Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie haben mir Ihr Vertrauen ausgesprochen. Dafür danke ich Ihnen. Es wird mir helfen, meinen Pflichten nachzukommen, diesem Hause zu dienen, allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und das Ansehen des Deutschen Bundestages zu mehren. In der Erfüllung dieser Aufgaben werde ich mich bemühen, meinem hochverehrten väterlichen Freund Paul Löbe, dem Präsidenten des Deutschen Reichstages, nachzueifern.
Erlauben Sie mir aber ein ganz persönliches Wort. Die Wahl einer Frau, meine Damen und Herren, für dieses Amt hat verständlicherweise einiges Aufsehen erregt. Das Erstmalige und mithin Ungewohnte gerät in die Gefahr, zum Einmaligen und Besonderen erhoben zu werden. Damit wäre niemandem gedient, nicht diesem Amt und schon gar nicht der Abgeordneten aus Ihrer Mitte, die es verwaltet. Ich meine, daß die Frauen unter den Mitgliedern des Hohen Hauses, auch wenn Sie zahlenmäßig nicht so stark vertreten sind, wie es ihre Rolle in Staat und Gesellschaft erfordern würde, keine Ausnahmestellung wünschen. Vielleicht kann gerade deshalb die Tatsache, daß einer Frau zum ersten Male in der deutschen Geschichte das Amt des Parlamentspräsidenten übertragen worden ist, dazu beitragen, Vorurteile abzubauen, die einer unbefangenen Beurteilung der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft noch immer entgegenstehen. Insofern hoffe ich, durch mein Bemühen, dem Amt nach besten Kräften gerecht zu werden, zugleich auch der Sache der Frauen einen Dienst leisten zu können.
Nun darf ich Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Erhard, der Sie als Alterspräsident den 7. Deutschen Bundestag eröffnet haben, für Ihre Rede, die Ihren Lebensweg gekennzeichnet hat, im Namen des ganzen Hauses herzlichen Dank sagen.
Vor allem aber Ihnen, meinem Vorgänger im Amt, sehr verehrter Herr von Hassel, gilt der herzliche Dank aller Mitglieder dieses Hohen Hauses.
Durch Ihre menschlich noble Art haben Sie es immer verstanden, auch in heiklen Auseinanderstzungen ausgleichend zu wirken. Besonders dankbar sind wir Ihnen aber für Ihre Initiativen auf dem Gebiete der Parlamentsreform.
Mein Dank gilt auch allen ausgeschiedenen Mitgliedern des vorigen Deutschen Bundestages. Dort
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Präsident Frau Renger
oben auf der Tribüne habe ich gerade Frau Minister Strobel gesehen, die hier für alle stehen mag.
In unserer Mitte begrüße ich die neuen Mitglieder dieses Hauses, die mit ihrer großen Anzahl jüngerer Abgeordneter zum erstenmal das Durchschnittsalter des Bundestages unter die 50-JahresGrenze gedrückt haben. Davon profitieren wir alle.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, daß es bis heute nicht gelungen ist, unsere Berliner Kollegen und Kolleginnen noch stärker in den Entscheidungs- und Meinungsbildungsprozeß der Bundesrepublik einzubeziehen und ihre gleichberechtigte Teilnahme in diesem Haus durchzusetzen, erfüllt uns alle mit tiefem Bedauern. Es ist meine Überzeugung, daß dieses Problem eine positive Lösung finden muß.
Nicht versäumen möchte ich auch an dieser Stelle, sehr herzlichen Dank dem Bundesrat für seine immer verständnisvolle Zusammenarbeit zu sagen, um die ich auch für die Zukunft bitte.
Meine Damen und Herren, dieser 7. Bundestag ist aus einem Wahlkampf hervorgegangen, der zum Teil mit äußerster Härte geführt worden ist. Das Votum der Wähler hat klare Mehrheitsverhältnisse ergeben, eine Voraussetzung für die Arbeitsfähigkeit dieses Hohen Hauses. Damit ist eine Periode der Unsicherheit beendet, die das Parlament in den Augen der Bevölkerung zunehmend belastet hatte.
Die Bürger unseres Staates bejahen das parlamentarische System im Wechselspiel von Regierung, Mehrheit und Opposition. Sie wünschen die Kontrolle der Exekutive durch das Parlament. Sie bejahen die großen Debatten, in denen der Streit der Meinungen ausgetragen wird. Doch, meine Damen und Herren, seien wir uns bewußt, daß es Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen, wenn das Ansehen der Volksvertretung nicht Schaden nehmen soll.
Kurt Schumacher sagte 1950 in einer seiner Reden in Berlin:
Das Wesen des Staates ist nicht die Regierung, und das Wesen des Staates ist nicht die Opposition. Das Wesen des Staates ist die Regierung und die Opposition,
Das verdeutlicht und mit. Leben erfüllt zu haben, gehört zu den großen Erfolgen der demokratischen Kräfte unseres Staates. Erst von dem Augenblick an, da die Bürger in der parlamentarischen Minderheit nicht mehr die bloße Negation sahen und den Wechsel von Regierung und Opposition als etwas Selbstverständliches begriffen, war die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems gewährleistet.
Der Rolle der Opposition kommt eine entscheidende Bedeutung zu; denn sie trägt durch ihre prinzipielle Gegenposition zur Regierungspolitik zu jener Transparenz der politischen Verhältnisse und Verdeutlichung der politischen Alternativen bei, auf
die der Bürger einen berechtigten Anspruch hat und die ihm erst die Entscheidung ermöglichen.
In den 23 Jahren unserer parlamentarischen Arbeit sind immer wieder Zweifel an der Verwurzelung des demokratischen Gedankens in der Bevölkerung, an der Stabilität der verschiedenen Institutionen geäußert worden. Vom Ausland teils beargwöhnt, teils beneidet, ist der demokratische Staat hierzulande manchmal als Schönwetterdemokratie abgetan worden. Selbstkritik ist stets geboten, aber mir scheint, daß auch ein Staatswesen einmal erwachsen werden muß und wir mit einem vernünftigen Selbstbewußtsein auf unser Staatswesen blicken können. Mit der hohen Beteiligung an den Wahlen zu diesem Bundestag, der in der westlichen Welt kein Beispiel hat, und mit der totalen Absage an extreme Parteien haben die Bürger unseres Landes ihre Mündigkeit bewiesen.
Die Wähler wollen eine Regierung, die regiert, aber auch ein Parlament, das mit verteilten Rollen seiner Aufgabe gerecht wird.
Meine Damen und Herren, nicht ohne Grund ist vor Jahren, als die nichtkommunistische Welt von Berlin über Washington bis Tokio mit einer Jugendrevolte konfrontiert wurde, hier der Begriff der außerparlamentarischen Opposition geprägt worden. Sie war der Ausdruck von Enttäuschung und eines tiefen Mißverständnisses vom Wesen und den Möglichkeiten des Parlamentarismus. Sie war eine Absage an die parlamentarische Demokratie und damit an die Grundlage unseres Staates. Wenn die junge Generation für den Staat gewonnen werden soll, muß sie zunächst einmal für den Parlamentarismus gewonnen werden. Gerade weil sie in so hohem Maße politisch interessiert ist, müssen wir dafür sorgen, daß sie in der Volksvertretung die Tribüne erkennt, auf der mit ihr und auch für sie um die besten Lösungen in den öffentlichen Angelegenheiten gerungen wird.
In der Integrationskraft des Parlaments, in der Fähigkeit, alle politischen Kräfte aufzunehmen und ihnen Ausdruck zu verleihen, liegen seine Stärke und seine ständige Bewährung. Dies gerade den jungen Wählerinnen und Wählern deutlich zu machen, die am 19. November mit einem Engagement ohnegleichen an der demokratischen Entscheidung mitgewirkt haben, ist unsere Aufgabe, wenn wir die hohen Erwartungen nicht enttäuschen wollen, die diese an die Abgabe ihres Stimmzettels geknüpft haben.
Meine Damen und Herren, hierbei werden uns Alteren besonders die jungen Kollegen helfen können. Sie stehen mit für eine suchende und drängende Generation, die es gewiß nicht leicht hat, mit ihren Problemen fertig zu werden. Aber nicht nur Sie hat Probleme! Irrtum und menschliche Unzulänglichkeit, zumal in der Politik, sind keine Frage der Generation. Aber es liegt im Wesen des Parlamentarismus, und es macht seinen Wert aus, daß sie sichtbar gemacht und korrigiert werden können. Dazu gehören ein Höchstmaß an Durchschaubarkeit
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Präsident Frau Renger
des parlamentarischen Geschehens und die Zurückweisung jeden Versuchs, hinter den Kulissen anders zu handeln, als im Scheinwerferlicht der Offentlichkeit gesagt wird. Dazu gehört aber auch, schwierigen und unbequemen Fragen nicht auszuweichen. Das, meine Damen und Herren, was die Menschen draußen beschäftigt, muß hier gelöst werden.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang ein Wort zur Presse. Die Verhandlungen des Parlaments bedürfen der Mittler in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Mit den Übertragungen aus besonderem Anlaß durch das Fernsehen wird die ganze Bevölkerung zum Zeugen des parlamentarischen Geschehens, aber auch zum Kritiker und Richter. Was die normale Berichterstattung angeht, so ist oft beklagt worden, daß die Presse nur die Sensationen suche — solche, die es wirklich sind, und solche, die sie dafür hält. Das ist aber nicht das eigentliche Problem. Wir haben in diesem Lande eine durchaus verantwortungsbewußte Presse, die gerade im politischen Teil ein hohes Niveau und Sachlichkeit aufweist. Die Bemühungen, meine Damen und Herren, die die Massenmedien auf sich nehmen, um sehr komplizierte Vorgänge der Parlamentsarbeit zu verdeutlichen und zu erklären — einschließlich der Illustrierten —, verdienen Anerkennung. Ich meine deshalb, daß ein Parlament, das seine Aufgaben wahrnimmt, auch immer mit der Presse rechnen kann und sie auf seiner Seite hat. Voraussetzung für das Interesse an den Vorgängen ist aber, daß etwas Wichtiges, etwas Durchgreifendes geschieht, mit einem Wort: daß politische Entscheidungen fallen. Das könnte auch dadurch unterstützt werden, meine Damen und Herren, daß die Debatten in diesem Hohen Hause — erlauben Sie mir das zu sagen — kurz und prägnant sind und auch wirklich zur Willensbildung beitragen.
Nun läßt sich wohl sagen: Je überzeugender die Volksvertretung gegenüber den anderen Gewalten hervortritt, desto größer wird auch die Aufmerksamkeit sein, die man ihr widmet.
Meine Damen und Herren, sechs Legislaturperioden sind auch im Leben eines jungen Staatswesens eine lange Zeit. Der Bundestag ist durch die Umstände zu einem Arbeitsparlament geworden, dessen Beanspruchung oft bis an die äußerste Grenze der Belastbarkeit ging. Auch nach der hektischen Phase eines in vieler Beziehung überstürzten Wiederaufbaus war keine Zeit für jene Besinnung und Sammlung, wie sie vielleicht wünschenswert gewesen wäre. Dieser Aufbau — materiell und politische — ist aber kein Mythos, sondern eine der glänzendsten Leistungen unseres Volkes. Damit hat der freie Teil Deutschlands sein Bekenntnis zur Demokratie in einer gesicherten Ordnung verankert. Es ist dies aber auch ein wichtiger Beitrag zum Frieden auf dem europäischen Kontinent gewesen. Dafür haben wir nicht zuletzt auch nationale Opfer gebracht.
Der Alltag der politischen und parlamentarischen Arbeit in einem demokratischen Staat mag ohne besonderen Glanz sein. Das nimmt dieser Arbeit nicht ihre Bedeutung und schmälert nicht ihre Würde. Die Anforderungen wachsen nicht nur dem Umfang nach.
Die praktischen Probleme sind schwer genug zu bewältigen; aber immer stärker fragen wir uns wohl alle auch nach dem Sinn des Ganzen. Der Fortschritt ist kein Wert an sich. Jede Veränderung muß danach bemessen und beurteilt werden, ob sie zum Wohle des Ganzen die Existenzbedingungen des einzelnen verbessert und dies gewiß nicht nur in einem materiellen, sondern auch im sozialen und moralischen Sinne.
Um die Fülle der Aufgaben zu bewältigen, meine Damen und Herren, braucht dieses Haus das notwendige Handwerkszeug. Nach Lage der Dinge kann es sich meiner Meinung nach nicht um eine zeitlich begrenzte Parlamentsreform handeln, vielmehr müssen wir unseren Arbeitsstil und unsere Methoden ständig den neuen Notwendigkeiten anpassen. Nur wenn wir uns den Kopf für das Wesentliche freihalten, wird der Bundestag seinen Aufgaben gewachsen sein, sich gegenüber den anderen Gewalten behaupten zu können und auf der Höhe der Zeit zu sein; das heißt sicherlich auch, die Arbeitsmöglichkeiten für die Abgeordneten zu verbessern, ihnen Hilfskräfte und Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, wie sie in vergleichbaren Bereichen von Wirtschaft, Wissenschaft und Bürokratie selbstverständlich sind.
Sage da niemand, das sei übertrieben! Glauben Sie mir: Nach nahezu zwanzig Jahren Parlamentszugehörigkeit weiß ich, wovon ich rede. Die das sagen, sind meistens diejenigen, die bereits alles Notwendige haben und sich darüber wundern, daß die anderen darauf nicht verzichten wollen.
Meine Damen und Herren, für uns als Volksvertretung ist es unerläßlich, eng mit der Bevölkerung verbunden zu sein. Die Arbeitsfülle bringt uns aber in Gefahr, diese Verbindung zu verlieren. Sie kann nur erhalten bleiben, wenn der Bürger das Parlament tatsächlich als das politische „Forum der Nation" betrachtet, d. h. wenn von diesem Hause die entscheidenden Impulse ausgehen. Darin liegt die große und schwierige Aufgabe, die uns ständig beschäftigen wird.
Meine Damen und Herren, die Politik ist, wie man so sagt, ein hartes Geschäft. Wer wüßte das nicht! Aber muß eigentlich bei diesem Geschäft der Spaß ganz aufhören?
Lassen wir es bei aller Härte und bei allem Ernst menschlich zugehen! Zur Glaubwürdigkeit unserer Arbeit gehört auch unsere eigene Menschlichkeit mit allen Fehlern und Schwächen, die wir nun einmal haben, und die Toleranz, eine Grundvoraussetzung der Demokratie, bedeutet nicht nur Duldung und Versöhnlichkeit, sondern auch Nachsicht.
Ich danke Ihnen.
Ich rufe nunmehr Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Wahl der Stellvertreter des Präsidenten
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Präsident Frau Renger
Zwischen den Fraktionen besteht Einverständnis darüber, daß vier Stellvertreter gewählt werden sollen. Für diese Stellvertreter liegen folgende Vorschläge vor. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt für die Wahl zu Vizepräsidenten die Abgeordneten von Hassel und Dr. Jaeger vor, die Fraktion der SPD schlägt den Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen vor, die Fraktion der FDP die Abgeordnete Frau Funcke.
Meine Damen und Herren, Sie haben die Vorschläge gehört. Gibt es andere Vorschläge? — Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll in diesem Fall wie in allen früheren Wahlperioden auf die Wahl mit verdeckten Stimmzetteln verzichtet und über alle Vorschläge gemeinsam abgestimmt werden. Gibt es dagegen Widerspruch? — Ich höre keinen Widerspruch; das Haus ist also damit einverstanden.
Meine Damen und Herren, ich bitte diejenigen, die die vorgeschlagenen Kandidaten wählen wollen, um ein Handzeichen. — Danke. Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Bei drei Enthaltungen ist diese Wahl einstimmig erfolgt.
Ich frage die Gewählten, ob sie die Wahl annehmen, Zunächst Herr Abgeordneter von Hassel: Nehmen Sie die Wahl an?