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    Deutscher Bundestag 172. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Inhalt: Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . 9833 A Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1972 (Drucksache VI/3080) in Verbindung mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Drucksache VI/3156) — Erste Beratung —, mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (Drucksache VI/3157) — Erste Beratung —, mit Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschland- und Außenpolitik (Drucksachen VI/2700, VI/2828) und mit Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen (Drucksache VI/ 1523) — Fortsetzung der Aussprache — Franke, Bundesminister 9833 D Dr. von Weizsäcker (CDU/CSU) . 9837 C Mattick (SPD) 9843 A Amrehn (CDU/CSU) 9849 B Dr. Achenbach (FDP) . . . . . . 9853 B Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 9859 B Heyen (SPD) . . . . . . . . . 9869 D Dr. Ehmke, Bundesminister . . . . 9885 C Windelen (CDU/CSU) . . . . . . 9897 A Genscher, Bundesminister . . . . 9905 D Strauß (CDU/CSU) . . . . . . . 9909 C Schmidt, Bundesminister . 9916 A, 9934 C Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär 9929 B Dr. Barzel (CDU/CSU) . . . . 9933 C Dr. Wörner (CDU/CSU) . . . . 9935 A Fragestunde (Drucksache VI/3165) Frage des Abg. Cramer (SPD) : Anspruch mongoloider Kinder auf Ausstellung von Schwerbeschädigtenausweisen Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär 9872 B, C, D Cramer (SPD) . . . . . . . 9872 C, D Fragen des Abg. Vogt (CDU/CSU) : Vorlage des Vermögensbildungsberichts und des Sparförderungsberichts Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . 9872 D, 9873 A, B , C, D Vogt (CDU/CSU) . . . . . . 9873 B, C II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Fragen des Abg. Varelmann (CDU CSU) : Einschränkung der von den Landesversicherungsanstalten gewährten Leistungen für Zahnersatz Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . 9873 D, 9874 A, C, D, 9875A Varelmann (CDU/CSU) . . . 9874 B, C, D, 9875 A Frage des Abg. Ott (CDU/CSU) : Anzeigenaktion der Bundesregierung über die Erweiterung der EWG Ahlers, Staatssekretär 9875 B, C, D, 9876 A, B Ott (CDU/CSU) . . . . . . . 9875 C, D Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident . . . . . . . . 9875 D Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/CSU) 9876 A Damm (CDU/CSU) 9876 B Fragen des Abg. Engholm (SPD) : Vorschriften über die Haarlänge der Beamten des Bundesgrenzschutzes — Zurverfügungstellung von Haarnetzen und Vorgehen gegen Beamte mit langen Haaren Genscher, Bundesminister 9876 C, D, 9877 A Engholm (SPD) 9876 D Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident 9877 A Fragen der Abg. Dr. Schneider (Nürnberg) und Niegel (CDU/CDU) : Errichtung von Betreuungsstellen und Regionalsektionen der Kommunistischen Partei Italiens in der Bundesrepublik Genscher, Bundesminister . . . 9877 B, C, 9878 D, 9879 A, B, C , D, 9880 A, B , C, D, 9881 A Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) 9878 D, 9879 A Niegel (CDU/CSU) 9879 B, C Brück (Köln) (CDU/CSU) . . . 9879 D Matthöfer (SPD) . . . . . . . 9879 D von Thadden (CDU/CSU) . . . 9880 A Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU) . 9880 B Dr. Miltner (CDU/CSU) . . . . 9880 C Dr. Lenz (Bergstraße) (CDU/CSU) . 9880 D Vogel (CDU/CSU) . . . . . . . 9880 D Frage des Abg. Büchner (Speyer) (SPD) : Angabe von Orden und Ehrenzeichen in Personalbogen des öffentlichen Dienstes Genscher, Bundesminister . . . 9881 B, C Büchner (Speyer) (SPD) . . . . 9881 B, C Frage des Abg. Offergeld (SPD) : Erkenntnisse über die Wirkungen von Naßkühltürmen auf Klima und Luft — Kühlsysteme der Kernkraftwerke Kaiseraugst und Leibstadt Genscher, Bundesminister . . . . 9881 D, 9882 A, B Offergeld (SPD) . . . . . . . . 9882 A Josten (CDU/CSU) . . . . . . . 9882 B Frage des Abg. Schlee (CDU/CSU) : Verletzung der Gebietshoheit und des Asylrechts der Bundesrepublik am 2. Februar 1972 an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze Genscher, Bundesminister . . . 9882 C, D, 9883 A Schlee (CDU/CSU) 9882 D Dr. Wittmann (München) (CDU/CSU) 9883 A Fragen des Abg. Müller (Mülheim) (SPD) : Zielsetzung des Umweltforums und in ihm vertretene Organisationen — Stand der Vorbereitungen Genscher, Bundesminister . , 9883 B, C, D, 9884 A Müller (Mülheim) (SPD) . . . 9883 B, C, D Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/CSU) 9883 D Fragen des Abg. Dr. Häfele (CDU/CSU) : Einführung von Bewirtschaftungszuschüssen in landwirtschaftlichen Problemgebieten Ertl, Bundesminister . . . . 9884 B, C, D Dr. Häfele (CDU/CSU) . . . . 9884 C, D Frage des Abg. Höcherl (CDU/CSU) : Erklärung des Bundesministers Ertl in der Agrardebatte der Beratenden Versammlung des Europarates über Inflationsraten Ertl, Bundesminister . . . . 9885 A, B, C Höcherl (CDU/CSU) . . . . . 9885 B, C Nächste Sitzung 9935 C Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 III Anlagen Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 9937 A Anlage 2 Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Fragen der Abg. Frau Brauksiepe (CDU/ CSU) betr. Förderung der Arbeit des Deutschen Jugendherbergwerks . . . . 9937 B Anlage 3 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Wagner (Günzburg) (CDU/CSU) betr. politische Extremisten im öffentlichen Dienst . . . . . . . 9937 C Anlage 4 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Pieroth (CDU/CSU) betr Zahl der unbearbeiteten Anträge bei den Ausgleichsämtern 9937 D Anlage 5 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Lenzer (CDU/CSU) betr. einheitliches Urheberrecht für EDV-Programme 9938 A Anlage 6 Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Fragen des Abg. Zander (SPD) betr. Ermittlungsverfahren gegen Monika Berberich als Gegenstand der Tätigkeit der Organisation Amnesty International . . 9938 B Anlage 7 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Wagner (Günzburg) (CDU/CSU) betr. wiederholte Vernehmung von Kindern und Heranwachsenden in Strafverfahren wegen an ihnen begangener Sittlichkeitsdelikte . . . . 9938 C Anlage 8 Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Fragen des Abg. Kater (SPD) betr. Auswirkungen der Explosionen in den Anlagen der Niederländischen Gas-Union auf die Belieferung der Abnehmer von Erdgas in der Bundesrepublik . . . . 9939 B Anlage 9 Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Fragen des Abg. Weigl (CDU/CSU) betr. Nachentrichtung von Beiträgen und Novellierung der Altershilfe für Landwirte 9939 D Anlage 10 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Dr. Schulze-Vorberg (CDU/CSU) betr. Interview des Bundesministers Ehmke bezüglich der Konzentrationsbewegung in der Presse . . . 9940 B Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9833 17 2. Sitzung Bonn, den 24. Februar 1972 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9937 Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Bals *** 25. 2. Bredl 4. 3. Dasch 3.3. Dr. Dittrich 25. 2. Draeger *** 25. 2. Freiherr von und zu Guttenberg 4. 3. Frau Dr. Henze 18. 3. Kahn-Ackermann *** 26. 2. Lautenschlager * 24. 2. Lenze (Attendorn) *** 25. 2. Lücker (München) * 24. 2. Mertes 25. 2. Pöhler *** 25. 2. Richarts 25. 2. Rinderspacher *** 25. 2. Schulte (Schwäbisch-Gmünd) 25. 2. Dr. Seume 25. 2. * Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments *** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen der Versammlung der Westeuropäischen Union Anlage 2 Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Westphal vom 22. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen der Abgeordneten Frau Brauksiepe (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 Fragen A 4 und 5) : Hält die Bundesregierung - in Anbetracht der Tatsache, daß in deutschen Jugendherbergen im Jahre 1971 eine Gesamtzahl von fast 9 Millionen Übernachtungen erreicht wurde, darunter etwa eine Million Übernachtungen junger Ausländer - die Arbeit des Deutschen Jugendherbergwerks für eine vorrangig zu fördernde Aufgabe der Jugendarbeit, insbesondere im Hinblick auf die vielfältige und nachhaltige Gelegenheit internationaler Begegnungen? Ist sie bereit und sieht sie eine Möglichkeit, den Bundesjugendplan dahin gehend zu überprüfen und die Arbeit des Jugendherbergwerks wirksamer als bisher finanziell zu unterstützen? Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Arbeit des Deutschen Jugendherbergwerkes eine besonders förderungswürdige Aufgabe der Jugendarbeit darstellt. Dies wird durch die Tatsache belegt, daß die Förderung sowohl des Baues von Jugendherbergen als auch der Jugendarbeit in den Jugendherbergen in den vergangenen Jahren beträchtlich verstärkt worden ist. Die Bundesregierung ist bereit, das Deutsche Jugendherbergwerk bei dem Ausbau des Jugendherbergnetzes weiterhin nachhaltig zu unterstützen. Dafür wurden bisher alljährlich 2,8 Mio DM zur Verfügung gestellt, wozu Ländermittel in zumindest gleicher Höhe kamen. Bereits im vergangenen Haushaltsjahr konnten im Rahmen des Zonenrandförderungsgesetzes dem Deutschen Jugendherbergwerk Anlagen zum Stenographischen Bericht zusätzliche Mittel in erheblichem Ausmaß (ca. 2,5 Mio DM) zur Verfügung gestellt werden. Diese zusätzliche Förderung wird 1972 fortgesetzt und findet auch in der Finanzplanung Berücksichtigung. Anlage 3 Schriftliche Antwort des Bundesministers Genscher vom 24. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Wagner (Günzburg) (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 Frage A 43) : In welcher Weise gedenkt die Bundesregierung der durch Bundesinnenminister Genscher wiederholt erteilten Absage an politische Extremisten im öffentlichen Dienst Rechnung zu tragen? Der Bundeskanzler und die Regierungschefs der Länder haben bei ihrer Konferenz in Bonn am 28. Januar 1972 eine gemeinsame Erklärung darüber abgegeben, welche Maßnahmen nach dem geltenden Recht zu treffen sind. Nach den dort formulierten Grundsätzen werden die Bundesbehörden verfahren. Anlage 4 Schriftliche Antwort des Bundesminister Genscher vom 24. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Pieroth (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 Frage A 49) : Hat die Bundesregierung einen Überblick über die Zahl der unbearbeiteten Anträge bei den Ausgleichsämtern, insbesondere auch über Altersstruktur der wartenden Antragsteller? Von den 7 103 372 Anträgen auf Feststellung von Vertreibungsschäden, Kriegsschäden und Ostschäden nach dem Feststellungsgesetz waren Ende 1971 308 234 Anträge (= 4,31 v. H.) noch nicht abschließend bearbeitet. Im Zuerkennungsverfahren waren 69 174 Fälle (= 1,3 v. H.) noch nicht abgeschlossen. Von den 4 255 301 zuerkannten Ansprüchen auf Hauptentschädigung waren 161 587 (= 3,9 v. H.) noch nicht erfüllt. In 597 961 Fällen konnten die zuerkannten Hauptentschädigungsansprüche nicht oder nur teilweise erfüllt werden, weil die Erfüllung wegen noch laufender Kriegsschadenrente oder aus sonstigen gesetzlichen Gründen gesperrt ist. Ein höherer Bearbeitungsrückstand ergibt sich bei den Anträgen auf Feststellung von Vermögensschäden in Mitteldeutschland und im Gebiet von Berlin (Ost) nach dem Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz (BFG) vom 22. Mai 1965. Hier sind bis zum 31. Dezember 1971 insgesamt 384 079 Feststellungsanträge eingereicht worden, von denen bis dahin 264 434 Anträge (= 69,1 v. H.) noch in Bearbeitung waren. 9938 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Von den 81 637 im Feststellungsverfahren positiv erledigten Anträgen sind 25 777 Fälle (= 31 v. H.) im Zuerkennungsverfahren noch unerledigt. Von den zuerkannten Ansprüchen auf Hauptentschädigung waren 35 156 voll erfüllt. 20 481 Ansprüche konnten nicht oder nur teilweise erfüllt werden, weil wegen der Gewährung laufender Beihilfe oder aus sonstigen gesetzlichen Gründen eine Auszahlung nicht möglich war. Einen Überblick über die Altersstruktur der wartenden Antragsteller hat die Bundesregierung nicht. Anlage 5 Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Bayerl vom 24. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Lenzer (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 Frage A 50) : Wie beurteilt die Bundesregierung ein einheitliches Urheberrecht für EDV-Programme, und was hat sie in dieser Hinsicht bisher unternommen? Die Frage des Schutzes der EDV-Programme wird zur Zeit von der Weltorganisation für geistiges Eigentum im Auftrage der Vereinten Nationen untersucht. Dabei wird insbesondere auch geprüft, ob für EDV-Programme ein Schutz durch das Urheberrecht, durch Patente oder Gebrauchsmuster oder aufgrund der Vorschriften gegen den unlauteren Wettbewerb ausreichend und angemessen ist oder ob es zweckmäßig erscheint, ein neues Schutzrecht für EDV-Programme zu schaffen. Die Bundesregierung hält es für angebracht, zunächst das Ergebnis dieser Untersuchung abzuwarten, da angesichts der internationalen Bedeutung des Problems des Schutzes der EDV-Programme eine Rechtsangleichung sehr erwünscht ist. Sofortige Maßnahmen auf nationaler Ebene sind nach Auffassung der Bundesregierung nicht erforderlich. EDV-Programme genießen, soweit sie persönliche geistige Schöpfungen sind, den Schutz nach dem Urheberrechtsgesetz. Im übrigen greift ergänzend der Schutz des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ein, wenn EDV-Programme von Dritten in unlauterer Weise ausgenutzt werden. Anlage 6 Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Bayerl vom 24. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Zander (SPD) (Drucksache VI/3165 Frage A 53) : Welche Konsequenzen gedenkt die Bundesregierung aus der Tatsache zu ziehen, daß die zur Hilfe für politische Häftlinge gegründete Organisation Amnesty International den Fall Monika Berberich aufgreifen will? Die Bundesregierung sieht keinen Anlaß, aufgrund der Tatsache, daß Amnesty International das Ermittlungsverfahren gegen Monika Berberich zum Gegenstand seiner Tätigkeit gemacht hat, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Dies ist schon deswegen nicht erforderlich, weil die Bundesanwaltschaft am 18. Februar 1972 den Generalsekretär von Amnesty International auf dessen Wunsch ausführlich über den bisherigen Verlauf des Verfahrens informiert und dabei insbesondere auch die Gründe für die Dauer der Untersuchungshaft erörtert hat. Der Generalsekretär von Amnesty-International hat aufgrund dieser Informationen am gleichen Tage in Karlsruhe auf einer Pressekonferenz im Namen seiner Organisation erklärt, daß Beanstandungen gegen die bisherige Behandlung des Verfahrens nicht zu erheben seien. Inzwischen hat die Bundesanwaltschaft das Verfahren an die Strafverfolgungsbehörden Berlin abgegeben. Anlage 7 Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Bayerl vom 24. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Wagner (Günzburg) (CDU/CSU) (Drucksache V1/3165 Frage A 55) : Ist der Bundesregierung bekannt, daß Kinder und Heranwachsende schweren psychischen Belastungen ausgesetzt sind, wenn sie in dem Strafverfahren wegen eines an ihnen begangenen Sittlichkeitsdeliktes mehrmals als Zeugen vernommen werden, und ist sie bereit, durch eine Gesetzesinitiative sicherzustellen, daß von weiteren Zeugeneinvernahmen bei späteren Beweisaufnahmen dann abzusehen ist, wenn bereits eine gerichtlich protokollierte Aussage vorliegt? Ich darf mir vorweg den Hinweis erlauben, daß das von Ihnen angeschnittene Problem bereits Gegenstand von Erörterungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform ist. Anläßlich der Beratungen über das 4. Strafrechtsreformgesetz hat der Sonderausschuß hierzu eine an den Bundesminister der Justiz gerichtete Entschließung gefaßt und den Bundesminister der Justiz gebeten, zu dem in der Entschließung enthaltenen Fragenkatalog Stellung zu nehmen. Mein Haus hat über die Landesjustizverwaltungen die gerichtliche und staatsanwaltliche Praxis zu diesen Fragen gehört und entsprechende gesetzliche Regelungen ausländischer Staaten überprüft. Das Ergebnis der Auswertung des umfangreichen Materials wird in diesen Tagen dem Sonderausschuß zugeleitet werden. Aufgrund des meinem Hause vorliegenden Materials wird davon auszugehen sein, daß unter Psychologen und bei der gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Praxis weitgehend Übereinstimmung darüber besteht, daß Kinder und Heranwachsende psychischen Belastungen ausgesetzt sein können, wenn sie in dem nachfolgenden Strafverfahren wegen eines an ihnen begangenen Sittlichkeitsdelikts als Zeugen vernommen werden. Dabei birgt insbesondere die wiederholte Vernehmung des kindlichen oder jugendlichen Zeugen die Gefahr eines schädigenden Einflusses in sich. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9939 Um diese Gefahr auszuschließen, wäre an sich eine Regelung erstrebenswert, die im Prinzip nur eine richterliche Vernehmung des kindlichen oder jugendlichen Zeugen zuläßt und als Regelfall die Verlesung dieser Vernehmungsniederschrift in der Hauptverhandlung vorsieht. Eine entsprechende Regelung erscheint allerdings nicht unproblematisch. Sie wird von der gerichtlichen Praxis einhellig abgelehnt. Eine entsprechende gesetzliche Bestimmung würde einen tiefgreifenden Eingriff in die Struktur des Strafprozesses bedeuten, da damit der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme durchbrochen würde. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zählt aber zu den wichtigsten Prinzipien unseres Strafverfahrensrechts. Er gewährleistet, daß das erkennende Gericht von den zur Rekonstruierung des Sachverhalts benutzten Beweismitteln in unmittelbar eigener sinnlicher Wahrnehmung Kenntnis erlangt. Dies ist gerade von besonderer Bedeutung in Strafverfahren wegen Sittlichkeitsdelikten, in denen kindliche oder jugendliche Opfer oft als einzige Zeugen, zumindest aber als Hauptbelastungszeugen auftreten. Es muß auch darauf hingewiesen werden, daß dem berechtigten Wunsch nach besonderem Schutz kindlicher und jugendlicher Zeugen vor schädlichen Nebenwirkungen des Strafverfahrens die rechtsstaatliche gegründete Forderung nach unbeschränkter Verteidigung des Angeklagten gegenübersteht. Diese Antinomie dürfte nicht ohne eine schwer zu vertretende Beschränkung des Rechts der Verteidigung aufgelöst werden können. Die Bundesregierung wird jedoch im Rahmen der bereits in Angriff genommenen Reform des Strafverfahrensrechts mit Vorrang auf eine gesetzliche Regelung hinwirken, die der besonderen psychischen Situation des kindlichen und jugendlichen Opfers von Sittlichkeitsdelikten im anschließenden Strafverfahren gerecht wird. Welcher gesetzgeberischen Lösung angesichts der hier nur kurz aufgezeigten Schwierigkeiten der Vorzug zu geben ist, bedarf noch weiterer eingehender Überlegungen. Anlage 8 Schriftliche Antwort des Staatssekretärs Dr. Rohwedder vom 23. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abgeordneten Kater (SPD) (Drucksache VI/3165 Fragen A 58 und 59) : Welche Auswirkungen hatten nach Auffassung der Bundesregierung die Folgen der Sprengstoffexplosionen in den Kompressoranlagen der Niederländischen Gasunion in Ravenstein und Ommen auf die Belieferung der Abnehmer von Erdgas in der Bundesrepublik Deutschland? Was hat die Bundesregierung getan bzw. was gedenkt sie zu veranlassen, um Vorsorge für den Fall des Entstehens von in den Niederlanden verursachten Versorgungsschwierigkeiten für die Abnehmer von Erdgas in der Bundesrepublik Deutschland zu treffen? Die Sprengstoffexplosionen in den Kompressoranlagen der Niederländischen Gas-Union hatten auf die Belieferung der Letztabnehmer von Erdgas in der Bundesrepublik keine nennenswerten Auswirkungen. Lediglich solche Abnehmer haben Liefereinschränkungen hinnehmen müssen, bei denen Lieferunterbrechungen vertraglich zulässig sind. Die Bundesregierung betrachtet gerade die niederländischen Erdgasvorkommen als eine sehr sichere Energiequelle für den deutschen Energiemarkt. Sie wird in dieser Auffassung dadurch noch bestärkt, daß die niederländische Regierung unverzüglich Sicherheitsmaßnahmen beschlossen hat, um auch außergewöhnliche Vorkommnisse wie Sprengstoffanschläge für die Zukunft zu verhindern. Wirksamster Schutz auch gegen solche Versorgungsstörungen ist im übrigen nach Auffassung der Bundesregierung eine Politik der Diversifikation der Bezugsquellen sowie der weitere Ausbau des Erdgas-Verbundsystems, das wechselseitige Aushilfen der Verbundpartner, auch über die Staatsgrenzen hinweg, ermöglicht. Die Versorgungssicherheit der Verbundpartner wird um so größer, je mehr Erdgasquellen und Erdgasspeicher in dieses System eingebunden werden. Die Bundesregierung ermutigt alle Bemühungen, die auf die Erschließung neuer Lieferquellen, auf die Anlage von Erdgasspeichern und auf den Ausbau eines umfassenden europäischen Erdgas-Verbundsystems gerichtet sind. Dies ist ein Weg, auf dem die deutsche Gaswirtschaft schon ein gutes Stück vorangekommen ist. Für den Fall gleichwohl eintretender Versorgungsstörungen liegen schließlich bei den einzelnen Ferngasgesellschaften bis ins einzelne ausgearbeitete Abschaltpläne vor, um nach Maßgabe der geringsten Beeinträchtigung die Auswirkungen einer solchen Störung in möglichst engen Grenzen zu halten. Dabei wird der Versorgung der Kommunen und damit der privaten Haushalte sowie der Belieferung der Abnehmer, die nicht auf andere Energiearten ausweichen können, Vorrang eingeräumt. Anlage 9 Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Rohde vom 23. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abgeordneten Weigl (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 Fragen A 89 und 90) : Wird die Bundesregierung Landwirten, die sich bei der Einführung der Altershilfe für die Landwirtschaft von den Beitragszahlungen befreien ließen, eine Nachversicherungsmoglichkeit einräumen? Wie groß ist der oben angesprochene Personenkreis? Bei der vorgesehenen Novellierung der Altershilfe für Landwirte wird die Bundesregierung auch die Möglichkeiten für einen Verzicht auf die Befreiung von der Beitragspflicht und die damit verbundene Frage der Nachentrichtung von Beiträgen prüfen. Dabei ist jedoch eine differenzierte Betrachtung erforderlich, da es sich um unterschiedliche Befreiungstatbestände mit entsprechend unterschiedlichen Motivationen handelt. Und zwar sind diejenigen Personen, die sich bei Einführung der Altershilfe für Landwirte im Jahre 9940 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 1957 auf Grund eines privatrechtlichen Versicherungsvertrages haben befreien lassen, von jenen Personen zu unterscheiden, die wegen einer anderweitigen gesetzlichen Versicherung oder Versorgung befreit worden sind. Im ersten Fall ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen, unter denen der Entschluß zur Befreiung seinerzeit gefaßt worden ist, nicht so verändert sind, daß eine Korrektur der damaligen Entscheidung ermöglicht werden sollte. Im zweiten Fall haben die Versicherungs- und Versorgungsansprüche an der allgemeinen Fortentwicklung teilgenommen, so daß er sich in einem anderen Licht darstellt. Soweit es die Zahlen angeht, möchte ich folgendes anmerken: Nach der Quartalstatistik der landwirtschaftlichen Alterskassen (Stichtag 31. Dezember 1971), die vom Gesamtverband der landwirtschaftlichen Alterskassen herausgegeben wird, beträgt die Zahl der beitragsbefreiten Landwirte insgesamt 60 422. Die Zahl derjenigen, die auf Grund eines privatrechtlichen Versicherungsvertrages befreit worden sind, dürfte bei 2 500 liegen. Anlage 10 Schriftliche Antwort des Bundesministers Dr. Ehmke vom 24. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 Frage A 117) : Entsprechen die Auffassungen, die Bundesminister Ehmke in einem Interview mit dem Bonner „General-Anzeiger" vom 7. Januar 1972 — auch nachgedruckt im Bulletin vom 8. Januar 1972 — zu den Problemen der Massenmedien darlegte, den in den zuständigen Bundesministerien entwickelten Vorstellungen, und teilt die Bundesregierung insbesondere die Behauptungen des Bundesministers "Hinsichtlich der Pressekonzentration -muß man sich klarmachen, daß ein Teil des Konzentrationsvorgangs allein aus betriebswirtschaftlichen Gründen notwendig ist und daß die Zusammenlegung oft zu einem besseren Niveau der Zeitungen führt. Man muß auch lokale Zeitungsmonopole durch den Ausbau regionaler Rundfunk- und Fernsehsender auszugleichen suchen. Dennoch ist der Gedanke einer als öffentlich-rechtliche Körperschaft organisierten Zeitung ein interessantes theoretisches Modell, wenn wir nämlich unterstellen, daß es am Ende des Konzentrationsprozesses nur noch eine Zeitung mit einer absoluten Monopolstellung geben könnte. Wir sollten es aber auf keinen Fall zu einer solchen Situation kommen lassen, in der die Frage verneint werden muß, ob Zeitungen überhaupt noch auf privater Basis gemacht werden dürfen."? In dem von Ihnen zitierten Interview habe ich ausgeführt, daß ein Teil der Konzentrationsbewegung in der Presse auf betriebswirtschaftliche Zwänge zurückzuführen ist. Es handelt sich hierbei um eine Feststellung, die schon im Schlußbericht der Pressekommission vom 22. Mai 1968 dargelegt ist. Ein gewisses Maß von Konzentration kann aber durchaus dem Informationsinteresse des Bürgers dienen, soweit nämlich leistungsschwache und überalterte Pressebetriebe durch leistungsstarke und rationell arbeitende Betriebe ersetzt werden, die eine zuverlässigere und vielseitigere Information bieten können. Hiervon ausgehend habe ich weiter die Auffassung vertreten, daß der Pressekonzentration dann entgegengewirkt werden muß, wenn eine ausreichende Meinungsvielfalt in der Presse nicht mehr gewährleistet ist. Diese Auffassung deckt sich nicht nur mit der der Bundesregierung; ich gehe sogar davon aus, daß auch Sie ihr zustimmen. Falls es einmal dazu kommen sollte, daß die Vielfalt der Presse aufgrund der wirtschaftlichen Konzentration Meinungsmonopolen weichen müßte, dann stünde als Ausweg zur Erhaltung der Meinungsvielfalt das Denkmodell einer als öffentlich-rechtlichen Körperschaft organisierten Zeitung zur Debatte. Diese Frage, die mir in jenem Interview gestellt wurde, ist heute nicht akut, und ich hoffe, daß sie nie akut wird.
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    Rede von Heinrich Windelen


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Kollege Moersch, Ihre Frage gibt mir Anlaß zu einer ganz anderen Feststellung, vor allem zu der, daß verbal gleiche Aussagen dieser Regierung und früherer Regierungen inhaltlich etwas völlig anderes darstellen,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    weil diese Bundesregierung ja die gemeinsame Rechtsauffassung durch die Anerkennung eines zweiten deutschen Staates und die Feststellung, daß sich Deutschland nunmehr in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 verstünde, inzwischen verlassen hat. Das, meine Damen und Herren, ist der entscheidende Unterschied. Deswegen sind selbst verbal gleiche Aussagen dieser Regierung von einer völlig anderen rechtlichen, nämlich minderen Qualität als Aussagen früherer Regierungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ein Letztes in Erwiderung auf das, was Minister Ehmke hier gefragt hat. Wie alle Ihre Redner hier haben Sie uns nach unserer Alternative gefragt. Nun, meine Damen und Herren, Ihnen liegt, und auf der Tagesordnung verzeichnet, der Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen zur Beratung und Beschlußfassung vor. Das ist unsere Antwort und unsere Alternative zur Lösung dieses Problems. Darin heißt es — und das war die entscheidende Frage von Minister Ehmke , ein solcher Vertrag solle ausgehend von der Oder-Neiße-Linie und vorbehaltlich der friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts einen Modus vivendi schaffen. Darum also geht es uns. Einen Vertrag — und Sie sagen ja, dieser Vertrag sei nur ein Modus vivendi, ohne daß Sie in der Lage sind, diesen Nachweis zu führen —, der diesen Voraussetzungen entspräche, könnten wir unterstützen. Das also ist unsere Alternative.
    Herr Ehmke hat Kollegen Kiesinger vorgeworfen, er habe im Wahlkampf von Baden-Württemberg, der hier offenbar für einige Leute eine sehr große Rolle spielt, was ich verstehe, die Bibel mißbraucht. Ich frage mich, wo Herr Minister Ehmke den traurigen Mut hernimmt, anderen den Mißbrauch der Bibel

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    oder christlicher Überzeugungen vorzuwerfen, wo
    doch seine Partei im Wahlkampf immer noch mit die-
    sen Dingen wirbt. Nun, ich bin davon überzeugt, es wird für Sie keine Werbung werden, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Lassen Sie mich zum eigentlichen Gegenstand, zu dem ich hier sprechen wollte, übergehen, zum deutsch-polnischen Vertrag. Der Herr Bundeskanzler hat am 7. Dezember 1970 in Warschau einen Vertrag unterschrieben, der in seinem Kern feststellt, daß die Oder-Neiße-Linie die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet. Meine Damen und Herren, nach Wirksamwerden dieses Vertrages werden Ostpreußen, Hinterpommern, Ostbrandenburg, Oberschlesien und Schlesien im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung der obersten Gerichte nicht mehr als Inland, sondern als Hoheitsgebiet eines anderen Staates angesehen werden müssen. Der Bundesaußenminister hat gestern erklärt, daß die Oder-Neiße-Gebiete nunmehr als polnisches Staatsgebiet, also als Ausland, zu betrachten sind. Meine Damen und Herren, für eine so weitreichende Entscheidung hatte die Bundesregierung, hatte der Bundeskanzler weder einen Auftrag noch hat er dafür eine überzeugende Mehrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Diese Entscheidung über ein Viertel Deutschlands hängt vielleicht von einer einzigen Stimme ab. Die Moskauer Zeitung „Neue Zeit" spricht davon, daß schon ein schlichter Zufall die Entscheidung gefährden könnte.

    (Abg. Wüster: Wie bei der AdenauerWahl!)

    — Das vergleiche ich nicht mit der Wahl eines Bundeskanzlers, meine Damen und Herren!

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir hatten Ihnen zu einem sehr frühen Zeitpunkt vertraulich eine gemeinsame Polen-Politik angeboten. Die Bundesregierung und der Bundeskanzler glaubten auf eine breite Basis in dieser so schwierigen Frage verzichten zu können. Das war, wie sich heute in aller Deutlichkeit zeigt, eine verhängnisvolle Entscheidung, verhängnisvoll nicht für uns, verhängnisvoll vor allem für die künftigen deutschpolnischen Beziehungen. Sie mögen zwar sagen — das ist in diesem Hause mehr als einmal gesagt worden —: Mehrheit ist Mehrheit! Aber, meine Damen und Herren, hier geht es doch um weit mehr! Hier geht es doch um die Glaubwürdigkeit und um die Tragfähigkeit unserer Entscheidung gegenüber der Geschichte und gegenüber dem polnischen Volk. Herr Bundeskanzler, für diese Politik hatten Sie keinen Auftrag! Im Gegenteil, Ihre Partei hatte noch wenige Tage vor der 'Bundestagswahl alle Vermutungen über einen beabsichtigten Kurswechsel mit scharfen Worten zurückgewiesen.

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)

    Noch sechs Tage vor der Wahl wurde im Namen
    des Parteivorstandes der SPD auf zweifelnde Fragen festgestellt, die Behauptung, daß die SPD die



    Windelen
    Anerkennung der Oder-Neiße-Linie fordere, sei eine Diffamierung,

    (Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!) eine böswillige Verleumdung;


    (Hört! Hört! bei ,der CDU/CSU)

    sie müsse auffordern, diese Behauptung zurückzunehmen, da sie wissentlich falsch sei. Heute wissen wir, daß diese Behauptung zutreffend war. Es ist deswegen sicher richtig, wenn man unterstellt, daß die schmale Mehrheit, über die diese Regierung noch verfügt, nur mit der Versicherung erreicht werden konnte,

    (Abg. Haase [Kassel]; Mit der Täuschung!)

    daß die damals noch gemeinsame, wenigstens verbal noch gemeinsame Ostpolitik — so hieß es doch — kontinuierlich weiterentwickelt werde.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Ja! Ja! und Hört! Hört!)

    Dieser Vertrag aber, das gilt es hier festzustellen, zerbricht diese Gemeinsamkeit. Wenn Sie das, was Sie jetzt machen, vor der Wahl gesagt hätten, dann sähen, dessen bin ich gewiß, die Mehrheiten in diesem Hause ganz anders aus.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Warum steht der Bundeskanzler, warum steht die Bundesregierung nicht mehr zu den feierlichen, teilweise geradezu pathetischen Erklärungen zur Oder-Neiße-Linie früherer Jahre? Es sind einige zitiert worden. Ich könnte seitenlang weiter zitieren; das würde uns hier nicht weiterführen und würde auch nichts ändern.
    Aber, meine Damen und Herren, ich frage Sie: Was hat sich denn seit 1969, seit dem Wahltag also, geändert, wenn es sechs Tage vorher noch hieß, es sei eine Verleumdung und Diffamierung, zu behaupten, die Oder-Neiße-Linie solle anerkannt werden? Wir hören dann immer, daß es zu dieser Ostpolitik
    — das ist ja auch jetzt wieder gesagt worden — keine Alternative gebe, und deswegen, deswegen sei sie richtig. Ich verstehe das nicht. Der Bundeskanzler hat doch selbst als Außenminister der Großen Koalition diese Alternative wenigstens verbal oder, wie Herbert Wehner gestern sagte, unter der Zucht des Kabinetts vertreten. Herr Kollege Wehner, Sie haben diese Broschüre unter eigener Verantwortung herausgegeben, die Dr. Kiesinger gestern zitiert hat, nicht unter Zucht des Kabinetts; Sie hätten sie nicht herauszugeben brauchen.

    (Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Dann lesen Sie die Geschäftsordnung der Bundesregierung!)

    — Nein, Herr Kollege Arndt: Jeder Minister führt
    — das sollten Sie wissen sein Ressort selbstverantwortlich. Publikationen konnte selbstverständlich der gesamtdeutsche Minister, den es damals noch gab, in eigener Verantwortung herausgeben. Sie zweifeln daran? Dann lesen Sie die Geschäftsordnung der Bundesregierung. Niemand hatte Sie also dazu gezwungen. Es gab damals — wenigstens verbal — noch eine gemeinsame Politik und eine Alternative. Wenn Sie jetzt seit Herbst 1969
    sagen, es gebe keine Alternative mehr, muß ich doch fragen: Hat uns etwa diese Politik dahin gebracht, daß wir jetzt auf einmal keine Alternative mehr haben? Davon muß man doch ausgehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der Herr Bundeskanzler hat es für richtig gehalten, deutsch-polnische Grenzfragen nicht zwischen Deutschen und Polen, sondern zunächst zwischen Deutschen und Russen zu regeln. Meine Damen und Herren, das entspricht einer unheilvollen Tradition, die in Polen unvergessen ist.

    (Abg. von Thadden: Sehr richtig!)

    Vor genau 200 Jahren wurde die erste polnische Teilung zwischen Österreich, Preußen und Rußland besiegelt. Exilpolnische Zeitungen wissen zu berichten: in eben jenem Katharinensaal des Kreml, in dem später der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister und vor Ihnen, Herr Bundesaußenminister, Herr Ribbentrop einen Vertrag über polnische Grenzen unterzeichneten. Doch das ist leider nicht der einzige Zusammenhang zwischen den Verträgen von 1939 und dem von 1970.

    (Abg. Petersen: Gromyko!)

    Herr Bundeskanzler, Sie haben — so wenigstens
    sehen es die Völker des Ostens — in Moskau alle heutigen Grenzen in Europa als unerschütterlich und unveränderlich bestätigt — und damit auch jene polnisch-sowjetische Grenze des Hitler-Stalin-Paktes, die die Polen Wilna und Lemberg kostete.

    (Abg. Haase [Kassel] : Die russische Aggression nach Polen — Litauen, Estland, Lettland!)

    — Ja, natürlich, noch einiges mehr. Ich spreche hier über das deutsch-polnische Verhältnis. Sie wissen, was das für jeden national- und geschichtsbewußten Polen auch heute noch bedeutet. Unter solchen Begleitumständen ist die Hoffnung auf einen deutschpolnischen Ausgleich nicht sehr wahrscheinlich.
    Der Herr Bundeskanzler hat den Warschauer Vertrag zum Bestandteil des übergeordneten Moskauer Vertrages, des Generalvertrages gemacht.

    (Abg. Dr. Barzel: Ganz genau!)

    Die in Moskau paraphierte Absichtserklärung unterstreicht das ganz eindeutig, denn sie spricht von einem einheitlichen Ganzen aller Verträge.

    (Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Aber nicht von der Überund Unterordnung!)

    — Ich habe Ihnen eben die Interpretation des Bundesaußenministers gebracht, wie er dieses einheitliche Ganze versteht oder mindestens verstand.
    Sie wissen, daß selbst kommunistische Politiker darum ringen, die zuletzt in der CSSR blutig bestätigte Brechnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten abzuschwächen. Der Herr Bundeskanzler hat mit der Regelung der deutsch-polnischen Grenzfragen über die Köpfe der Polen hinweg diese Doktrin de facto hingenommen und bestätigt. Wie können wir glauben, das trage zur Ausöhnung bei? Auch hier war der Bun-



    Windelen
    deskanzler gewarnt. Auch hier hat er sich über diese Warnungen hinweggesetzt.

    (Abg. Matthöfer: Unsinn!) — Das ist kein Unsinn.


    (Abg. Matthöfer: Natürlich!)

    Darüber wird, wenn einmal die Dokumente zugänglich sind, auch die Öffentlichkeit mehr erfahren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Was die Polen selbst, soweit sie sich frei äußern können, zu dieser Politik sagen, kann man täglich der polnischen Exilpresse entnehmen. So schreibt z. B. „Narodowicz" am 13. August 1970, der Moskauer Vertrag erwecke schmerzliche Erinnerungen an den sowjetisch-deutschen Vertrag direkt vor dem letzten Krieg, oder die angesehene Pariser „Kultura" im November 1970 — wörtliches Zitat —:
    Obwohl es natürlich gewesen wäre, daß die Garantien der Unantastbarkeit der Westgrenzen Polens vor allem in Warschau deponiert würden, hat Brandt diese Garantien an Moskau überwiesen. Das Ergebnis dieser Operation: wie früher der Gehorsam gegenüber der UdSSR mit der Gefahr der deutschen Revanchisten motiviert wurde, so wird er jetzt mit der Tatsache begründet, daß die Garantien in der Hand der sowjetischen Regierung liegen.
    Das waren nur zwei Stimmen aus der Fülle ähnlicher Kommentare.
    Der Herr Bundeskanzler und viele mit ihm, die das harte Los der Emigration geteilt haben, werden die Bedeutung derartiger Meinungsäußerungen besonders zu würdigen wissen. Auch jene waren mit dem Herrn Bundeskanzler damals vor einer Diktatur geflohen. Sie haben auf ihre Weise damals auch als Emigranten gegen die Gewaltherrschaft in ihrem Heimatland gekämpft, genauso wie es Polen heute im freien Westen versuchen.
    Ich bin überzeugt, in diesem Haus gibt es niemanden, der nicht Verständigung, der nicht Aussöhnung mit dem polnischen Volk will. Aber bisher waren wir uns doch, meine ich, darüber einig, daß wir unseren Frieden mit dem polnischen Volk suchten und nicht mit denen, die es unterdrücken.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir alle wissen um die Opfer von Auschwitz, und wir schämen uns dessen, was dort im Namen von Deutschen geschehen ist. Wir wissen aber auch, was später mit den Überlebenden von Auschwitz geschah und was heute noch mit ihnen in Polen geschieht. Wir wünschten, daß auch dazu ein Wort gesagt worden wäre. Wir hoffen, daß der Herr Bundeskanzler demnächst bei seinem Besuch in Israel dazu ein Wort sagen wird.
    Aber noch etwas anderes gehört zur ganzen Wahrheit. Es gab nicht nur die Verbrechen von Auschwitz, es gab nicht nur Verbrechen von Deutschen, sondern es gab auch Verbrechen an Deutschen. Es gab auch Lamsdorf, wo Polen Schreckliches an Deutschen taten, und es gab auch Katyn, wo Stalin Tausende von polnischen Offizieren ermorden ließ. Die Namen
    Auschwitz, Lamsdorf und Katyn stehen für viele. Sie stehen für eine europäische Tragödie ohnegleichen, die sich nie wiederholen darf.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wer aber Aussöhnung anstrebt, der muß die ganze Wahrheit sagen und die ganze Wahrheit ertragen können.
    Nun kann es natürlich sein, daß man mir entgegenhält, ich verwechsele Ursache mit Wirkung. Nein, meine Damen und Herren! Kollege Wehner hat gestern völlig zu Recht gesagt: in der Geschichte gibt es keine Stunde Null. Deswegen fängt eben auch die deutsch-polnische Geschichte nicht mit dem Überfall Hitlers und Stalins auf Polen an. Wenn man schon über Ursachen und Wirkungen sprechen will, dann muß man auch jene Ursachen und Wirkungen mit bedenken, die nach dem ersten Weltkrieg das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen unheilvoll vergifteten. Volksabstimmungen, an die man sich nicht hielt, willkürlich gezogene Grenzen auf Landkarten, die Frieden schaffen sollten, Versuche auch damals schon —, das Selbstbestimmungsrecht durch Gewalt zu ersetzen, eine nationalistische Minderheitenpolitik, die natürlich nationalistische Gegenreaktionen auslöste, — das alles gehört mit zu dieser Vorgeschichte.
    Herr Kollege Wehner hat gestern vor unbilligen Vergleichen gewarnt, vor allem vor einem Vergleich mit Versailles. Ich glaube, er hat recht. Man kann hier keine unmittelbaren Vergleiche ziehen. Aber man sollte wenigstens aus Fehlern lernen dürfen. Schließlich war es Theodor Heuss, der schon 1932 sagte: „Die Geburtsstätte der nationalsozialistischen Bewegung ist nicht München, sondern Versailles."

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Herr Bundesaußenminister, es war Ihr Vorgänger im Amt des Vorsitzenden der FDP, Thomas Dehler, der 1950 bestätigte, daß der Aufstieg Hitlers weitgehend eine Folge des Versailler Vertrages gewesen sei. Insoweit gehört dieses Problem mit in unsere Betrachtung,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    eben weil die Geschichte keine Stunde Null kennt.
    Heute stehen wir vor der Frage, ob wir diesmal ohne Zwang eine ähnliche Lage — das Selbstbestimmungsrecht ignorieren, Striche auf Landkarten machen und Menschen aussiedeln oder vertreiben — hinnehmen wollen. Ich meine, die Erfahrungen der Vergangenheit sollten uns schrecken. Recht muß Recht bleiben. Wer aus Unrecht Recht werden läßt, der schafft böse Beispiele für die Zukunft,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    auf die sich dann auch andere berufen können — nein: inzwischen ja schon berufen. Denken Sie an Israel oder an Irland. Wann je in der Geschichte hat das Ziehen von Strichen auf Landkarten und das Wegschaffen von Menschen Frieden, Entspannung und Versöhnung gebracht? Betrachten wir doch alle Brand- und Krisenherde, die die Politiker heute beschäftigen! Sie sind alle die Folge von ungelösten Problemen, von Problemen, die man nur auf die



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    nächste Generation verschoben hat, statt sie in Geduld einer Lösung des Ausgleichs zuzuführen.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)

    Nachdem wir diese geschichtlichen Erfahrungen haben, ist es uns, glaube ich, nicht mehr erlaubt, die Probleme von heute wieder einmal auf die nächste Generation zu verschieben, weil wir nicht die Kraft und nicht die Geduld haben,

    (Zurufe von der SPD)

    eine Lösung des echten Ausgleichs zu schaffen,

    (Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Warum stimmen Sie dann nicht zu?)

    nicht nur — das geschieht doch mit diesen Verträgen — eine Sanktionierung von Gewalt und Annektion. Ein Frieden, der nicht auf dem Recht, sondern auf dem Unrecht beruht, kann nach unseren geschichtlichen Erfahrungen nicht von Dauer sein, und die bloße Aufrechnung von Schuld hilft uns bestimmt nicht weiter.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)

    Schuld gibt es auf beiden Seiten, wenn auch das Ausmaß unterschiedlich ist und wir den geringsten Anlaß haben, unseren Teil von Schuld zu verkleinern oder zu bagatellisieren. Aber Aussöhnung kann es doch nur dann geben, wenn alle Beteiligten ihr Maß an Schuld erkennen

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    I und wenn alle Beteiligten zu einem Neubeginn bereit sind. Auch dazu hätten wir vom Herrn Bundeskanzler ein offenes Wort erwartet. Vielleicht kommt es noch. Die polnischen Bischöfe, an ihrer Spitze Kardinal Wyszyinski, wagten dies, obschon sie wußten, wie die polnische Regierung reagieren würde. Sie schrieben in ihrer Botschaft an die deutschen Bischöfe im Jahre 1965 wörtlich:
    Die polnische Westgrenze an Oder und Neiße ist, wie wir wohl verstehen, für Deutschland eine äußerst bittere Frucht des letzten Massenvernichtungskrieges zusammen mit dem Leid von Millionen von Flüchtlingen und vertrieben Deutschen.
    Sie erwähnten dann die Vertreibung auch der Polen aus den polnischen Ostgebieten, und sie schlossen mit dem bewegenden Satz von der gegenseitigen Vergebung:
    gewähren Vergebung und bitten um Vergebung."
    Die scharfe Reaktion der Warschauer Regierung formulierte der damalige Ministerpräsident Cyrankiewicz: eine solche Bitte um Vergebung, so sagt er, sei für das polnische Volk beleidigend und für seine Würde erniedrigend; das polnische Volk habe nicht um Vergebung zu bitten.
    Noch bedeutungsvoller ist ein anderer Satz in derselben polnischen Bischofsbotschaft. Darin wird uns Deutschen — ganz bestimmt nicht ohne Absicht — mitgeteilt, daß in allen Freiheitskämpfen während der polnischen Unterdrückungszeit die Devise
    der Polen war: „Für eure und unsere Freiheit". Meine Damen und Herren, es stünde uns wohl an, dieses Wort genau zu bedenken und zu prüfen, was heute damit gemeint ist: „Für eure und unsere Freiheit."

    (Beifall bei der CDU/CSU.)



Rede von Dr. Carlo Schmid
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  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
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    Rede von Heinrich Windelen


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    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

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