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ID0609312400

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 93. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 28. Januar 1971 Inhalt: Eintritt des Abg. Dr. Farthmann in den Bundestag 5043 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . 5043 A Begrüßung einer Delegation des Parlaments der Volksrepublik Polen 5051 A Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1971 (Drucksache V1/1690) in Verbindung mit Große Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung (Drucksachen VI/ 1638, V1/1728) und mit Aussprache über den Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1971 Brandt, Bundeskanzler . 5043 B, 5058 B Dr. Barzel (CDU/CSU) 5051 B Dr. Apel (SPD) 5059 B Mischnick (FDP) 5064 B Dr. Gradl (CDU/CSU) . . . . . 5071 C Wienand (SPD) 5076 A Borm (FDP) . . . . . . . . 5083 A Schmidt, Bundesminister . . . . 5090 A Dr. Freiherr von Weizsäcker (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5100 A Dr. Haack (SPD) . . . . . . . . 5104 C Franke, Bundesminister . . . . . 5108 B Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU) . . 5113 C Dr. Bußmann (SPD) . . . . . . . 5118 A Amrehn (CDU/CSU) . . . . . . 5119 D Moersch (FDP) . . . . . . . . 5122 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . 5124 C Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 5125 A Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Januar 1971 5043 93. Sitzung Bonn, den 28. Januar 1971 Stenographischer Bericht Beginn: 10.00 Uhr
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    Berichtigung: 90. Sitzung, Seite 4932 C, letzte Zeile: Zwischen den Wörtern „Haushaltsausschuß" und „gemäß" ist einzufügen: „mitberatend und" Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Adams ** 28. 1. Dr. Ahrens * 29. 1. Alber * 29. 1. Dr. Arndt (Berlin) 1. 2. Dr. Artzinger ** 29. 1. Bals * 29. 1. Bauer (Würzburg) * 29. 1. Berberich 28. 1. Dr. von Bismarck 28. 1. Blumenfeld 29. 1. Dr. Burgbacher ** 29. 1. Bühling 28. 2. Dasch 5.4. van Delden 29. 1. Dichgans 29. 1. Frau Dr. Diemer-Nicolaus * 29. 1. Dr. Dittrich ** 29. 1. Dr. Dollinger 23. 2. Draeger *** 29. 1. Flämig ** 29. 1. Fritsch * 29. 1. Dr. Furler * 29. 1. Gewandt 29. 1. Dr. Götz 13. 2. Grüner 29. 1. Dr. Hallstein 29. 1. Frau Herklotz 29. 1. Dr. Hermesdorf (Schleiden) * 29. 1. Hösl * 29. 1. Dr. Jahn (Braunschweig) ** 28. 1. Dr. Jungmann 15. 2. Dr. Kempfler 29. 1. Frau Klee * 29. 1. Klinker 29. 1. Dr. Koch ** 29. 1. Kriedemann ** 29. 1. Freiherr von Kühlmann-Stumm 29. 1. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Lange ** 29. 1. Lautenschlager ** 29. 1. Lemmrich * 29. 1. Lenze (Attendorn) * 29. 1. Lücker (München) ** 28. 1. Dr. Martin 29. 1. Memmel ** 29. 1. Müller (Aachen-Land) ** 28. 1. Dr. Müller (München) * 29. 1. Pöhler * 29. 1. Dr. Prassler 29. 1. Rasner 12. 2. Riedel (Frankfurt) ** 29. 1. Richarts * 29. 1. Richter *** 29. 1. Dr. Rinderspacher *** 29. 1. Roser 29. 1. Schmidt (Würgendorf) * 29. 1. Dr. Schmücker * 29. 1. Frau Schröder (Detmold) 29. 1. Dr. Schulz (Berlin) * 29. 1. Saxowski 2. 2. Sieglerschmidt * 29. 1. Springorum ** 29. 1. Steiner 29. 1. Strauß 29. 1. v. Thadden 6. 2. Frau Dr. Walz *** 29. 1. Dr. Warnke 29. 1. Weber (Heidelberg) 29. 1. Wienand * 29. 1. Dr. Wörner 29. 1. * Für die Teilnahme an Sitzungen der Beratenden Versammlung des Europarates ** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments *** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen der Versammlung der Westeuropäischen Union
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    Rede von Dr. Dieter Haack


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Das habe ich, glaube ich, nicht gemacht, Herr von Guttenberg. Aber mit Ihren sachlichen Äußerungen wird man sich auch morgen hier noch auseinandersetzen.
    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine abschließende Feststellung treffen. Am Ende der bisherigen Deutschlandpolitik der CDU/CSU im Jahre 1966 war die Bundesrepublik Deutschland in einer außenpolitischen Isolierung. Nach einem Jahr Ost- und Deutschlandpolitik der neuen Regierung wird die Politik der Bundesrepublik weltweit anerkannt. Es ist heute schon häufig darauf hingewiesen worden — man muß es aber immer wieder sagen, auch im Hinblick auf die Diskussion draußen im Lande, die Sie anheizen —, daß wir die Folgen des kasten Krieges nicht in einem Jahr schlagartig beseitigen können. Aber selbst dort, wo nach wie vor die stärkste Konfrontation besteht, im innerdeutschen Bereich, gibt es trotzdem Gespräche, wenn auch nur auf Teilgebieten. Jedenfalls lotet diese Politik — das ist für mich das Wesentliche und Charakteristische — alle Gesprächsmöglichkeiten aus, ohne vitale Interessen zu vernachlässigen. Ich glaube, daß auf diese Weise diese Politik allein der Lage unserer gespaltenen Nation gerecht wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Liselotte Funcke
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort hat der Herr Bundesminister Franke.

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    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
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    Frau Präsident! Meine sehr geschätzten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat 1969 ihre Arbeit mit der Bemühung begonnen, die in 25 Jahren Nachkriegsentwicklung entstandenen Realitäten in Deutschland beim Namen zu nennen. Das war die Ausgangsposition und daraus ergaben sich Aufträge und Aufgaben, die diese Bundesregierung in Angriff genommen hat.
    Aus meinem schriftlichen Vorwort zu den Ihnen vorliegenden Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1971 rufe ich nur einige Punkte in Erinnerung, um deutlich zu machen, unter welchen Aspekten diese ganze Arbeit bewältigt wurde.
    Nach wie vor haben wir der Tatsache gerecht zu werden, daß in Deutschland zwei Staaten existieren und die Deutschen sich dennoch als Angehörige einer Nation verstehen, daß sie an dieser Einheit
    festhalten wollen. Um des Friedens in Europa und in unserem Volke willen müssen die beiden Staaten in Deutschland ihr Verhältnis friedlich vertraglich regeln. Die Bundesregierung ist in diesem Sinne bereit, auch die Fragen der Vertretung beider deutscher Staaten in internationalen Organisationen mit der DDR gemeinsam .zu behandeln. Das setzt aber voraus, daß die DDR jener Gesamtregelung zustimmt, die in Kassel vorgeschlagen wurde und die den Menschen in Deutschland dient, die das Los der Menschen in Deutschland erleichtern soll. Zu einer solchen Politik gehört das Bemühen um Versachlichung, zu dieser Politik gehört das Bedürfnis nach umfassender nüchterner Information.
    Lassen Sie mich etwas zu der Kritik sagen, die Herr Dr. Barzel im Zusammenhang mit den Materialien zum Bericht zur Lage der Nation hier vorgebracht hat. Weder dieser Regierung - und das heißt auch: meinem Hause — noch der Sozialdemokratischen Partei noch der Freien Demokratischen Partei können Sie vorwerfen, sie sähen nicht die friedensstörende, die menschenbelastende Konfrontationspolitik der SED, die unerträglich harten menschenverachtenden Methoden, mit denen die SED die Teilung Deutschlands und Berlins zu demonstrieren versucht, oder sie wollten das nicht wahrhaben. Darüber brauchen wir nicht belehrt zu werden. Ich glaube, das ist jedem deutlich genug, der in der praktischen Politik und in der Verantwortung steht. Das kann doch wohl in dieser Weise nicht in Frage gezogen werden. Sie hätten meinem Vorwort zu den Materialien bei gutem Willen durchaus entnehmen können, daß es bei dem Auftrag an die Wissenschaftler in keinem Moment meine Absicht gewesen ist, hier etwas aussparen oder ausklammern zu lassen, um sich etwa die Gunst der Gegenseite zu erhalten oder diese zu gewinnen. Davon spüren wir nicht viel. Wir lassen uns aber dadurch nicht von dem einmal als richtig erkannten Kurs in unserer Politik gegenüber der DDR abbringen.
    Worum es in dem Auftrag ging, war, in wichtigen Lebensbereichen der Menschen — zum Alltag, zum Beruf, zu ihrer Lage im erwerbstätigen Alter und im Jugendalter — Informationen zu sammeln, Informationen, die etwas Neues bringen, um ein möglichst dichtes Netz von Informationen zu knüpfen, wie sie so exakt und in dieser Breite noch keine Bundesregierung vorgelegt hat.
    Wenn Herr Dr. Barzel — er ist nicht anwesend; aber ich denke, daß es ihm übermittelt werden wird, und er wird es sicherlich auch nachlesen — mein Vorwort zu den Materialien gelesen hätte, dann wüßte er, warum diese Materialien noch keinen Vergleich der politischen Systeme bringen. Er wüßte dann auch, daß ich einen solchen Vergleich als in Vorbereitung befindlich angekündigt habe. Ich verstehe daher nicht, warum er in dieser Weise auf dieses Thema eingegangen ist. Die Bundesregierung hat nicht behauptet, daß die vergleichende Darstellung schon allumfassend sei, sondern sie hat betont, daß es eine Fortschreibung des Auftrages war, den sie sich zu Beginn ihrer Regierungszeit gegeben hat. Wir meinen — und ich glaube, darin werden wir auch von der breitesten



    Bundesminister Franke
    Öffentlichkeit und von vielen Damen und Herren dieses Hauses durchaus Unterstützung finden —, daß dieser Versuch in einer Weise gelungen ist, die durchaus eine Fortschreibung ermöglicht und erlaubt.
    Den Vorwurf, den Herr Dr. Barzel erhoben hat, Berlin werde in den Materialien quasi ausgespart, muß ich ganz entschieden zurückweisen. Ich verweise auf Seite 2, Kapitel I der Materialien, wo das Verhältnis Berlins zur Bundesrepublik und zu den Drei Mächten dargestellt ist, auch die Rechtsverpflichtung der Bundesrepublik, es den Drei Mächten zu erleichtern, ihrer Verantwortlichkeit in bezug auf Berlin zu genügen. Vergleichen Sie bitte auch auf Seite 5 Kapitel I Ziffer 17, wo die rechtlichen Quellen des NATO-Schutzes für Berlin vollständig genannt sind. Und wenn Sie so liebenswürdig wären, noch die erste Seite meines Vorwurfs zu lesen, so finden Sie dort in bezug auf die 20 Punkte von Kassel unter den Tatsachen, von denen bei einem Vertrag mit der DDR auszugehen ist, als einen Punkt, der als Tatsache bei den Vertragsverhandlungen, wenn es dazu kommt, Beachtung finden muß, genannt die gewachsenen Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland.
    Bei Herrn Dr. Gradl habe ich mich für seine weitgehend sachliche Würdigung der Materialien zu bedanken. Ich denke, auch das war heute insgesamt angenehm zu hören, daß bei dem Versuch zu kritisieren recht häufig darauf hingewiesen wurde, um welche Bereiche der Bericht zur Lage der Nation zu ergänzen sei. Es ist ja die Absicht der Bundesregierung, jährlich diesen Bericht zu erstatten, und es ist auch der Sinn solcher Diskussionen, die Vervollständigung durch gemeinsames Arbeiten zu erwirken. Von da her sind diese Anregungen durchaus begrüßenswert. Wir sind in der Tat bemüht, so umfassend, wie es nur geht, zu informieren.
    Ich muß aber hier erklären, damit der großen wissenschaftlichen Leistung der Autoren Gerechtigkeit widerfährt und damit auch die Absicht der Bundesregierung richtig verstanden wird: Es war nicht die Absicht, der politischen Diskussion den Standort vorzugeben, von dem aus sie die Fakten und Feststellungen dieser von ihr mit großem Dank und mit Respekt gewürdigten Untersuchung gewertet wissen will, sondern die Absicht war, mit dem Beitrag der Wissenschaft das politische Urteil zu erleichtern und die politische Diskussion zu versachlichen dort, wo es um die Lage der Nation geht.
    1968 und 1969 hat der damalige Bundeskanzler Kiesinger die beiden ersten Berichte hier vorgetragen, und schon zu jener Zeit ist uns allen klar geworden, wie notwendig eine Bestandsaufnahme der Wirklichkeiten in Deutschland ist. In dem ersten Bericht zur Lage der Nation, der nach langjährigem Drängen der Sozialdemokraten erstmals zur Zeit der Großen Koalition hier gegeben wurde, hatte der ehemalige Bundeskanzler festgestellt — ich zitiere wörtlich —:
    Die machtpolitischen und ideologischen Gegensätze bestehen weiter. Aber die Fronten sind
    mitten in unserem Lande erstarrt. Wer diesen
    unerträglichen und gefährlichen Zustand ändern will und wir müssen ihn ändern —, kann es nur mit den Mitteln des Friedens tun.
    Diese Erkenntnis beruhte auf der richtigen Einsicht, wie sie der Kollege Kiesinger hier von dieser Stelle aus schon am 17. Juni 1967 formuliert hatte. Auf die von ihm selbst gestellte Frage, ob wir denn warten dürfen, bis der Geschichte etwas Rettendes einfällt, antwortete er, eine solche rein defensive Politik würde von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen, sie würde uns nicht nur keinen Schritt vorwärtsbringen, sie könne uns auch das gar nicht bewahren, was sie bewahren will, denn die Zeit wirkt nicht für uns.
    Das, meine Damen und Herren, war die zutreffende Kennzeichnung der Lage, wie sie sich in mehr als 20 Jahren nach dem Kriege entwickelt hatte. Es war die Situation, die die jetzige Bundesregierung als Erbe übernahm. Wenn hier gesagt wurde, daß es im Jahre 1970 nur Verbesserungen im Post- und Fermeldewesen und im innerdeutschen Handel gegeben hat, dann muß ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren, daß diese Regierung ihr Amt zu einem Zeitpunkt angetreten hatte, als die innerdeutschen Beziehungen auf einem Tiefstand angelangt waren, wo über gar, nichts mehr, nicht einmal über die kleinsten Dinge im Interesse der Menschen zwischen beiden Staaten in Deutschland verhandelt wurde.

    (Beifall bei der SPD.)

    Damit haben wir angefangen, und ich glaube, daß auch Sie eigentlich zugestehen müßten, daß in dieser kurzen Zeit nicht das ausgeräumt werden konnte, was sich in den 20 Jahren davor so verhängnisvoll entwickelt hat. Das gilt um so mehr, wenn an anderer Stelle von angeblich überstürztem Tempo in unserer Politik gesprochen worden ist. Irgendwo ist da ein Widerspruch in sich.
    Ich sage hier eines: Diese Bundesregierung wird geduldig und beharrlich und eben auch mit Augenmaß die Politik weiterverfolgen, die sie eingeleitet hat im Interesse der Menschen und im Interesse unseres Volkes.
    Der Bundeskanzler hat die Realitäten, mit denen wir es in Deutschland zu tun haben, bereits in seinem ersten Bericht zur Lage der Nation, also genau vor einem Jahr, konkret beim Namen genannt. Von diesen Realitäten muß aber auch ausgegangen werden, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir die Erstarrung und Verkrampfung in Deutschland überwinden wollen. Ob uns die Realitäten gefallen oder nicht, das ist hier gar nicht die Frage. Uns gefallen die Realitäten nicht, und gerade darum bemühen wir uns, zur Verbesserung der Beziehungen der beiden Staaten zu kommen. Das setzt eine Änderung dieses Zustandes voraus, die wir nicht allein erzwingen können, sondern die wir nur durch eine entsprechende Politik erringen werden.
    Dazu gehört aber selbstverständlich nicht nur die für jedermann sichtbare Realität, daß die deutsche Nation auf dem Boden Deutschlands in seinen tatsächlichen Grenzen von heute in zwei Staaten mit gegensätzlicher und unvereinbarer Herrschafts- und Gesellschaftsordnung gegliedert ist, zu den Realitä-



    Bundesminister Franke
    ten der Nation gehören auch und gerade die Menschen, die in ihr leben, mit ihren alltäglichen Lebensbedingungen in unserem geteilten Land. Weil wir das so sehen, hat diese Bundesregierung sofort nach ihrem Amtsantritt, also im November 1969, entschieden, den jährlichen Bericht mit möglichst umfassendem Material zur Darstellung der Lebensumstände und der gemeinsamen oder auch gegensätzlichen Probleme und Entwicklungen der beiden deutschen Staaten zu verbinden.
    Ich gebe hier offen zu, daß eine solch anspruchsvolle Aufgabe damals nicht in den ersten zwei Monaten des Bestehens der neuen Regierung bewältigt werden konnte, sondern daß es einer längeren Vorbereitungszeit bedurfte. Wir haben uns deshalb vor einem Jahr damit beschieden, dem Bundestag nur einige Materialien über die Entwicklung der Deutschland-Frage, die Bindungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, über Wirtschaft und Verkehr im geteilten Deutschland, über innerdeutsche Beziehungen und über West-Berlin und das Zonenrandgebiet an die Hand zu geben. Gleichzeitig haben wir aber angekündigt, daß verschiedene Lebensbereiche in beiden deutschen Staaten für den nächsten Bericht zur Lage der Nation verglichen würden und darauf hingewiesen, daß bemerkenswerte Ansätze für einen Vergleich der Entwicklung 'von Bildung, Wissenschaft und Forschung in beiden deutschen Staaten in den Berichten der vorigen Bundesregierung vom 4. August 1969 bereits erarbeitet worden war.
    Der Ankündigung dieser Bundesregierung, daß sie die Berichte vervollständigen werde, hat die Bundesregierung heute durch die Ihnen vorliegenden Materialien zum Bericht zur Lage der Nation entsprochen. Die darin enthaltenen Vergleiche, Statistiken und empirischen Untersuchungen sind fundierte Darstellungen aus wichtigen Lebensbereichen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland zu dem, was tatsächlich ist und, wie ich glaube, für alle Fraktionen und Parteien und für die Öffentlichkeit eine solide Grundlage weiterer Diskussion. Die Vergleiche sind in meinem Auftrag erarbeitet worden von einer Kommission, die die wissenschaftliche Verantwortung dafür trägt.
    Mit dieser Vorlage des Materials, meine sehr geschätzten Damen und Herren, ist ein Experiment geglückt, nämlich Wissenschaft, Politik und Verwaltung für eine solch fundamentale Aufgabe zu gewin-men, und ich meine, daß das auch von uns allen entsprechend gewürdigt werden sollte. Hier ist auch gezeigt, in welcher Weise wir die Mitwirkung von Wissenschaftlern verstehen, die unabhängig aus ihren Erkenntnissen das Material erstellt haben, und damit ist auch ein Beispiel dafür gesetzt, wie wir hier Freiheit von Forschung und Lehre zu schützen und in Anspruch zu nehmen wissen, auch wenn es darum geht, diese wichtigen politischen Fragen hier zu behandeln und zu erörtern. Und ohne daß die Bundesregierung sich bis in alle Einzelheiten und Details mit den Ergebnissen identifizierte, hat sie die Arbeit begrüßt und beschlossen, sie dem heutigen mündlichen Bericht des Bundeskanzlers beizugeben, wie das geschehen ist.
    Der Bundesregierung erscheinen diese Materialien geeignet, der Versachlichung — und daran liegt uns sehr — in der Argumentation zu dienen, und ich möchte hier eindringlich davor warnen, sie als billiges Instrument der Polemik für Diskussionen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland oder auch gegenüber der DDR zu mißbrauchen, weil sich in diesem Zahlenwerk die Lebensbedingungen der Menschen in unserem Land, in Deutschland, spiegeln. Hier geht es in erster Linie um eine Bestandsaufnahme, die Rückbesinnung fördern und zur Einsicht verhelfen soll, was ist und was machbar ist in der Bundesrepublik und in der DDR, möglicherweise auch zwischen den beiden Staaten in Deutschland. Schließlich kann diese Bestandsaufnahme auch ein Beitrag sein, die schwierigen Fragestellungen der innerdeutschen Beziehungen auch in der Öffentlichkeitsarbeit auf eine solide Grundlage zu stellen.
    Die hier zusammengetragenen Fakten können und sollten also nicht zur nutzlosen, selbstzufriedenen Auseinandersetzung verwendet werden, sondern als ein Beitrag zum besseren Verständnis unseres gemeinsamen Bemühens um die friedliche Regelung der deutschen Frage. Diese Bundesregierung geht aus vom kritischen und urteilsfähigen mündigen Bürger, der es nicht nötig hat, neben den Fakten und Vergleichen gleichzeitig auch noch fertige Meinungen und ideologische Verpackungen mitgeliefert zu bekommen. Das ist die ernsthafte Absicht dieser Bundesregierung gewesen: durch die sachliche, nüchterne Übermittlung von Fakten jedem die Urteilsfindung zu ermöglichen. Wir meinen, daß nur in dieser Weise Vorurteile abgebaut werden können und ein kritisches Urteilsvermögen gestärkt werden kann, besonders bei der jungen Generation. So leisten wir der ganzen Nation einen Dienst für die geistige Auseinandersetzung und das eigene Selbstverständnis in unserem Lande, der längst überfällig gewesen ist.
    Wenn also das Reden von der Einheit der Nation keine Floskel werden soll, dann brauchen wir kaum etwas dringender als solche wissenschaftlich fundierten Vergleiche zwischen beiden Teilen Deutschlands, d. h. wir brauchen dann nicht nur sehr gründliche Arbeiten über die Entwicklungen in der DDR und nicht nur Entsprechendes über die Bundesrepublik, sondern wir brauchen Arbeiten, die die ganze Nation im Blick haben, wie es für die wichtigen Teilbereiche hier geschehen ist
    Auch der politischen Bildungsarbeit und der Publizistik wird es möglich sein — und es ist in den letzten Tagen schon möglich gewesen —, daraus sehr viel Nutzen zu ziehen. Wir können das an dem Echo in der deutschen Öffentlichkeit heute schon registrieren. Das Interesse an dieser Arbeit ist sehr breit. Die große Auflage der vorbereiteten Materialien ist hier im Lande vergriffen. Auch ausländische Missionen haben sich darum bemüht und haben diese Materialien von uns, so schnell es nur ging, zugestellt bekommen, um auch dort dazu beizutragen, eine für uns sachliche Position zu entwickeln.
    Wer es mit der Einheit der Nation ernst meint und erkannt hat, daß diese Einheit wirklich eine Chance ist, die verspielt oder die in ständigem Bemühen



    Bundesminister Franke
    erhalten werden kann, der sieht auch das Politikum, das in diesen Materialien steckt. Ein Politikum ist die aus diesen Materialien zu gewinnende Erkenntnis, welche Unterschiede der Verhältnisse in beiden Teilen Deutschlands sich schon in manchen Bereichen entwickelt haben. Werfen Sie einen Blick auf das, was die Materialien über die Erwerbstätigkeit der Frauen, über die Facharbeiterausbildung, über die Fachhochschulen und über die Lage der Jugend sagen.
    Wir dürfen auch heute davon ausgehen, daß die Menschen in der DDR das System der politischen Unfreiheit nach wie vor ablehnen. Aber dieses System setzt die Grenzen, in denen die Menschen leben, in denen sie Chancen zu ergreifen, in denen sie ihre beruflichen Pläne zu verwirklichen suchen. Diese Sphäre, meine sehr geschätzten Damen und Herren, wird von den Materialien beleuchtet. Wenn es in der DDR in dieser Sphäre Regelungen gibt, die besser auf die Bedürfnisse der modernen Industriegesellschaft zugeschnitten sein sollten, so haben wir keinen Grund, die Augen davor zu verschließen. Das sollten wir uns genau überlegen, und wir sollten uns in unserer Politik weiter so bemühen.
    Das ist gemeint, wenn diese Bundesregierung davon ausgeht, daß innerhalb der deutschen Nation zwei Staaten existieren. Es existieren eben nicht nur zwei Staaten auf deutschem Boden, sondern es existieren vor allem zwei Gesellschaften, und das ist uns allen bewußt. Wir müssen das nicht jeden Tag betonen. Wir gehen von dieser Tatsache aus, und wir meinen, daß das Tatsachen sind, die zur Kenntnis zu nehmen sind. Gingen wir nicht davon aus, so verlören wir die Fähigkeit zum Gespräch mit unseren Landsleuten. Auch hier helfen die Materialien.
    Wer kritisiert, daß diese Materialien ganz unpolitisch seien, weil eine Herausarbeitung der politischen qualitativen Unterschiede zwischen der DDR DDR und der Bundesrepublik fehle, hat einfach nicht begriffen, worum es eigentlich geht. Wir wissen gut genug, daß der Versuch eines Interessenausgleichs mit 'der DDR — und darum muß es gehen, wenn man zu vertraglichen Vereinbarungen kommen will; und wir gehen davon aus, daß das notwendig ist — in den nächsten Jahren erst einmal eine ganz harte Verschärfung der ideologischen Auseinandersetzung bringen kann. Wir können zur Zeit täglich beobachten, daß diese harte Auseinandersetzung Wirklichkeit ist. Ich sage auch in Anbetracht dieser Tatsache mit Nachdruck: Diese Regierung ist keine Regierung, die die ideologische Auseinandersetzung scheut. Sie ist eine Regierung, die sich bemüht, das Augenmaß zu behalten und nicht Dinge zu forcieren, die in schneller Frist nicht zu machen sind. Darum auch die Aussagen in Verbindung mit dem Bericht zur Lage der Nation zu jenen Möglichkeiten, die wir jetzt als realisierbar sehen, soweit es gelingt, dafür eine entsprechende Atmosphäre zu schaffen und mit den dazu erforderlichen Partnern auch klarzukommen.
    Worum es uns ging und worum es uns geht, das war und ist, einen Anfang zu machen zur besseren Kenntnis und Erkenntnis der einfachsten Lebensbedingungen der Nation, weil wir wissen, daß diese
    Nation steht und fällt mit dem Willen der Menschen,eine Nation zu sein. Dabei geht es nicht um große Worte, sondern um schlichte Wahrheiten, die so ausgesprochen werden sollten, wie sie sind, Wahrheiten allerdings, die für uns Verpflichtung sein müssen, weil nur mit ihnen das Mögliche in Deutschland erreichbar wird.
    Gestatten Sie mir noch einige Anmerkungen zu Fragen, die in Verbindung mit dem Thema des heutigen Tages durchaus relevant sind. Die SED-Führung hat im Zusammenhang mit ihren Bemühungen um eine strenge Abgrenzung in 'den geistigen und politischen Positionen gegenüber den politischen Kräften und der Grundordnung in der Bundesrepublik ein an sich uraltes Schreckgespenst neu an ihre Wand gemalt: den Sozialdemokratismus. Damit macht sich eine Verhärtung im Ton bemerkbar, wie sie immer dann zu beobachten war, wenn von unserer Seite aus offensive und konstruktive Politik betrieben wurde.
    Es war an anderer Stelle von dem Gefrierpunkt die Rede, auf dem unsere Beziehungen zur DDR angekommen seien. Lassen Sie mich dazu bemerken, daß die DDR mit ihren Versuchen, die gegenwärtigen Ausgangspositionen für die schwebenden Gespräche und Verhandlungen abzusichern, nicht grundsätzlich den Weg dazu verbauen will, endlich auch ihrerseits Konsequenzen aus der Forderung nach friedlicher Koexistenz und Normalisierung der Verhältnisse in Europa zu ziehen. Nur paßt eben der Verhandlungspartner, mit dem es die DDR hier zu tun hat, so schlecht in das Bild, das man seit Jahren von der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Regierung und den sie tragenden Kräften zu vermitteln suchte. Damit soll nicht gesagt werden, es hätte einmal Übereinstimmung von Propaganda und Wirklichkeit gegeben. Nur scheint es fast so, als würde eine Bundesregierung um so unbequemer, je mehr ihr internationales Ansehen steigt und je weniger die Regierungsmitglieder von Irrtümern der Vergangenheit belastet sind.
    So hat es neue Diffamierungen gegeben, die ihren vorläufigen Höhepunkt in einem Referat des DDR-Staatsratsvorsitzenden Ulbricht vom 17. Dezember 1970 gefunden haben. 25 Jahre Sozialistische Einheitspartei Deutschland bildeten den Anlaß, auf den Kampf zwischen den zwei Strömungen in der deutschen Arbeiterbewegung hinzuweisen, der in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone durch die Zwangsvereinigung von SPD und KPD auf so folgenschwere Weise gelöst wurde.
    Die SED hat ihre Ziele in diesen 25 Jahren — das können wir guten Gewissens behaupten — nicht mit den Mitteln der Demokratie angestrebt. Nach 1945 wurde dort nicht der Kampf um den Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Staatsmacht von unten um die Schaffung einer realen Demokratie geführt, wie es 1946 angekündigt und von Herrn Ulbricht jetzt wiederholt worden ist. Es ging von Anfang an um das Programm eines Sozialismus als erster Stufe der Entwicklung des Kommunismus, sprich: Leninismus und Stalinismus, wie das dann auf dem 6. Parteitag der SED im Januar 1963 proklamiert worden ist. Was in der gesamten Zeit im Vorder-

    Bundesminister Franke
    grund stand, war — um nochmals Walter Ulbricht mit dem erwähnten Referat zu zitieren — die „sozialistische Bewußtseinsbildung", das „Entwickeln einer sozialistischen Menschengemeinschaft", also, im Klartext gesprochen, der Versuch., ein bestimmtes Menschenbild zu entwickeln, ein hoffnungsloser Versuch, der bedeutet, daß Humanität und Demokratie nicht mehr Maximen des Handelns sind.
    Für die Sozialdemokraten sind dagegen die Begriffe Sozialismus und Demokratie untrennbar; sie bedingen sich gegenseitig. Und weil die Sozialdemokraten die Einheit von Sozialismus und Demokratie verwirklichen wollen, weil sie Politik für den Menschen machen wollen, weil sie als echte Alternative eine soziale Ordnung entwickeln wollen, in der die Menschen wahrhaft menschenwürdig, also frei, leben können, sind sie den Angriffen der SED in besonderer Weise ausgesetzt. Zur gleichen Zeit werden die Sozialdemokraten von jenen Kräften auf der äußersten Rechten und ihren Blättern verdächtigt und verleumdet, die aus dem schrecklichen Verlauf der Geschichte der letzten 60 Jahre so offensichtlich nichts gelernt haben.
    Der Grundsatz, die Politik dem Gedanken der Humanität unterzuordnen, sie auf ihn auszurichten, zieht sich als ein ununterbrochener Faden durch die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei. Für dieses Prinzip, für diesen Grundsatz haben Sozialdemokraten -- auch andere, aber vor allem Sozialdemokraten gelitten in der Zeit des Nationalsozialismus und danach. Gerade daran sollten an
    dieser Stelle auch diejenigen erinnert werden, die hier bei uns das zu diffamieren suchen, was Sozialdemokraten in dieser Bundesregierung zusammen mit den liberaldemokratischen Partnern erreichen wollen.
    Dieser Bundesregierung geht es um den Grundgedanken unserer Verfassung, um den Auftrag zur sozialen Gestaltung unserer Demokratie und um ein aktives Arbeiten an der Lösung der vielschichtigen Probleme, die durch die Spaltung Deutschlands aufgeworfen sind.
    Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang den hundertsten Jahrestag der Reichsgründung und das heutige Nachdenken über die Lage der Nation zum Anlaß nehmen, auf ein Begriffs- und Wertpaar hinzuweisen, auf Freiheit und Nation. Auch diese Begriffe sind untrennbar. Das, was wir unter Nation verstehen, setzt die Freiheit voraus, sich dazu zu - bekennen.
    Die Deutschen hatten sich im vorigen Jahrhundert erträumt, die Einheit der Nation in einer freiheitlichen Ordnung zu verwirklichen. Doch in dem 1871 entstandenen Deutschen Reich dominierte das Element des Nationalstaatlichen, des Nationalismus über die demokratische Gleichberechtigung und Freiheit des einzelnen Menschen. Unter Ausnutzen nationaler Begeisterung entstand aus dem nationalen Gedanken der Nationalismus, und dieser Nationalismus wurde schließlich zu einem Instrument eines schrecklichen Regimes, um die Menschen zu disziplinieren, auszurichten, zu unterdrücken und in ein System zu zwingen, das mit Rassenwahn und einem verbrecherischen Krieg Deutschland in Schutt und Trümmer gebracht hat.

    (Abg. Kiep: Eine direkte Linie von Bismarck zu Hitler!)

    Diejenigen Deutschen, bei denen der Drang nach persönlicher Freiheit nicht verschüttet war — zu ihnen gehörten gerade auch die Sozialdemokraten; das kann von niemandem bestritten werden —, suchten im Deutschen Reich das Erbe der Volksbewegung des frühen 19. Jahrhunderts für ein einiges und demokratisches Deutschland zu bewahren und zu verwirklichen. Doch auch in der Zeit von Weimar behielt das andere Element, der Nationalismus, gesteigert zu jener Art, wie es viele von uns miterlebt haben, die Oberhand, und die erste deutsche Demokratie scheiterte.
    Nun ist in dem anderen deutschen Staat ein vom Klassenkampf her geprägter Nationenbegriff entstanden. Er könnte seine Wirkung in die DDR hinein entfalten. Doch ist dieser sogenannte sozialistische Nationenbegriff zunächst darauf gerichtet, das zu verdächtigen, was wir unter innerdeutschen Beziehungen verstehen, was wir gerade eingedenk der Existenz der deutschen Nation als Klammer zwischen den beiden Staaten in Deutschland darunter verstehen.
    Ich möchte an dieser Stelle gerade auch gegenüber der DDR betonen, daß innerdeutsche Beziehungen ein Angebot sind. Auch für uns gibt es keine Verwischung in den Unterschieden der geistigen und der daraus resultierenden politischen Positionen. Aber gerade die besonderen Beziehungen und Verbindungen zwischen den Menschen hier und in der DDR sind es, was wir unter Existenz der deutschen Nation verstehen, die auch eine der anzuerkennenden Realitäten ist.
    Streben wir eine besonders enge Zusammenarbeit zum Wohle der Menschen auf der Basis unter= schiedlicher Gesellschaftsordnungen an! Dabei kann eben keine Seite der anderen ihre Vorstellungen aufzwingen, auch nicht im Sinne eines sozialistischen deutschen Nationalstaats, mit dem die DDR einen Alleinvertretungsanspruch im Blick auf eine neue, zukunftsträchtige Nation erhebt, als könne sich die DDR mit einem Federstrich aus der deutschen Geschichte und den Verhängnissen der Vergangenheit lösen.
    Wir wollen nicht, wie es Herr Ulbricht unterstellt, die DDR mit einem Sozialdemokratismus unterwandern oder die DDR mit der Bundesrepublik im Wege der Unterordnung verklammern. Wir wollen unabhängig von dem Trennenden nach dem Gemeinsamen suchen und das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten friedlich und eben nicht vormundschaftlich im Wege bindender Verträge gestalten, sondern auf der Basis der Menschenrechte, der Gleichberechtigung, des friedlichen Zusammenlebens, des gegenseitigen Vorteils und der Nichtdiskriminierung als allgemeine Regeln des zwischenstaatlichen Rechts. Dabei gehen wir davon aus, daß jeder der beiden Staaten für sich unabhängig in Angelegenheiten seiner inneren Hoheitsgewalt ist

    Bundesminister Franke
    und keiner der beiden Staaten für den anderen handeln kann.
    Insofern konkretisieren die 20 Punkte, die der Bundeskanzler in Kassel der anderen Seite über. geben hat, unmißverständlich das, was wir unter innerdeutschen Beziehungen verstehen. Im Interesse des Friedens in Europa, so meinen wir, müssen die beiden Staaten in Deutschland Beziehungen zueinander finden, durch die Spannungen wirklich abgebaut werden und den umliegenden Völkern die Sorge genommen wird, es könne sich an den Spannungen in Deutschland noch einmal ein Konflikt entzünden.
    Lassen Sie mich noch einmal auf die Zeit vor 20 Jahren zurückblenden! Absurd ist der in dem Referat des DDR-Staatsratsvorsitzenden vom 17. Dezember erhobene Vorwurf, hier sei auf Grund eines Staatsstreichs ein westdeutscher Separatstaat entstanden. Diesen Vorwurf erhebt Walter Ulbricht gleichzeitig mit der Feststellung, die wirksame Sicherung der Grenze, also einschließlich des Baus der Mauer, habe die endgültige staatliche Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik gebracht.

    (Abg. Stücklen: Gefängnisse haben die gebaut!)

    Es ist verständlich, daß der politische Gegensatz zwischen West und Ost seine besondere Zuspitzung erfährt, wenn er innerhalb eines Volkes ausgetragen wird. Wir wollen uns aber nicht durch Schuldvorwürfe beeindrucken lassen und von der Notwendigkeit ablenken lassen, normale Beziehungen zwischen den zwei Staaten in Deutschland zu schaffen. Normal sind solche Beziehungen aber nur, wenn sie der Existenz der deutschen Nation, von der letztlich auch die DDR in ihrer Verfassung vom 9. April 1968 ausgeht, Rechnung tragen.
    Das ist es, was wir wollen. Wer könnte dabei auch hier bei uns die Stirn haben, zu behaupten, wir suchten die Konturen verschwimmen zu lassen zwischen dem, was dort entstanden ist, und dem, was wir hier verwirklichen wollen. In dieser Bundesregierung, meine sehr geschätzten Damen und Herren, sitzen Männer, die in der Zeit vor 1945 und danach im Kampf um Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Demokratie so viel Bitteres und Schweres erlitten haben,

    (Abg. Dr. Barzel: Die sitzen doch nicht nur dort, die sitzen doch auf allen Bänken!)

    daß sie nicht in den Verdacht geraten können, diese errungenen Positionen, auch nur im entferntesten leichtfertig in Gefahr zu bringen. Wir wissen, um was es geht. Wir wollen mehr Freiheit für die Menschen, und wir wollen mehr soziale Gerechtigkeit für die Menschen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Stücklen: Wir auch!)