sachverständigenrates auch insoweit doch verheerend über die bisherige Politik der Bundesregierung urteilt.
    Warum lassen Sie erneut die Bundesbank in ihrem Kampf um eine Dämpfung des Preisauftriebs allein? Warum sprechen Sie von allen möglichen, die an der Preisfindung beteiligt sind, vergessen dabei aber völlig den Einfluß des Staates auf Konjunktur und Preise?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wenn der Preisindex für die Lebenshaltung im Dezember den Rekord von 6,5 %, für Rentner und Kinderreiche sogar von 7,1 %, erreicht hat, dann ist das, was Sie, Herr Bundeskanzler, soeben dazu sagten, einfach völlig unzureichend;

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    das ist unzureichend, wenn die Preise weiter und
    das seit nun mehr als zwei Jahren — deutlich stärker steigen als der Realzins auf der Sparkasse.
    Wir sehen, daß Sie der klaren Verpflichtung des Stabilitätsgesetzes ausweichen, den Tarifpartnern Orientierungsdaten an die Hand zu geben. Sie haben dies bis zur Stunde nicht getan. Sie werden am 2. Februar die Konzertierte Aktion haben, aber dann sind durch wichtige Tarifrunden die Weichen bereits gestellt und die Züge abgefahren.
    Von der Vermögensbildung, die ein wesentlicher Teil eines sozial ausgewogenen Stabilitätskonzepts sein müßte, ist bisher im Zusammenhang mit den aktuellen Tarifverhandlungen überhaupt nicht die Rede.
    Was wir jetzt bei den öffentlichen Finanzen, bei Bahn, bei Post und beim Straßenverkehr erleben, das sind doch die ungedeckten Wechsel, die nun den Bürgern zur Einlösung präsentiert wurden.

    (Beifall bei der CDU/CDU.)

    Was alles hat man uns vorgeworfen, als wir es wagten, die wirkliche Lage z. B. von Bahn und Post darzutun!
    Nun liegt die Regierungserklärung vor. Aber, Herr Bundeskanzler, die letzte mittelfristige Finanzplanung datiert vom Oktober 1971. Seit nunmehr anderthalb Jahren fehlt die finanzpolitische Leitlinie. Auch wenn Sie die finanzpolitische Lage des Bundes weiterhin kaschieren, so macht doch ein Blick auf die vorliegenden Etats von Ländern und Gemeinden deutlich, daß die Folgen der Inflation für die öffentlichen Haushalte bereits da sind.
    Aus der Haushaltsexplosion z. B. des Etats von Nordrhein-Westfalen zieht deshalb eine große Tageszeitung mit Recht die Folgerung — ich zitiere —:
    Jetzt rächt sich der Verzicht der alten und neuen Bundesregierung auf rechtzeitige Orientierungsdaten. Der Zug fährt bei den Ländern und Gemeinden praktisch ab, ehe Bonn überhaupt zum Kassensturz und zur mittelfristigen Finanzplanung gekommen ist.
    Wir haben im Ohr, daß nach dem Urteil des Sachverständigenrates die öffentlichen Haushalte 1972 noch stärker expansiv, d. h. noch mehr mitverantwortlich für die Inflation sind. Wir haben die Zahlen gesehen und wissen, daß der Staat 1972 wegen der hohen Preissteigerungen trotz erneuter Ausgabenexpansion wiederum keinen Schritt auf dem Wege vorangekommen ist, mehr Leistung für die Bürger zu realisieren.
    Von all diesen Wirklichkeiten redet die Regierung nicht. Die Regierungserklärung schweigt sich dazu aus — mit der Ausnahme, daß sie höhere Steuern ankündigt und auch hier die Ungewißheit vermehrt. Keiner weiß, wann, was, wie, zu welchen Bedingungen und zu welchen Prozentsätzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Dies alles ist — und ich sage dieses Wort bewußt — gefährlich, weil hier Gefahren für unsere Ordnung entstehen, die nicht allein wir sehen, sondern die der Sachverständigenrat in seinem jüngsten Gutachten wie folgt formuliert hat:



    Dr. Barzel
    Unmerklich zunächst, doch im Laufe der Zeit immer mehr und schon heute spürbar verdirbt die Inflation das Urteil der Menschen über wirtschaftliche Zusammenhänge. Es gibt wirtschaftliche Erscheinungen, die zu beklagen sind und die sich in der ökonomischen Analyse teilweise, wenn auch nicht vollständig, als Folgen der Inflation erweisen, die vom Bürger jedoch einem Versagen der marktwirtschaftlichen Ordnung zugerechnet werden und die ihn daher veranlassen, nach einer Einschränkung eben dieser Ordnung zu verlangen.
    Das ist die Gefahr, die Sie durch Nichtstun deutlich beschleunigt heraufbeschwören.
    Meine Damen und Herren, wir nehmen an, daß es in diesen Fragen in diesem 7. Bundestag kontrovers zugehen wird. Wir glauben, daß sich diese Kontroverse immer mehr dem grundsätzlichen Bereich zuwenden wird. Dies ist sicher gut so. Deshalb sind auch einige Erklärungen des Kanzlers, selbst wo wir ihm nicht zustimmen, für diese erste Aussprache angebracht.
    Wir haben am 15. Dezember erklärt: Gesellschaftspolitik entscheidet über die Zukunft der Freiheit, und hinzugefügt, daß dazu unser Engagement für die humane Leistungsgesellschaft gehört. Wir sind sicher einig, daß der Wert eines Menschen nicht ausschließlich nach seiner Leistung oder gar nach dem Entgelt zu beurteilen ist, das er für diese Leistung erzielt; denn die Würde des Menschen ist unabhängig von der Leistung. Aber ebenso deutlich sagen wir, daß wir eine freiheitliche Gesellschaft wollen, in der es jedem möglich ist, sich durch eigene Leistung seinen Platz in dieser Gesellschaft zu erkämpfen. Wir halten nichts davon, den Faulen und den Fleißigen über einen Leisten zu schlagen, und gar nichts halten wir von einer bürokratischen Zuteilung von Lebenschancen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Von allen Verteilungsprinzipien ist die Verteilung nach der Leistung immer noch die gerechteste. Unsere demokratische Ordnung konnte nach unserem Selbstverständnis jenen entscheidenden Vorsprung vor allen kollektivistisch organisierten Gesellschaften und Staaten nicht etwa durch trennenden Klassenkampf, sondern nur durch schöpferischen Geist und Produktivität, durch Leistung, soziale Partnerschaft und soziale Marktwirtschaft gewinnen und ausbauen.
    Wir wollen daran festhalten und uns bemühen, noch hinzuzugewinnen: mehr Toleranz, mehr Rücksicht, mehr Solidarität, die Verstärkung der sozialen Dienste und in all dem mehr Menschlichkeit. Dies alles wird leichter gehen, wenn wir für die Kirchen, für die Kunst und die Künstler, für die Wissenschaft die Ohren offen haben und die Mitwirkung gestalten. Mit Freiheit und Verantwortung — dies beides ist untrennbar — und mit den sie tragenden ethischen Grundsätzen steht und fällt der Wille zur Selbstbehauptung unserer freiheitlichen Demokratie gegenüber ihren inneren und äußeren Feinden. Damit steht und fällt aber auch für jeden Bürger dieses Landes das Ausmaß an persönlicher Freiheit, an Selbstverwirklichung und Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen und diesem Staat.
    Die Leitidee ,der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union, zweier zunächst der Freiheit verpflichteter Parteien der Mitte, ist: Für uns ist Fortschritt nur da, wo sich der Mensch mit seinen Rechten voller entfalten kann, wo diese Freiheit alltagswirksam in ihrer sozialen Basis so gestärkt wird, daß sie vom Papier der Verfassung zur realen Möglichkeit wird, und nur dort, wo der Mensch seine Verpflichtung für ,den andern erkennt, ernst nimmt und verantwortlich verwirklicht.
    Dieser Maßstab, ,der reale Freiheitsraum des Menschen, bestimmt unser Urteil in allen Bereichen der Politik, in der Bildungs- wie in der Rentenpolitik, in der Entspannungs- wie in der Sicherheitspolitik. Wir meinen, nur auf dieser Basis werden wir ein leistungsfähigeres Gemeinwesen mit weniger Zwängen, Verfremdung und Verwaltung, aber dafür mit zufriedeneren Menschen schaffen können. Von diesem Bild geht die Opposition aus. Unsere Vorstellungen haben nichts mit Klassenkampf oder Verfestigung von Machtstrukturen gemeinsam.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir werden also weiterhin — auch in diesem Hause — mit den Fragen nach der besseren und leistungsfähigeren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung konfrontiert sein. Wir werden aber auch die Probleme, welche sich aus ,der sprunghaft entwickelnden Technik und Wissenschaft für ,die Politik und unser Bildungswesen stellen, zu lösen haben. Das gilt auch für die Probleme des vereinsamten Menschen in der Industriegesellschaft und für die verstärkte Mitwirkung ,der Bürger an Politik und Verwaltung.
    Wir werden vor allem auch mit der jungen Generation in einem ständigen Gespräch über unsere Werte und Ordnungsvorstellungen stehen und die Jugend für diesen Staat, seine Ordnung und seine Wertvorstellungen noch stärker gewinnen. Es wird in den vor uns liegenden vier Jahren vielleicht mehr, als mancher ahnt, und sicher mehr als in ,den zurückliegenden Jahren um die Grundprobleme unserer Existenz gehen. Wir wollen den freien und mündigen Bürger; dafür wollen wir die gesellschaftlichen Voraussetzungen schaffen. Wir kämpfen für eine Ordnung, die Chancengleichheit, persönliche Freiheit und sozialen Fortschritt garantiert.
    Hierbei muß die Bildungspolitik endlich wieder die Priorität erhalten, die von .der Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode zwar immer wieder versprochen, aber 'trotzdem nie wahrgemacht wurde. Für die CDU/CSU ist die Bildungspolitik ein zentraler Bestandteil der auf gesellschaftspolitischem Gebiet durchzuführenden Maßnahmen. Die Bildungspolitik muß dabei als ein dynamischer Prozeß verstanden werden, der den menschlichen, den sozialen und politischen Erfordernissen unerer Industriegesellschaft gerecht wird. Die Aufgabe der Bildungspolitik muß es dabei sein, die Leistungsbereitschaft des einzelnen zu wecken sowie ihn seiner Begabung und Neigung entsprechend zu fördern.



    Dr. Barzel
    Das wird nur gehen, wenn wir innerhalb dieses Schwerpunktbereiches genau Prioritäten setzen. Für uns gilt es zunächst, die berufliche Bildung zu reformieren und auszubauen. Unser Antrag aus dem vorigen Bundestag ist sicher noch in Erinnerung. Es geht darum, den gezielten Abbau des Lehrermangels und der überfüllten Klassen sowie eine bessere Ausbildung der Lehrer zu erreichen, die Hochschul- und Studienreform durchzuführen und eine ausreichende Hochschulkapazität zur Milderung des Numerus clausus zu erreichen. Es geht darum, die Vorschulerziehung durch eine gezielte Förderung von Kindergärten und Vorschulplätzen im Zusammenwirken mit den freien Trägern auszubauen. Dies sind unsere Prioritäten innerhalb des Schwerpunkts „Bildung".
    Wir glauben, daß wir diese Anstrengungen auch den jungen Menschen schuldig sind, deren Lebensgefühl in unserer Gesellschaft mehr Platz finden soll. Wir wollen die Chancen auf Mitarbeit und Mitverantwortung verbessern. In diesem Zusammenhang weisen wir darauf hin, daß wir schon im letzten Bundestag die Herabsetzung des Alters der Geschäftsfähigkeit beantragt und die Reform des Jugendrechts gefordert haben.
    Ein Schwerpunkt unserer Bemühungen für die Menschen muß darin bestehen, die Lebensbedingungen der Bevölkerung, insbesondere in den Ballungsräumen, zu verbessern und die Erschließung der ländlichen Gebiete voranzutreiben, damit die Menschen dort nicht schlechter gestellt sind.
    In der Energiepolitik sind nun endlich nicht mehr Reden, sondern Entscheidungen dieser Regierung fällig.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich verzichte jetzt darauf, zu den Fragen der Bundeswehr, der regionalen Strukturpolitik, des Umweltschutzes, der Raumordnung, der Agrarpolitik, der Medienpolitik wie auch zu allen schichtenspezifischen Problemen zu sprechen. Dies wird in der Aussprache geschehen.
    Wir wollen hier, weil dies wichtig ist, aber noch folgendes sagen: Dieser 7. Deutsche Bundestag soll und kann wesentliche Gesetze beschließen zur Verbesserung der Eigentumsbildung — hierzu gibt es bisher, wie schon seit drei Jahren, wiederum nur eine Ankündigung der Regierung —, zur Verbesserung der Bildung, vor allem der beruflichen Bildung, des Wettbewerbs, des Bodenrechts, der Steuergesetze und der Mitbestimmung.
    Die Regierung Brandt hat in der 6. Legislaturperiode viele Fragen nicht lösen können, Das hat dazu geführt, daß wir in der neuen Regierungserklärung mehrere alte Bekannte wieder antreffen. Die ungelösten Fragen wie Steuerreform, Beteiligung am Produktivvermögen, Bildungsreform, energiepolitisches Konzept sowie Mitbestimmung sind auch von der erneuerten alten Bundesregierung nicht beantwortet worden.

    (Abg. Katzer: Sehr wahr!)

    Hier hat die Regierungserklärung — statt Klarheit
    zu schaffen — wieder zusätzlich Fragezeichen produziert und wieder alle mit weitgehenden Absichtserklärungen vertröstet.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Dazu wird im Laufe der Debatte im einzelnen zu sprechen sein. Für den Beginn möchte ich hier aber noch zwei Punkte hinzufügen.
    Wir wollen die Stellung der Frauen in unserer Gesellschaft stärken; das haben wir vor der Wahl gesagt, und so werden wir es auch halten. Gleicher Lohn bei gleicher Leistung muß auch für die Frauen zu einer Selbstverständlichkeit werden. Wir wenden uns gegen ein staatlich verordnetes Leitbild der Rolle der Frau. Allen Frauen muß die Möglichkeit eröffnet werden, selbst zu entscheiden, welchen Platz sie ausfüllen wollen. Sie müssen frei entscheiden können, ob sie sich ausschließlich der Aufgabe in Familie und Haushalt zuwenden oder außerdem ganz oder teilweise berufstätig sein wollen. Es sollten mehr Teilzeitarbeitsplätze für Frauen geschaffen werden!

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir werden unsere Vorstellungen über die soziale Sicherung der Frau in diese Debatte einführen.
    Wir werden darüber zu wachen haben, daß über den großen Zukunftsaufgaben die sozial Schwachen und die Randgruppen in unserer Gesellschaft nicht vergessen werden. Ich denke dabei nicht nur an die Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber den älteren Menschen, den Behinderten und Kriegsbeschädigten, sondern auch an die Probleme der Gastarbeiter. Hier bessere Lösungen zu suchen und zu erarbeiten ist nicht nur ein Gebot der Solidarität, auf die wir alle angewiesen sind; es ist ein Gebot der Partnerschaft und, wie wir meinen, ein christlicher Anspruch.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Bundeskanzler, wir begrüßen, daß Sie in Ihrer Regierungserklärung dem ständigen Drängen von Rat und Verwaltung der Stadt Bonn gefolgt sind und zum Ausbau der Bundeshauptstadt einen positiven Satz gesagt haben.
    Meine Damen und Herren, die SPD steht nunmehr seit sechs Jahren in der Regierungsverantwortung; am Ende dieser Legislaturperiode werden es zehn Jahre sein. In einer solchen Zeitspanne kann viel bewegt werden. Wir werden Sie nicht zuletzt danach beurteilen, ob es Ihnen gelingt, eine Politik für a 11 e Bürger zu machen, statt etwa die Gegensätze zwischen den Gruppierungen unseres Volkes zu vertiefen oder gar neu aufzureißen.
    Wichtig erscheint es uns vor allem — und dies ist eine gemeinsame Aufgabe —, uns darum zu bemühen, ein politisches Klima zu schaffen, in dem die großen gesellschaftspolitischen Probleme vorurteilslos — aber auf der Grundlage klarer Wert- und Zielvorstellungen — diskutiert werden können. Diese gesellschaftspolitischen Wert- und Zielvorstellungen sind für uns im System der sozialen Marktwirtschaft am ehesten verwirklicht. Wir sind uns dabei bewußt — und dies muß einmal Kritikern gesagt werden —, daß hier und da von interessierter Seite manche Verkrustungen und Unzuträglichkeiten in



    Dr. Barzel
    unserer Wirtschaft und Gesellschaft, die auch wir sehen und beseitigen wollen, fälschlicherweise zu integralen Bestandteilen der sozialen Marktwirtschaft erklärt werden. In Wahrheit kann und muß manches im Interesse der Erhaltung unserer freiheitlichen Ordnung in Frage gestellt und neu überdacht werden. Wir stehen zu der ordnungspolitischen Verantwortung, die wir haben, und haben nicht die Absicht, Prätorianer etwa morscher Schlösser zu sein. —

    (Abg. Katzer: Sehr gut!)

    Wir hätten in der Regierungserklärung gern eine klare und vor allem eine konkrete Antwort auf unseren Appell vom 15. Dezember zur Solidarität der Demokraten erhalten. Wir haben sie nicht bekommen, obwohl hier Sorgen und Gefahren, hervorgerufen durch Extremisten, die unsere freiheitliche und soziale Ordnung überwinden wollen, auf der Hand liegen. Für uns gilt hierzu, was unser früherer Kollege Ernst Benda, den wir zum höchsten Richter unseres Landes gewählt haben, kürzlich schrieb:
    Von Autorität und Glaubwürdigkeit der demokratischen Ordnung hängt entscheidend ab, ob es gelingt, mit der „Strategie der Systemüberwindung" fertig zu werden. Verfassungsschutz, strafrechtlicher Staatsschutz, rechtliche Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten, also Wahrung der inneren Sicherheit, sind unentbehrliche Notwendigkeiten. Aber die wirkliche Entscheidung fällt nicht hier, sondern in der Alltagsarbeit der Politik.
    Dies ist ein wichtiger Punkt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ob alle diese Fragen hier künftig mehr im Streit behandelt oder mehr durch Zusammenarbeit gelöst werden sollen, das liegt allein bei der Bundesregierung.
    Wir haben in der vergangenen Periode mit gemeinsamen Vorarbeiten zu einer Verfassungsreform begonnen. Meine Fraktion hatte seinerzeit die ersten Schritte zur Einsetzung einer entsprechenden Enquete-Kommission unternommen. Diese Kommission konnte verständlicherweise in den zwei Jahren ihrer Tätigkeit nur einen Zwischenbericht erarbeiten. Dieser liegt uns vor und enthält beachtliche Anregungen, auch für die künftige Regelung des Verhältnisses von Regierung und Parlament. Wir meinen, daß diese Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform neu konstituiert werden sollte. Sie sollte ihre Arbeiten fortführen mit dem Ziel, sie in dieser Periode zu beenden.
    Ungeachtet dieser grundlegenden Vorarbeiten — Vorarbeiten zu einer Anpassung des Grundgesetzes an die Erfordernisse der Gegenwart — wurde mit unserer Zustimmung in den Jahren von 1969 bis 1972 eine Reihe von Änderungen des Grundgesetzes vorgenommen. Wir haben sie auch für notwendig und vordringlich gehalten. Für die Haltung der Union in verfassungspolitischen Fragen der nahen Zukunft gelten diese drei Grundsätze.
    Erstens. Es sollten keine weiteren Einzeländerungen des Grundgesetzes mehr vorgenommen werden vor Abschluß der entsprechenden Arbeiten der Enquete-Kommission.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Zweitens. Eine weitere einseitige Verlagerung der Zuständigkeiten von den Ländern auf den Bund ist bedenklich. Die Einbahnstraße der Kompetenzverlagerung von den Ländern auf den Bund sollte so nicht weitergeführt werden, weil sonst die Grundlagen des bundesstaatlichen Aufbaus und der hierzu unabdingbaren Eigenstaatlichkeit der Länder gefährdet sein könnten. Die bundesstaatliche Ordnung gewährleistet ein Gleichgewicht der Kräfte nicht nur in der regionalen, sondern auch in der politischen Beziehung. An diesem von unserer Verfassung selbst gewollten Gleichgewichtssystem der Kräfte darf im Interesse des demokratischen Gemeinwesens nicht gerüttelt werden.
    Drittens. Wir werden keiner Grundgesetzänderung zustimmen, die etwa verfassungsrechtliche Möglichkeiten zu einer auf Systemveränderung gerichteteten Politik eröffnet.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Was die Rechtspolitik betrifft, so sind wir wie in der vergangenen Wahlperiode zu einer grundsätzlichen Gemeinsamkeit bei den rechtspolitischen Reformvorhaben bereit, sei es auf dem Gebiet des Zivilrechts, des Strafrechts oder des Verfahrensrechts. Eine solche Gemeinsamkeit kann und wird es aber nur geben, wenn die Regierung die Mitwirkung der Opposition bei den Entscheidungen der Ausschüsse und des Plenums nicht etwa als eine Verpflichtung begreift, die Vorstellungen der Regierungsmehrheit ungeprüft und unverändert zu übernehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die Fragen — der Herr Bundeskanzler hat sie in die Debatte eingeführt —, die eine Reform des § 218 des Strafgesetzbuches aufwerfen, bedürfen sorgfältiger Prüfung und gewissenhafter Entscheidung. Wir wollen das geltende Recht verbessern. Das Grundgesetz gewährleistet ausdrücklich das Recht auf Leben. Hierzu gehört auch der Schutz des ungeborenen Lebens. Der Bundesjustizminister hat auf dieses grundlegende verfassungsrechtliche Gebot in der früheren Diskussion um die Reform dieses Paragraphen schon vor längerer Zeit nachdrücklich hingewiesen. Bei der Entscheidung des Gesetzgebers in dieser Frage kommt der Vorschrift des Art. 38 des Grundgesetzes, nach der jeder Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, sondern nur seinem Gewissen unterworfen ist, eine ganz besondere Bedeutung zu.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die Entscheidung über die Neufassung des Abtreibungsparagraphen ist also, wie wir meinen, ir ganz besonderer Weise eine Gewissensentscheidung eines jeden einzelnen und nicht die Entscheidung von Fraktionsmehrheiten oder Parteitagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, in der ersten Aussprache dieses Parlaments, am 15. Dezember 1972



    Dr. Barzel
    haben wir erklärt, wie wir unserer Verantwortung als Opposition gerecht werden wollen. Wir wollen das nicht wiederholen. Wie werden Aktivitäten der Regierung, wo wir sie für falsch oder schädlich halten, Alternativen entgegenstellen. Diese werden stets an den hohen Maßstäben unseres Grundgesetzes — am Freiheitsraum des einzelnen, am Ziel größerer Gerechtigkeit und wachsender Wohlfahrt für alle — orientiert sein. Zunächst aber soll die Regierung ihre Aktivitäten entfalten.
    Zu unserer Pflicht gehört es — wir sagen dies, obwohl es draußen nicht überall und immer voll verstanden wird —, den Nutzen unserer demokratisch verfaßten Gesellschaft wo nötig, auch durch Kritik an der Regierung — zu mehren und die politischen Entwicklungen — wo nötig, auch durch Widerspruch — für den Bürger durchsichtig und verständlicher zu machen. Es wird unser vornehmstes Ziel sein, dem mündigen Bürger ein sachliches Urteil über die politischen Vorgänge zu ermöglichen. Wir hoffen dabei — die Opposition ist darauf besonders angewiesen — auf die kritische Partnerschaft, auf die Hilfe seitens der Presse, des Fernsehens und des Rundfunks,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    und wir vertrauen auf das kritische Verständnis und die Mitarbeit aller Kräfte in unserem Volk, denen die geistige Entwicklung unseres gesellschaftlichen Lebens erst den ganzen Sinn aller materiellen Wohlfahrt ausmacht.
    Ich will zum Schluß, meine Damen und Herren, einer Stimme Gehör verschaffen, deren Ernst über jedem Zweifel steht. Der besondere Standort zwingt sie zu äußerster Wahrhaftigkeit. Was sie uns zu sagen hat, ist ebenso bitter wie eindringlich. Der russische Dichter Solschenizyn, dem die Annahme des ihm verliehenen Nobelpreises von der Sowjetregierung verboten wurde, hat in der von ihm für den Verleihungsakt vorgesehen gewesenen Rede zur geistig-politischen Situation in Europa dies gesagt — ich zitiere —:
    Der Geist von München gehört keineswegs der Vergangenheit an. Er ist keine kurze Episode geblieben. Ich wage sogar zu behaupten, daß der Geist von München im 20. Jahrhundert vorherrscht. Die eingeschüchterte zivilisierte Welt findet dem Ansturm wiedererstandener Barbarei nichts entgegenzusetzen als Nachgiebigkeit und Lächeln. Der Geist von München ist die Willensschwäche von Menschen, denen es gut geht. Er ist der Alltag jener, die sich dem Verlangen nach Wohlstand um jeden Preis, dem materiellen Wohlbefinden als dem Hauptziel des Erdendaseins verschrieben haben. Solche Menschen ziehen das Nachgeben vor, bloß damit das gewohnte Leben weitergehe, damit man nicht schon heute der Härte ausgeliefert werde in der Hoffnung, morgen werde man solches schon umgehen können. Doch man wird es nie umgehen können. Die Sühne für die Feigheit wird nur schlimmer sein.
    Dieses Wort betrachten wir als einen Appell an uns
    alle, der hier geschilderten Feigheit zu widerstehen.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir werden das tun, und wir sehen darin zugleich die Lehre aus unserer Geschichte, die uns an diesem Tage besonders verpflichtet. Das ist zugleich unsere Perspektive für die Zukunft: für mehr Freiheit und für mehr soziale Gerechtigkeit dem Bequemen zu widerstehen, das Gewohnte zu überprüfen und keine Mühe zu scheuen, das Bessere für die zu erreichen, die uns hierher entsandt haben, für unser Volk.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)



Rede von Kai-Uwe von Hassel
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht meine Sache, zu tadeln, daß durch Herrn Kollegen Barzels Verlangen !die Debatte über die Regierungserklärung sozusagen auseinandergebrochen wird in seine eigenen Ausführungen und in das, was er dann in deren Verlauf die Aussprache genannt hat. Ich habe es bei früheren Gelegenheiten, in vergangenen Legislaturperioden, immer als vorteilhaft für alle Seiten des Parlaments empfunden, daß ,die Debatte über die Erklärung der jeweiligen Bundesregierung zu Beginn eine wirkliche Generaldebatte war, die dann allmählich auf Spezialgebiete überging. Man verständigte sich darüber nicht nur oder etwa vorwiegend geschäftsordnungsmäßig, sondern im Plenum: Jetzt haben wir, was Allgemeingültiges zu sagen ist, wohl von allen Seiten gehört, jetzt wenden wir uns bestimmten Spezialgebieten zu. Bei allem, was auch dann noch mangelhaft sein mag, habe ich das immer als vorteilhaft für alle Seiten empfunden. Dies ist nun diesmal etwas anders geraten.
    Ich möchte zunächst und heute zu der Regierungserklärung Bundeskanzler Brandts sagen, daß die Bundestagsfraktion sie im Ziel und in den Schwerpunkten für eine ausgewogene Regierungserklärung hält und insofern begrüßt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Von der Warte dieser Regierungserklärung aus gesehen, treten — ich halte das für einen Vorzug —Bedeutung und Sinn der Ergebnisse der Arbeit der ersten Regierung des Bundeskanzlers Brandt in den Jahren 1969 bis 1972 eindrucksvoll hervor, und das ist zugleich ein guter Boden, von dem aus weiter geschaut und gebaut werden kann und auch wird.
    Wir Sozialdemokraten danken dem Bundeskanzler und dem Kabinett dafür, daß sie nach vorn schauen und mit Sinn für Maß und Wert planen unid anfangen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir wünschen uns und Ihnen dieselbe Ausgewogenheit in der Arbeit von Bundesregierung und Bundestag im Alltag.
    Es möge mir erlaubt sein, hier auch einen Wunsch für die weitere Zukunft auszusprechen: So, wie heute hier durch den Bundeskanzler und entsprechend der Auffassung ides Kabinetts positiv über den seinerzeit umstrittenen deutsch-französischen Ver-



    Wehner
    trag von 1963 gesprochen worden ist, gesprochen wird und wie mit ihm gehandelt wird, möge, meine Damen und Herren — obwohl das ja nicht Außenpolitik ist, aber doch auch ein Vertrag —, in zehn Jahren positiv über den jetzt noch umstrittenen Vertrag über die Grundlagen und über die ihm selbst als Grundlage dienenden Ostverträge gesprochen und möge auch positiv gehandelt werden.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    So wird es ja wohl auch im Fluß der Zeiten sein.
    Damit allerdings erschöpft sich nicht das, was zu entsprechenden Ausführungen des Herrn Kollegen Dr. Barzel noch zu sagen ist, und einiges will ich dazu unmittelbar sagen. Zuerst, Herr Dr. Barzel, zu Ihrer Rüge, das Kalenderdatum betreffend — 1871 und so —. mit dem so eindrucksvollen Zitat des ersten Reichskanzlers von Bismarck: Bei allem Respekt, wir treten nicht in einen Wettbewerb über Geschichtsbewußtsein ein und lassen uns das unsere nicht streitig machen,

    (lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall bei der FDP)

    schon gar nicht wegen verschiedenartiger Auffassungen darüber, wie man einen Kalenderanlaß begehen müsse.

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Übrigens, unsere Erinnerung an die Sozialdemokraten, an unsere Vorgänger im ersten Reichstag und ihre Stellung zu Deutschland zu Zeiten Bismarcks haben wir nicht bei einem Kalenderanlaß, sondern hier im Zusammenhang mit dem deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag

    (Beifall bei der SPD)

    in aller Korrektheit und in aller Unverbrämtheit dargelegt. Und das Angebot von mir aus ist, freundlicherweise nachschlagen zu lassen — ich sage nicht, Sie selbst müßten nachschlagen; ich sage, nachschlagen zu lassen

    (Heiterkeit bei der SPD)

    in den Protokollen von 1963/64. Damals hat sich noch der Bundeskanzler Dr. Adenauer selbst in die Arena begeben und hat mit uns das Florett gekreuzt — falls man das „kreuzen" nennen kann.
    Nun, in diesem Zusammenhang — und das war Ihre Überleitung, Herr Dr. Barzel, nämlich die Bemerkung, die ein Vorwurf gegen uns war, die wir diese Regierungserklärung positiv tragen und für die sie für die nächsten vier Jahre die Arbeitsrichtschnur darstellt haben Sie — und es war so zu verstehen, auch heute noch, daß es um das ging, was Sie im Verhältnis zu dem anderen Teil Deutschlands und in der Behandlung der damit verbundenen Problematik mit anderen, auch mit Verbündeten, für das eigentlich Richtige hielten — kokett gesagt, daß das damals auch oft als unbequem empfunden worden sei. Bleiben wir einmal bei dem Wort „bequem". Wer ist bequem, und wer macht sich's bequem? Wissen Sie, ich finde, derjenige macht sich's bequem, der diejenigen schilt, die aus der Tatsache der staatlichen Trennung die Pflicht zum Handeln für das Zueinanderkommen der Menschen ableiten, sich dieser Pflicht stellen und entsprechend handeln.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Und insofern sage ich Ihnen, was zu diesem Stichwort zu sagen ist.
    Ich halte es für unangemessen, von einem „Rinnsal an Freizügigkeit", das nur in einer Richtung fließe, zu sprechen, wenn Sie die Zahlen genau kennen, die sicher einseitig sind, aber auch wissen, daß die Menschen — wenn auch zunächst stockend; das ist noch lange kein Eistauwetter auch von drüben nach hüben — wenn auch in Grenzen — nicht fließen, aber kommen können. Ich bin damit einverstanden, das sollte man nicht beschönigen. Nur sollte man es sich nicht bequem machen und so tun, als sei man, weil man früher unbequem war und Verbündeten und Westlern auf die Nerven gefallen ist, nunmehr bei seiner eigenen Sache geblieben. Nein, nein, hier war doch ein ganzer Trümmerberg auf das Verhältnis zwischen den getrennten Teilen Deutschlands gewälzt und herabgebrochen. So war es, darüber sind wir uns wohl einig. Wir machen Ihnen ja nicht den Vorwurf, daß Sie ihn ausgelöst hätten; aber Sie möchten uns heute den Vorwurf machen, daß die, die versuchen, mit diesem Trümmerberg zum Nutzen der Menschen fertigzuwerden, soweit das menschenmöglich ist, es tun. Da fallen am Schluß in anderem Zusammenhang sogar das Wort „feige" und ähnliche Worte. Darüber müßte man dann — um bei Ihrer Einteilung zu bleiben — in der Aussprache noch einmal sprechen können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Zur Rüge bezüglich des Berichts über die Lage der Nation. Ich bin nicht kleinlich, Herr Dr. Barzel. Ich habe gelesen, daß das ein Punkt war, der Sie bei Gelegenheit dieses Parteitags in dem Ort beschäftigt hat, der sicher nicht nur deswegen gewählt worden ist, weil er den Imperativ „siegen!" enthält, den Sie natürlich brauchen; das ist ja klar.

    (Heiterkeit.)

    Wissen Sie, das kann ich gut verstehen. Ich hatte auch Opposition lernen und anderen dazu helfen müssen. In Siegen — ich glaube, dort war das — hatten Sie in einer ziemlich groben Form — andere haben sie noch gröber empfunden als ich selbst, ich habe es nicht so haarig gefunden wie mancher andere — die Sache mit dem Bericht zur Lage der Nation ins Treffen gebracht. Aber, Herr Dr. Barzel, wir haben 1965 — hier sitzt der damalige Bundeskanzler, Professor Erhard, er guckt gerade nicht — am Stil und an der Regierungserklärung von Herrn Professor Erhard Kritik geübt. Wir haben das sogar ziemlich schwergewichtig mit dem Vorwurf getan, daß die damalige Regierungserklärung und das, was damit vorgebracht wurde, nicht mit dem vergleichbar sei, was in Parlamenten anderer gewachsener demokratischer Staaten zu Beginn einer solchen Periode als eine Art Bericht über die Lage der Nation gegeben werde.
    Herr Dr. Barzel, ich kenne die damaligen Erörterungen darüber, was daraus werden soll, wohl. Das



    Wehner
    können Sie im Protokoll nachschlagen. Von unserer Seite kamen damals kritische Reden; denn wir waren Opposition, und Sie waren die Partei, die gesagt hat: Herr Professor Erhard ist, war und bleibt unser Bundeskanzler.

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Wir erinnern uns noch daran. Da haben wir gesagt, was wir darunter verstehen. Im Laufe der weiteren Behandlung ist das Ding so paniert worden, daß da sozusagen fortgesetzt eine Art Propagandabericht gegeben werden müsse, wie es bei uns und wie es bei denen drüben aussieht. Das steht alles in den Protokollen des Bundestages. Ich habe sie mir noch einmal angesehen, weil ich mir dachte, daß das heute bei Herrn Barzel eine Rolle spielen wird. Ich hatte — das sage ich für mich selbst — recht. Lesen Sie bitte nach oder — ich bitte Sie um Entschuldigung — lassen Sie nachlesen!

    (Abg. Katzer: Was soll das eigentlich?)

    Dann werden Sie finden, daß das etwas anderes ist, als Sie es heute sehen. Deswegen rate ich bei der Qualität einer Regierungserklärung, an der man noch soviel aussetzen kann, dazu.
    Ich habe zwei frühere Bundeskanzler vor mir: Zum einen haben wir in Opposition, mit dem anderen, als er seine Regierungserklärung im Dezember 1966 abgab, in Koalition gestanden. Eine Regierungserklärung beansprucht mit Recht den Rang, daß man sie bei aller Gegensätzlichkeit als Ausdruck für die Arbeitsabsichten, Leistungsvorstellungen der verfassungsgemäß zustande gekommenen Regierung ernst nimmt. Da muß man sich eben etwas andersgewichtig mit einem solchen Dokument befassen, auch wenn man in wesentlichen Punkten
    — und das ist ja Ihr Recht — ganz anderer Meinung ist über das, was die Regierung tun sollte oder was sie tut, und sogar das, was sie zu tun sich anschickt, sehr negativ bewertet.
    Und da ist doch immerhin wohl heute nicht zu überhören gewesen, was der Bundeskanzler im Zusammenhang mit dem, was über das Stichwort „Friedensordnung" gesagt zu werden pflegt — wir erinnern uns noch, welche Streite über Friedensordnung sich in früheren Jahren daran angeknüpft hatten —, gesagt hat. Da war vom Selbstbestimmungsrecht auch unseres Volkes die Rede. Wenn es Ihnen aber nicht paßt, dann nehmen Sie das nicht zur Kenntnis, weil das bei der Zusammenzählung der Vorwürfe einen Vorwurf von Ihnen weniger erbringt.
    Ich halte es auch für deplaciert, daß man sich auf ein Abkommen beruft, wie es das Viererabkommen zu Berlin ist, das ja, wenn es nach Ihnen gegangen wäre, so gar nicht zustande gekommen wäre.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ja, ja! Am 27. April stand hier die Frage, bevor es überhaupt dazu kommen konnte, diese Regierung kaputt zu machen, zu stürzen, damit es nicht zu diesen Ostverträgen kommen sollte. Es war doch wohl unerläßlich, das in Erinnerung zu bringen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Da sitzt doch Herr Strauß. Herr Strauß wollte sie doch nun bestimmt nicht. Aber ich verstehe, daß er heute solidarisch mit dem ist, der, wie er einmal gesagt hat, die „Klimmzüge" machen muß.

    (Abg. Strauß: Ihnen fällt auch nichts Neues mehr ein!)

    — Nein, nein! Wenn ich Sie sehe, darf mir auch nichts Neues einfallen. Lassen Sie mich das ganz ernst sagen.

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Warum, Herr Kollege Barzel, tadeln Sie die anderen Fraktionen und die Regierung dafür, daß sie nicht genügend oft nach Berlin gehen? Sind Sie denn bereit, mit einem Mann wie dem, der hier steht, und meinem Kollegen Mischnick über solche Fragen zu reden? Wir sind immer dazu bereit. Nur, Sie haben sich inzwischen in Sphären begeben, in denen wir für Sie ganz unten sind. Das ist in Ordnung. Ich bin froh darüber, daß es noch solche Rangordnungen gibt, die einen anderen Menschen erhöhen.

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Aber man sollte nicht über das reden, was Fraktionen versäumt haben. Das muß man einmal zwischen ihnen ausmachen. Man darf es sich nicht aufsparen, bis man ihnen etwas anhängen kann. Sie wissen ja noch gar nicht Sie haben nie mit uns darüber gesprochen, und es hat bisher keine Gelegenheit gegeben, interfraktionell darüber zu reden —, was man im Rahmen des Berlin-Abkommens machen kann, was wir daraus zu machen gedenken und was nicht.
    Ein anderes Gebiet. Ich finde es betrüblich, daß Sie sich — Stichwort Israel — nicht einmal imstande sehen, in diesem Fall — entschuldigen Sie das Wort — das Herummäkeln an der Bundesregierung zu unterlassen, obwohl Sie doch nicht leugnen können

    (Abg. van Delden: Was hat er denn gesagt? — weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — dann nehmen wir Ihren Text, ich habe ihn ja nicht schriftlich; er wird ja wohl im Protokoll nicht völlig anders aussehen, als ich ihn gehört habe —,

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    daß hier Übereinstimmung in der Sache und im Kern vorhanden ist. Und wenn diese vorhanden ist, muß man hier nicht zusätzlich einen Streitpunkt zu anderen Streitpunkten addieren.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?)

    Sie haben das doch gemacht, und nicht ich habe zu verantworten, daß sogar in diesem Punkt — —

    (Abg. Lemmrich: Lesen Sie es vorher nach! — Abg. van Delden: Er hat doch nichts gesagt! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    Was soll das — ein nächster Punkt —, zu betonen: Unser Platz ist endgültig an der Seite derjenigen, die so wie wir für die Freiheit sind? Das wurde im Ton eines Vorwurfs gesagt. Unser Platz



    Wehner
    auch, hören Sie mal! Wer hat denn daran gezweifelt? Warum muß denn dieser Eindruck erweckt werden? Vielleicht erst seit dem Frühjahr oder dem Sommer des vergangenen Jahres 1972, als gerade Sie wesentliche Dinge der Verbündeten und Vertragspartner des Westens völlig anders bewerteten als die Regierung und als diese selbst in bezug auf die Verständigung mit dem Osten?
    Und was soll das eigentümliche Fragen nach dem, was der Bundeskanzler und Parteivorsitzende der SPD am 10. Dezember gesagt oder gemeint haben könnte? Sie sollten sich an das halten, was er z. B. heute hier über Wettbewerb, Wettbewerbssicherung, über Probleme der Marktwirtschaft, die wir lösen helfen wollen, gesagt hat. Das tun Sie nicht. Die sind Ihnen zu prosaisch. Es paßt Ihnen besser eine nicht direkte Beschuldigung, aber eine eine Beschuldigung enthaltende Frage: wie es denn eigentlich mit dem Verhältnis zu den Grundlagen der Wirtschaft und der Wirtschaftsweise bestellt sei.

    (Abg. Lemmrich: Wir lesen halt Ihre Parteitagsprotokolle!)

    — Ja, und nehmen sich nicht einmal die Zeit, die Regierungserklärung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers und der Partner zu lesen, weil Ihnen das andere ergiebiger erscheint. Sehen Sie, das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir sind hier nicht im Parteitag, hier sind wir im Deutschen Bundestag, dem einige lange angehören, andere noch nicht — was kein Vorwurf ist —, und hier reden wir über das, was hier Sache ist. Auch Sie, Herr Dregger, werden das noch lernen.
    Zu dem mehrfachen „Warum?", Herr Barzel, bezüglich Maßnahmen der Bundesregierung z. B. für stabilere Preise: Ich hätte mich gefreut — und das wäre dann sogar auch eine fast komplizenhafte Freude gewesen, ich verrate Ihnen das mal —, wenn Sie sich mit den 15 Punkten befaßt hätten, die ich nämlich z. B. gern in der Regierungserklärung gesehen hätte, wenn ich darauf Einfluß gehabt hätte, mit den 15 Punkten des Kabinetts vor der Luxemburger Tagung der Wirtschafts- und Finanzminister über die von dieser Regierung vorgeschlagenen, ins Auge gefaßten und den auf communautaire Weise den Partnern in der Wirtschaftsgemeinschaft nahezubringenden Maßnahmen und was daraus geworden ist. Ich hätte sie gern zu einem Bestandteil dieser Diskussion gemacht gesehen, ob nun von Ihnen oder ob es nun von den bei uns in der Aussprache zu Worte Kommenden der Fall sein wird. Wenn sowohl hinsichtlich dessen, was in eigener Zuständigkeit der Bundesrepublik, als auch hinsichtlich dessen, was nur auf dem Wege gemeinsamen oder übereinstimmenden Handelns mit den Partnern in der EWG in dieser Richtung denkbar ist, wäre ja die Chance — ich habe nun Ihnen keinen Rat zu geben; wenn nicht für die Opposition, so für das Parlament —, der Regierung deutlich zu machen, daß wir in dieser Frage eben Sache sehen wollen, auch weiter hören wollen, z. B. bevor unsere Regierungsmitglieder mit denen in Paris in der nächsten Woche zusammenkommen, daß das auch dort ein
    Gegenstand der Erörterung sein möge, obwohl die sicher nicht nur das zu tun haben. Aber nachdem man sich bei der Pariser Gipfelkonferenz glücklicherweise und verdienstvollerweise konkret mit gewissen Kernnotwendigkeiten befaßt hat und sie den Wirtschafts- und Finanzministern auch aufgetrahat hat zu erfüllen, ist es wohl angebracht, daß man darüber redet.
    Herr Dr. Barzel, eine etwas wehmütige Berner-kung; entschuldigen Sie mir die. Sie haben heute so geredet, als stünden Sie — ich meine nicht Sie persönlich, sondern wir alle — vor einer Bundestagsneuwahl,

    (Heiterkeit bei der SPD)

    obwohl Sie sich selber am Tage nach der vorigen Sitzung des Bundestages — sie war am 15. Dezember; auch da hatten Sie eine Rede gehalten zu der kurzen Erklärung des Bundeskanzlers —, am 16., einiges haben veröffentlichen lassen. Sie haben nämlich in einem Interwiev, im Text verbreitet vorn Pressereferat der CDU/CSU-Fraktion, erklärt:
    Das Wahlergebnis gibt diesem VII. Deutschen Bundestag einen ganz anderen Charakter und verlangt von der Opposition eine andere Strategie und Taktik als im VI. Deutschen Bundestag. Wir sind nicht mehr verhinderte Regierungspartei, sondern wir sind klar Opposition und die anderen sollen regieren. Dies heißt, daß man der Regierung die Zeit lassen muß, jetzt mit ihren Vorlagen zu kommen. Dies heißt, daß wir nicht jeden Tag, wie wir dies im letzten Bundestag gemacht haben,
    — also, ich sage dazu nichts —
    mit Initiativen und Alternativen hervortreten müssen.

    (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

    Unsere Opposition darf nicht tagespolitisch sein. Sie muß gerichtet sein auf morgen, auf die bessere Alternative für 1976.
    Nun, ich habe mir noch einmal das ganze Interview angesehen.

    (Abg. van Delden: Nutzanwendung?)

    — Moment, ich will es Ihnen gleich sagen. Da steht gleich hinterher, gleich im nächsten Satz — ich brauche gar nicht in die weiteren Sätze hineinzugehen —, daß der Interviewte hinzuzufügen begann — jetzt zitiere ich ihn wörtlich —, „daß wir Ende Januar/Anfang Februar eine Klausurtagung der Partei und eine der Fraktion in Berlin haben werden, wo wir im einzelnen über die Strategie und die Struktur der Opposition uns verständigen werden." Nun ist es Ihre Sache, sich darüber auseinanderzusetzen, ob das, was heute hier ex cathedra gesagt worden ist, noch Gegenstand dieser Klausurtagung sein kann oder ob damit vorher der Rahmen abgesteckt worden ist. Das ist Ihre Sache. Ich gehöre ja nicht dazu.

    (Zuruf des Abg. Lemmrich.)

    — Sie werden es noch lernen, Herr, wissen Sie!
    Nun zu dem verschiedentlichen Beklagen des Fehlens einer Antwort auf eine Forderung nach der



    Wehner
    Solidarität der Demokraten, Herr Dr. Barzel. Solidarität beginnt dort und dann, wo auf die Verdächtigung und die Verunglimpfung dessen, den man zur Solidarität meint mahnen zu müssen, verzichtet wird.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich möchte Ihnen da nur eine Bemerkung machen. Ich habe schon einmal öffentlich gesagt, daß ich nicht zu denen gehöre, die bei Beginn einer Periode Scherbengerichte mit anrichten wollen über das, was während des Wahlkampfes und vorher war. Das habe ich gesagt; ich habe auch nicht gesehen, daß mir das jemand hat widerlegen wollen. Es gibt andererseits einige, die den Verdacht haben, ich möchte einige der Dinge, die es verdienten, nachträglich noch deutlicher, greller beleuchtet zu werden, nicht beleuchtet sehen, vielleicht, weil man von mir annimmt, ich wüßte ja selber, daß das zu nichts führt. Ich möchte nur dies sagen: Über eine einzige Sache hätte ich gern, wenn nicht heute hier, so vorher — nachher wird es dann schon nicht mehr denselben Wert haben — ein paar Sätze gehört. Über eine einzige Sache: über die ungeheuerliche Unterstellung, die darin gelegen hat, daß man annoncierte, nur in einem von der Union regierten Deutschland könnten unsere jüdischen Mitbürger sicher leben und könnten die Beziehungen zu Israel gut sein, wie sie es verdienten. Dies war ungeheuerlich. Ich habe mich gefreut, daß, wenn auch ganz klein, in einigen ganz wenigen Zeitungen, auch in einer, die Sie vorhin so ausführlich zitiert haben, ganz winzig Notiz genommen wurde von einer Feststellung der Dachorganisation von 45 Vereinigungen für christlichjüdische Zusammenarbeit, die sich wegen das Hineinziehen dieses Problems in dieser Art in den Unions-Wahlkampfrausch gewehrt haben. Sehen Sie: dazu hätte ich, entweder vorher oder nun, gern etwas gehört, denn das geht weit über die Grenze dessen, was man sich bei noch so scharfer Gegensätzlichkeit in der Sache und in der Person sagen darf. Das kommt leider — und deswegen bin ich, ehrlich gesagt, traurig —

    (Abg. van Delden: Wo stand ,das denn?)

    doch sehr nahe an das heran — ich will es ja nicht umgekehrt sagen —, was Sie heute hier glaubten, auch in der Differenzierung zu unserer Stellung in bezug auf Israel sagen zu dürfen, indem Sie dem Bundeskanzler so großmütig zugestanden,

    (Abg. van Delden: Wo stand das denn?)

    er habe ja einige Worte dazu gefunden. (Zuruf von der CDU/CSU.)

    — Ja, reden Sie nicht von Solidarität, wenn Sie es vorziehen, so mit uns umzugehen!

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Eine vorletzte Bemerkung, meine Damen und Herren, betreffend Reform des § 218. Wenn Sie das so verstanden wissen wollen, wie es hier gesagt worden ist — das sei eine Gewissensentscheidung jedes einzelnen Abgeordneten und nicht- Sache von Fraktionen und Parteitagen —, so ist das auch meine
    Auffassung — genauso wie bei dem Thema „Todesstrafe", um es deutlichzumachen. Nur bitte ich, dann nicht außer Zitat zu lassen unid damit aber außer Vorwurfsbereich zu lassen ,die Tatsache, daß die Sozialdemokraten, auf die ja hier wohl angespielt worden ist, auf ihren zwei Parteitagen, auf denen das eine Rolle gespielt hat, ausdrücklich als Bestandteil ihres Parteitagsbeschlusses stehen haben, daß das eine Gewissensentscheidung jeder und jedes einzelnen sei.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich habe mir einmal erlaubt, einem von mir als gelegentlichen Gesprächspartner sehr respektierten katholischen Bischof zu schreiben — ich will den Brief jetzt hier nicht verwenden — unid ihn in meinem dritten Punkt sozusagen zu fragen, ob es eigentlich in Ordnung sei, daß man von Gewissensentscheidungen redet, daß man aber, wenn Sozialdemokraten das ausdrücklich beschließen, dies dann nicht nur nicht zur Kenntnis nimmt, sondern so tut, als gelte 'das nicht. Ich wollte das hier nur angemeldet haben: Das steht ausdrücklich in unserem Parteitagsbeschluß, es steht ausdrücklich in unserer Wahlkampfplattform von Dortmund und ist so gemeint, wie es zu verstehen ist.
    Letzter Punkt: Ich finde es schade, daß mein Respekt vor dem Schriftsteller, den Sie hier zitiert haben und den ich seit vielen Jahren — mit allem, was von ihn neu herausgekommen ist — immer gründlich und wieder und wieder gelesen habe, mich hindert, zu fragen, Herr Dr. Barzel, was Siedamit an unsere Adresse meinen könnten, wenn Sie es wahrscheinlich eigentlich nur deshalb zitieren, weil darin das Wort „Feigheit" vorkommt. — Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)