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    Deutscher Bundestag 93. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 28. Januar 1971 Inhalt: Eintritt des Abg. Dr. Farthmann in den Bundestag 5043 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . 5043 A Begrüßung einer Delegation des Parlaments der Volksrepublik Polen 5051 A Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1971 (Drucksache V1/1690) in Verbindung mit Große Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung (Drucksachen VI/ 1638, V1/1728) und mit Aussprache über den Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1971 Brandt, Bundeskanzler . 5043 B, 5058 B Dr. Barzel (CDU/CSU) 5051 B Dr. Apel (SPD) 5059 B Mischnick (FDP) 5064 B Dr. Gradl (CDU/CSU) . . . . . 5071 C Wienand (SPD) 5076 A Borm (FDP) . . . . . . . . 5083 A Schmidt, Bundesminister . . . . 5090 A Dr. Freiherr von Weizsäcker (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5100 A Dr. Haack (SPD) . . . . . . . . 5104 C Franke, Bundesminister . . . . . 5108 B Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU) . . 5113 C Dr. Bußmann (SPD) . . . . . . . 5118 A Amrehn (CDU/CSU) . . . . . . 5119 D Moersch (FDP) . . . . . . . . 5122 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . 5124 C Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 5125 A Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Januar 1971 5043 93. Sitzung Bonn, den 28. Januar 1971 Stenographischer Bericht Beginn: 10.00 Uhr
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    Berichtigung: 90. Sitzung, Seite 4932 C, letzte Zeile: Zwischen den Wörtern „Haushaltsausschuß" und „gemäß" ist einzufügen: „mitberatend und" Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Adams ** 28. 1. Dr. Ahrens * 29. 1. Alber * 29. 1. Dr. Arndt (Berlin) 1. 2. Dr. Artzinger ** 29. 1. Bals * 29. 1. Bauer (Würzburg) * 29. 1. Berberich 28. 1. Dr. von Bismarck 28. 1. Blumenfeld 29. 1. Dr. Burgbacher ** 29. 1. Bühling 28. 2. Dasch 5.4. van Delden 29. 1. Dichgans 29. 1. Frau Dr. Diemer-Nicolaus * 29. 1. Dr. Dittrich ** 29. 1. Dr. Dollinger 23. 2. Draeger *** 29. 1. Flämig ** 29. 1. Fritsch * 29. 1. Dr. Furler * 29. 1. Gewandt 29. 1. Dr. Götz 13. 2. Grüner 29. 1. Dr. Hallstein 29. 1. Frau Herklotz 29. 1. Dr. Hermesdorf (Schleiden) * 29. 1. Hösl * 29. 1. Dr. Jahn (Braunschweig) ** 28. 1. Dr. Jungmann 15. 2. Dr. Kempfler 29. 1. Frau Klee * 29. 1. Klinker 29. 1. Dr. Koch ** 29. 1. Kriedemann ** 29. 1. Freiherr von Kühlmann-Stumm 29. 1. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Lange ** 29. 1. Lautenschlager ** 29. 1. Lemmrich * 29. 1. Lenze (Attendorn) * 29. 1. Lücker (München) ** 28. 1. Dr. Martin 29. 1. Memmel ** 29. 1. Müller (Aachen-Land) ** 28. 1. Dr. Müller (München) * 29. 1. Pöhler * 29. 1. Dr. Prassler 29. 1. Rasner 12. 2. Riedel (Frankfurt) ** 29. 1. Richarts * 29. 1. Richter *** 29. 1. Dr. Rinderspacher *** 29. 1. Roser 29. 1. Schmidt (Würgendorf) * 29. 1. Dr. Schmücker * 29. 1. Frau Schröder (Detmold) 29. 1. Dr. Schulz (Berlin) * 29. 1. Saxowski 2. 2. Sieglerschmidt * 29. 1. Springorum ** 29. 1. Steiner 29. 1. Strauß 29. 1. v. Thadden 6. 2. Frau Dr. Walz *** 29. 1. Dr. Warnke 29. 1. Weber (Heidelberg) 29. 1. Wienand * 29. 1. Dr. Wörner 29. 1. * Für die Teilnahme an Sitzungen der Beratenden Versammlung des Europarates ** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments *** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen der Versammlung der Westeuropäischen Union
Rede von Kai-Uwe von Hassel
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Die .Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich bekannt: Für den verstorbenen Abgeordneten Dr. Hein ist am 26. Januar 1971 der Abgeordnete Dr. Farthmann in den Bundestag eingetreten. Ich begrüße ihn sehr herzlich und wünsche ihm eine erfolgreiche Mitarbeit im Deutschen Bundestag.

(Beifall)

Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister des Innern hat am 21. Januar 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Jungmann, Rommerskirchen, Berger und der Fraktion der CDU/CSU betr. Glaubwürdigkeit des Konzepts der zivilen Verteidigung — Drucksache VI/1631 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1759 verteilt.
Der Bundesminister der Finanzen hat am 26. Januar 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Leicht, Dr. Pohle, Dr. Althammer, Dr. Schmidt (Wuppertal) und der Fraktion der CDU/ CSU betr. Haushaltsrisiken 1970/71 — Drucksache VI11669 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/1766 verteilt.
Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf:
a) Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1971
— Drucksache VI/1690 —
b) Große Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung
— Drucksachen VI/ 1638, VI/ 1728 —Aussprache über den Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1971
— Drucksache VI/1690 —
ich erteile das Wort dem Herrn Bundeskanzler.

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    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Bundesregierung erstattet hier heute zum zweitenmal Bericht über die Lage im geteilten Deutschland. Gleichzeitig liegt dem Hohen Hause die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Fraktionen der SPD und FDP zur Außenpolitik vor.
    Wie ich es hier vor Jahresfrist zugesagt habe, sind in Verbindung mit dem Bericht zur Lage der Nation dem Hohen Hause außerdem Materialien zugeleitet worden, die es erleichtern mögen, die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR in einigen wichtigen Lebensbereichen zu vergleichen.
    Meine Damen und Herren, in unserer Antwort auf die Große Anfrage, zu der sich die Regierung im Verlauf der bevorstehenden Debatte noch ausführlicher äußern wird, sind die politischen Bestrebungen und Bedingungen dargelegt worden, die sich aus der Lage der Bundesrepublik Deutschland ergeben und die von außen auf unser Land einwirken. Selbstverständlich kann die Lage in Deutschland nicht unabhängig von den Bewegungen beurteilt werden, die in der Welt und insbesondere in Europa wirksam sind. Es ist also angebracht, die kennzeichnenden Ereignisse des Jahres 1970 deutlich zu machen, die für uns gültigen Prinzipien noch einmal zu unterstreichen und dabei nicht zuletzt auch die Einstellung unserer Verbündeten darzulegen.
    In der Antwort auf die Große Anfrage ist dargelegt worden, daß unsere Ostpolitik durch unsere Verbündeten eine einhellige Unterstützung gefunden hat. Wir fühlen uns um so mehr ermutigt, auf dem als notwendig erkannten Weg fortzufahren, als die Bestätigung durch die führenden Repräsentanten der mit uns verbündeten Mächte nicht nur in der Vertraulichkeit von sogenannten Vier-Augen-Gesprächen ausgesprochen wurde. Auch in den Konferenzen der westeuropäischen Gemeinschaften und des atlantischen Bündnisses ist unsere Politik nachdrücklich unterstützt worden. Die dazu veröffentlichten Kommuniqués darf ich als bekannt unterstellen.
    Sie wissen, meine Damen und Herren, daß ich Anfang dieser Woche gemeinsam mit dem Außenminister und anderen Kabinettskollegen in Paris war. Wir haben uns dort erneut davon überzeugen können, mit welch freundschaftlichem Verständnis unsere Bestrebungen begleitet werden. „Frankreich unterstützt Sie vorbehaltlos", sagte Präsident Pompidou in einer Rede, die — lassen Sie mich diese noble Geste nicht verschweigen — in Deutsch vorgetragen wurde.
    Gerade bei diesen jüngsten Gesprächen in Frankreich ist deutlich geworden, wie sehr unsere West-und unsere Ostpolitik einander bedingen, wie sehr



    Bundeskanzler Brandt
    sie zusammengehören. Mit anderen Worten: die westeuropäische Zusammenarbeit und Einigung — die wir aktiv fördern, wie alle wissen — hindert uns nicht, bessere Beziehungen zum Osten zu ententwickeln, sondern ist eine Grundlage dieses unserer Überzeugung nach notwendigen Bemühens.
    Mit großem Interesse und viel Verständnis verfolgen auch zahlreiche Regierungen, maßgebende Persönlichkeiten und die Presse des neutralen Auslandes und in weiten Teilen der Dritten Welt unsere auf Abbau der Spannungen und auf die Organisation des Friedens gerichtete Politik. Viele wissen, daß Europa in der weltweiten Zusammenarbeit mehr leisten kann als bisher, wenn diese Bemühungen zum Erfolg führen. Man bestreitet heute auch in der östlichen Welt kaum noch, daß deutsche Politik dem Frieden gilt. Und man weiß, daß wir bei unseren Bemühungen um Verständigung niemand ausnehmen, auch nicht die DDR.
    Aus dieser Sicht ist es nur folgerichtig, daß wir bei der Unterzeichnung des Vertrags in Moskau am 12. August vergangenen Jahres unsere Übereinstimmung mit der Sowjetunion erklären konnten, daß alle Abkommen, die wir mit den Partnern des Warschauer Paktes abschließen wollen, politisch ein einheitliches Ganzes bilden. Niemand wird von wirksamer Entspannung in der Mitte Europas sprechen können, solange nicht alle diese Elemente vorhanden sind.
    Darüber hinaus möchte ich hier festhalten: diese Verträge — nach dem jetzigen Stand konkret: der mit der Sowjetunion und der mit der Volksrepublik Polen — widersprechen in keinem Punkt unserer Stellung als Glied der Europäischen Gemeinschaft und als Verbündeter in der NATO. In West und Ost, in Nord und Süd gibt es weder besondere deutsche Interessen noch spezielle deutsche Vorbehalte, die unsere Entscheidung für eine Politik des Ausgleichs schmälern oder beeinträchtigen könnten.
    Dabei haben wir in Moskau klargemacht, daß kein Vertrag uns hindern kann noch darf, auf einen Zustand des Friedens hinzuwirken, in dem unser Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Dies entspricht dem Auftrag unserer Verfassung ebenso wie unserer Überzeugung. Niemand wird jedoch glauben, eine Wunschvorstellung sei schon dadurch nahe, daß man sie zu Papier gebracht hat.
    Auch im Verhältnis zu Polen haben wir das deutsche Interesse im weitesten Sinne im Auge, wenn wir das Unsere tun, damit der deutsche Name nicht mehr als Symbol von Unrecht und Grauen benutzt werden kann, sondern als Zeichen der Hoffnung auf Aussöhnung und friedliche Zusammenarbeit gilt. Daß diese Hoffnung nicht vergeblich ist, dürfte sich auch an der Zahl der Deutschen zeigen, die in den kommenden Monaten in die Bundesrepublik kommen werden.
    Für das Verhältnis zur DDR gilt: wie es nach den Grundsätzen der Vereinten Nationen im Verhältnis zwischen den Staaten vorgesehen ist, muß auch in diesem Fall im Vordergrund aller Anstrengungen die friedliche Regelung der Beziehungen auf der
    Grundlage der Menschenrechte, der Gleichberechtigung, des friedlichen Zusammenlebens und der Nichtdiskriminierung stehen.
    Meine Damen und Herren, die Begegnungen von Erfurt und Kassel im vergangenen Jahr waren für das Nebeneinander der beiden staatlichen Ordnungen auf deutschem Boden wichtig, auch wenn sie nur ein Beginn des Gesprächs waren. Ende Oktober haben wir folgerichtig die Absprache mit der Regierung der DDR getroffen, auf offiziellem Wege einen Meinungsaustausch über Fragen zu führen, deren Regelung der Entspannung im Zentrum Europas dienen würde und die für beide Staaten von Interesse sind.
    Zu alledem stehen wir. Hier ist eine Basis, die an keine Voraussetzungen gebunden ist und auf der man 1971 arbeiten kann. Es lag nicht an uns, wenn die auf Grund dieser Vereinbarung geführten ersten Gespräche zwischen den Staatssekretären nur zögerlich in Gang kamen. Am Dienstag dieser Woche fand die vierte dieser Begegnungen statt, und viele weitere werden wohl folgen, ehe man von positiven Ergebnissen wird sprechen können, die wir wünschen. Ich betrachte es immerhin als Fortschritt, daß diese Besprechungen den quasi sensationellen Anstrich verlieren, den sie zuerst gehabt haben.
    Die 20 Punkte, die ich in Kassel am 21. Mai 1970 dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Herrn Stoph, übermittelte, bleiben die Richtschnur für unsere Vorstellungen darüber, wie gleichberechtigte Beziehungen sachlich geregelt werden können. Die DDR hat Verkehrsfragen in den Vordergrund gerückt. Das ist interessant, und wir sind bereit, über alle auf diesem Gebiet anstehenden Fragen, über einen umfassenden Vertrag oder einander ergänzende Abkommen zu sprechen. Sofern die Fragen des Berlin-Verkehrs betroffen sind, werden wir allerdings - wie bisher — Grundsatzvereinbarungen der Vier Mächte nicht vorgreifen.
    Dieser Überblick über die Entwicklung seit meinem Bericht vor einem Jahr macht deutlich, wie sehr die Regelung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Gesamtzusammenhang gesehen werden muß. Eine isolierte Lösung der unser Volk bewegenden Fragen ist ebensowenig möglich wie etwa der Versuch, allein den Frieden sichern zu wollen. Die Geschichte hat uns gelehrt, zur Entfachung von Krisen genügt einer, aber zur Erhaltung des Friedens sind alle notwendig.
    Was sonst zwischen den Staaten in Europa möglich ist, müßte auch zwischen den beiden Staaten in Deutschland möglich sein. Die nun schon über zwei Jahrzehnte andauernde künstliche Abschnürung hat keine Stabilität und Ruhe gebracht. Im Gegenteil, sie hat Spannungen und Krisen heraufbeschworen, die es im Interesse Europas und Deutschlands zu überwinden gilt.
    Niemand kann wissen, ob es nicht - sogar gegenüber der heutigen, für unser Volk durchaus unbefriedigenden Lage — noch wieder Rückschläge geben wird. Wir beeinflussen das Geschehen um uns herum, aber es wirkt noch stärker auf uns ein. Trotz-



    Bundeskanzler Brandt
    dem sollten wir uns nicht von dem Versuch abbringen lassen, ein Konfrontationsdenken abzubauen, das vor allem noch von der Führung der SED gepflegt wird und letzten Endes auf Kosten der Menschen geht. Diese Menschen fordern mit Recht, zumindest das heute Regelbare auch tatsächlich anzupacken.
    Dabei gehen wir aus von dem, was ist. Wir stellen keine Vorbedingungen und errichten keine unüberwindbaren Hindernisse. Es geht ganz einfach um die selbstverständliche Tatsache, daß die Entspannung in Europa nicht ein Gebiet mitten in Europa aussparen kann: die Bundesrepublik und Berlin nicht, auch nicht die DDR.
    Das Jahr 1970 hat die deutschen Fragen auf zum Teil neue Art, aber jedenfalls wieder stärker auf die Tagesordnung der europäischen und internatiolen Politik gebracht. Was in Gang gebracht wurde, gilt es nun konsequent und geduldig fortzuführen.
    Etwa in diesem Rahmen, meine Damen und Herren, müssen wir die heutige Lage der Nation betrachten.
    Zum besseren Verständnis der inneren Situation in den beiden Staaten, die das Deutschland von 1970/71 ausmachen, hat die Bundesregierung in den Materialien, die Bundestag und Bundesrat zugeleitet wurden, den Versuch einer vergleichenden Darstellung der Entwicklung hüben und drüben vorgelegt. Diese Materialien sind das Arbeitsergebnis einer Gruppe von Wissenschaftlern, die unter der Leitung von Professor Dr. Peter Christian Ludz stand. Sie hat unabhängig und selbständig nach wissenschaftlichen Methoden gearbeitet, unbeschadet laufender Konsultationen mit den jeweils zuständigen Stellen der Bundesregierung.
    Die Wissenschaftlergruppe hat ihre Arbeit auf solche Lebensbereiche konzentriert, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen, die sich aber auch für einen fundierten empirischen Vergleich nach dem Stand der Forschung und Statistik überhaupt eignen. Die nach diesen Maßstäben ausgewählten Bereiche, die von der Bevölkerungs- und Erwerbsstruktur über die verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Bereiche bis zur Situation der Jugend reichen, stehen in engem Zusammenhang mit drei Fragen, die für den Wettbewerb der in den beiden Teilen Deutschlands bestehenden Ordnungen wichtig sind, nämlich mit dem Selbstverständnis als industrielle Leistungsgesellschaft, mit Wachstum und Modernisierung des jeweiligen Systems und mit der zunehmenden Bedeutung von Wissenschaft und Forschung, fachlicher und wissenschaftlicher Ausbildung.
    Hier sind einige Faktoren ermittelt worden, die für die Menschen im geteilten Deutschland von erheblicher Bedeutung sind oder werden können. Dabei muß allerdings in aller Klarheit und mit Nachdruck gesagt werden, Vergleich bedeutet natürlich nicht Gleichstellung, und nüchterne Wiedergabe von Daten bedeutet nicht Billigung der politischideologischen und gesellschaftlichen Zustände im anderen Teil Deutschlands. Gleichwohl sollten derartige Untersuchungen fortgesetzt und vertieft werden; ihr Gewicht liegt nicht so sehr in der Darstellung als solcher als in dem Nutzen und den Folgerungen, die die politisch Verantwortlichen daraus ziehen. Wo es um die Lage der Nation geht, soll also mit dem Beitrag der Wissenschaft das politische Urteil erleichtert und die politische Diskussion versachlicht werden. Ich hoffe jedenfalls, daß die „Materialien" nicht nur in der Debatte dieses Hohen Hauses, sondern auch draußen in der Öffentlichkeit, in Wissenschaft, Politik und Bildungsarbeit Beachtung finden und daß die künftigen Arbeiten durch Kritik und Vorschläge gefördert werden.
    Den Mitgliedern der wissenschaftlichen Kommission möchte ich von dieser Stelle aus die gebührende Anerkennung aussprechen. Mein Dank gilt im besonderen auch dem federführenden Bundesminister Egon Franke, der die Initiative zur Bildung der Kommission ergriffen und die Durchführung ihrer Arbeiten gefördert hat.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Meine Damen und Herren, bei Betrachtung der Lage unseres geteilten Volkes, wie sie in den „Materialien" deutlich zum Ausdruck kommt, darf man nicht dem Irrtum verfallen, die heutigen Probleme der Deutschen seien allein die Folge des Entstehens zweier deutscher Staaten im Jahre 1949. Die Ursprünge liegen, wie wir wissen, weiter zurück. Dazu möchte ich an das erinnern dürfen, was ich in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 sagte:
    Diese Regierung geht davon aus, daß die Fragen, die sich für das deutsche Volk aus dem zweiten Weltkrieg und aus dem nationalen Verrat durch das Hitler-Regime ergeben haben, abschließend nur in einer europäischen Friedensordnung beantwortet werden können. Niemand kann uns jedoch ausreden, daß, die Deutschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben wie alle anderen Völker auch. Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird.
    Und in dem Bericht zur Lage Nation vor einem Jahr, am 14. Januar 1970, fügte ich hinzu:
    25 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Hitler-Reiches bildet der Begriff der Nation das Band um das gespaltene Deutschland ... Die Nation gründet sich auf das fortdauernde Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen eines Volkes. Niemand kann leugnen, daß es in diesem Sinn eine deutsche Nation gibt und geben wird, soweit wir vorauszudenken vermögen.
    Diese Feststellungen bildeten die Grundlage meiner Erklärungen in Erfurt und Kassel, aber auch die Grundlage der Gespräche, die der Außenminister und ich und unsere Mitarbeiter in Moskau und Warschau geführt haben. Für uns konnte und kann es nicht in Frage kommen, aus taktischen, um nicht zu sagen opportunistischen, Gründen Teile der geschichtlichen Entwicklung auszusparen.



    Bundeskanzler Brandt
    Für uns kommt es auch nicht in Frage, den Begriff Nation scheinbar zeitgebundenen, kurzfristigen Notwendigkeiten anzupassen. Ich zögere nicht, in dieser Frage einen Mann zu zitieren, der am 30. November 1970 unter anderem erklärte:
    Wir sind Patrioten und Internationalisten zugleich. Denn, ob man es wahrhaben will oder nicht, die Nation ist eine Wirklichkeit, die in absehbarer Zeit nicht verschwinden wird. Damit es fruchtbare internationale Beziehungen zwischen den Staaten gibt, müssen die Nationen unter sich Beziehungen der Zusammenarbeit, der Verständigung und der Freundschaft entwickeln. Das bedeutet, daß wir entschlossene Gegner dessen sind, was man den nationalen Nihilismus nennen kann.
    Soweit das Zitat. Es stammt vom Vorsitzenden der Fraktion der Kommunistischen Partei Frankreichs im dortigen Senat, Jacques Duclos, einem Mann, den ich den Verantwortlichen der SED gewiß nicht vorzustellen brauche. Er stützt sich in seiner Erklärung des Begriffs „Nation" übrigens auch auf kommunistische Klassiker. Und bei ihm findet sich kein Wort davon, daß nur bestimmte Kreise der Bevölkerung die Nation bilden und andere, die „klassenpolitische Gegner" sind oder solche genannt werden, davon ausgeschlossen wären.
    Es ist der SED-Führung vorbehalten geblieben, die „bürgerliche Nation" von einer „sozialistischen Nation" zu unterscheiden, wobei bemerkenswerterweise davon gesprochen wird, daß in der Bundesrepublik „Reste der alten bürgerlichen deutschen Nation" erhalten geblieben seien. Um die Dinge noch komplizierter zu machen, spricht man in der DDR seit Anfang 1970 sowohl vom „sozialistischen Staat deutscher Nation" wie vom „sozialistischen deutschen Nationalstaat", wodurch der Fortbestand der einen deutschen Nation gleichermaßen bestätigt und abgestritten wird.
    Diese Feststellungen und Hinweise zeigen, wie schwierig Gespräche sind, wenn der Partner zwei Dinge zu gleicher Zeit haben und sein will. Denn wenn auch die DDR immer wieder unter Berufung auf den „sozialistischen deutschen Nationalstaat" erklärt, daß es keine „besonderen Beziehungen" zwischen den beiden deutschen Staaten geben könne, so nimmt die gleiche Führung für sich das Recht in Anspruch, „eine offensive Politik" — wie man es dort nennt — „der friedlichen Koexistenz gegenüber der BRD" zu führen. Mit keinem Staat der Welt beschäftigt sich die DDR so ausführlich und so aktiv wie mit unserer Bundesrepublik. Und nun frage ich: Ist dies nicht die von der Führung der DDR sonst so gerne angeprangerte Einmischung in die inneren Verhältnisse eines anderen Staates? Und geht das nicht oft bis zur Aufforderung an unsere Bürger, sich gegen die innere Ordnung ihres Staates aufzulehnen?
    Ich sage das nicht nur im Sinne der notwendigen Abgrenzung. Ich möchte auch deutlich machen, daß eine solche Haltung, wenngleich negativ, das besondere Interesse an dem in der Bundesrepublik lebenden Teil des deutschen Volkes zeigt. Hier geht es, um es deutlich zu sagen, um ein Interesse besonderer Art, um die ungewollte Dokumentation der „besonderen Beziehungen", die sonst abgestritten werden. Aber das besondere Interesse wird so geltend gemacht, daß dadurch die Kluft zwischen den beiden Teilen Deutschlands tiefer wird als zwischen anderen Staaten unterschiedlicher ideologischer und gesellschaftspolitischer Struktur. Die gemeinsame nationale Basis führt die Führung in Ost-Berlin nicht zur Abschwächung, sondern zur Überspitzung des OstWest-Gegensatzes.
    Von der anderen Seite werden so oft die politischen Realitäten beschworen. Deshalb sei an dieser Stelle in aller Eindringlichkeit festgestellt: Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit sind für uns keine formalen Begriffe.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Sie sind Aufträge unserer Verfassung, des Grundgesetzes, und bilden die unveräußerliche Grundlage unserer staatlichen und gesellschaftlichen Existenz. Wir stellen uns gern jedem Wettbewerb, bei dem es um mehr persönliche Freiheit und um mehr soziale Gerechtigkeit geht.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Aber in einem Punkt sind wir mit Herrn Ulbricht, dem Staatsratsvorsitzenden und Ersten Sekretär, einig, wenn er von Abgrenzung spricht: Es kann weder ideologisch noch gesellschaftlich eine Vermischung der Gegensätze, noch kann es eine Verniedlichung der Meinungsunterschiede geben; das gilt — leider — gerade für die beiden Staaten in Deutschland, die so verschiedenen Systemen angehören. Aber auch diese beiden Staaten müßten ein friedliches Nebeneinander erreichen können, bei dem keiner den anderen bevormundet, sondern beide untereinander und nach außen ein Beispiel geben, daß friedliche Zusammenarbeit auch zwischen so unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen möglich ist.
    Nation ist eine Frage von Bewußtsein und Willen. Die Polemik in Ost-Berlin gegen die Nation bestätigt die Existenz von Bewußtsein und Willen, die auch drüben weithin erhalten geblieben sind. Die verschiedenen Auffassungen zu diesem Thema brauchen die Bemühungen um ein geregeltes, sachliches Nebeneinander der beiden deutschen Staaten nicht zu stören. Allerdings müssen beide Seiten respektieren, daß die Vier Mächte Kompetenzen für Deutschland als Ganzes und Berlin haben und behalten werden. Diese Situation ist kein Hindernis für die Absicht der Bundesregierung, Abkommen mit der DDR jene klare Verbindlichkeit zu geben, die auch sonst zwischen Staaten üblich und erforderlich ist.
    Die Regierung in Ost-Berlin hat es für richtig gehalten, unsere Bemühungen um ein friedliches Nebeneinander und um die Regelung sachlicher Fragen anzuzweifeln oder gar zu diffamieren. Die Bundesregierung wird sich dadurch nicht beirren lassen; sie bleibt dabei, daß die internationalen Beziehungen der DDR dann auf weniger Hindernisse stoßen, wenn sich in bezug auf die Lage in Deutschland selbst die erforderlichen Regelungen erzielen lassen werden.



    Bundeskanzler Brandt
    Es geht uns um Erleichterungen, um Verbesserungen für die Menschen in beiden deutschen Staaten im Verhältnis zueinander, und es geht außerdem um die gemeinsame Verantwortung der Deutschen für den Frieden in Europa und in der Welt. Das ist kein Ausspruch mit erhobenem Zeigefinger, sondern ein ehrlicher, notwendiger Hinweis zum Thema der nationalen Verantwortung.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei keinem anderen Thema wird die Problematik der Lage unserer Nation gegenwärtig so deutlich wie bei Berlin. Doppelte Spaltung, deutsche Kompetenzen und Zuständigkeiten, teils der Vier, teils der Drei Mächte bilden die komplizierten Faktoren der wirklichen Lage.
    Wenn von der Entspannung in der Mitte Europas die Rede ist, so ist die Entspannung der Lage in und um Berlin der Sache nach davon überhaupt nicht zu trennen. Die Haltung der Bundesregierung dazu war immer klar. Sie ist am 7. Juni vergangenen Jahres im Hinblick auf die Verhandlungen mit der Sowjetunion auch öffentlich so formuliert worden:
    Es wird davon ausgegangen, daß die Viermächteverhandlungen dazu führen, die enge Verbindung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin sowie den ungehinderten Zugang nach West-Berlin zu sichern. Ohne eine solche Sicherung wird ein Gewaltverzichtsvertrag nicht in Kraft gesetzt werden können.
    Soweit das Zitat aus dem Beschluß der Bundesregierung vom 7. Juni vergangenen Jahres.
    Wenn ich das hier in Erinnerung rufe, so um hinzuzufügen: Die Bundesregierung bleibt bei ihrem Standpunkt. Sie wird den sachlichen Zusammenhang, auf den sie die Beteiligten immer wieder hingewiesen hat, nicht auflösen.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Es ist daran zu erinnern, daß die Berlin-Gespräche, die sich inzwischen zu Verhandlungen verdichtet haben, auf westliche Initiative hin im Sommer 1969 begonnen haben. Den Anstoß dazu hatte eine Äußerung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika bei seinem Besuch in Berlin Anfang 1969 gegeben. Er sagte damals vor der Belegschaft der Siemens-Werke — ich darf zitieren —:
    Wenn wir sagen, wir lehnen jede einseitige Änderung des Status quo in Berlin ab, so heißt das nicht, daß wir den Status quo als zufriedenstellend ansehen ... Lassen Sie uns, uns alle, die Situation in Berlin als einen Appell zum Handeln betrachten, als eine Aufforderung zur Beendigung der Spannungen einer vergangenen Zeit, hier und überall auf der Welt. Unsere gemeinsame Haltung läßt sich am besten durch ein Goethe-Zitat ausdrücken: Ohne Hast, doch ohne Rast.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Ohne Hast!)

    Schritt für Schritt werden wir uns gemeinsam bemühen, einen dauerhaften Frieden zu schaffen.
    — Das war, wie gesagt — für denjenigen, der das mit der „Hast" für besonders wichtig hält —, nicht gestern, sondern im Februar 1969, und jetzt schreiben wir Januar 1971.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.) Präsident Nixon fuhr damals fort:

    Es gab in der Vergangenheit Zeiten, in denen Berlin sich gegen mächtige Kräfte, die es zu überwältigen drohten, behaupten mußte. Ihre Entschlossenheit
    — das war an die Adresse der Berliner gerichtet —
    in jenen Zeiten der Gefahr hat über jeden Zweifel bewiesen, daß Drohung und Zwang niemals erfolgreich sein können. Durch Ihre Stärke haben Sie Bedingungen geschaffen, die zu gelegener Zeit eine andere Art Entschlossenheit zulassen könnten — eine Entschlossenheit, daß wir durch Verhandlungen von Regierungen miteinander und Versöhnung unter den Menschen der Teilung dieser Stadt, dieser Nation, dieses Kontinents und dieses Planeten ein Ende bereiten werden.
    Nun wird — ich sagte es schon — seit geraumer Zeit darüber verhandelt, ob und wie unbeschadet einiger nicht zu vereinbarender grundsätzlicher Positionen eine befriedigende Berlin-Regelung erzielt werden kann. Dabei war und ist es eine Selbstverständlichkeit für die Bundesregierung, daß sie sich über die einzunehmenden Positionen in engster Verbindung mit den drei Westmächten hält. Ich kann hier feststellen, daß die Zusammenarbeit der vier westlichen Regierungen im Laufe der letzten Monate gerade auf diesem Gebiet eine Intensität gewonnen hat, wie es sie bis dahin kaum jemals gegeben hat. Es besteht vollständige Übereinstimmung über die Kriterien und die Inhalte, die eine Berlin-Regelung haben muß, wenn sie in unserem Sinne und dem der Westmächte befriedigend sein soll.
    Dazu gehören einige Erfordernisse, die sich mir noch in meinen Jahren als Regierender Bürgermeister von Berlin stark eingeprägt haben. Ich sage hier ganz offen, meine Damen und Herren, ich hätte mir seinerzeit eine gemeinsame politische Anstrengung aller Beteiligten gewünscht, durch die Berlin — im Sinne unseres Grundgesetzes — zum Land der Bundesrepublik Deutschland geworden wäre, und ich bin auch hier dafür eingetreten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Die Entwicklung ist anders verlaufen, aber nicht so, daß West-Berlin zur sogenannten „selbständigen politischen Einheit" werden könnte. Worauf es heute ankommt, sind die gewachsenen Bindungen, ist die enge Zusammengehörigkeit. Und wenn ich dies sage, gibt es mir die willkommene Gelegenheit, auf die gute Zusammenarbeit und das volle Einvernehmen mit dem Senat von Berlin hinzuweisen; er nimmt konstruktiv an allen erforderlichen Überlegungen teil.
    An dieser Stelle möchte ich den drei Westmächten und ihren Regierungschefs danken für ihr Verständ-



    Bundeskanzler Brandt
    nis, das sich im Grundsätzlichen wie auch in der täglichen praktischen Arbeit ausdrückt,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    vor allem aber dafür, daß sie das überragende vitale Interesse der Bundesrepublik für West-Berlin anerkennen. Dies ist ja auch vertraglich fixiert, aber es ist entscheidend, daß sich daraus eine praktische Abstimmung der Interessen ergeben hat.
    Außerdem kann ich feststellen, daß die Erwartung der Bundesregierung eingetroffen ist, wonach der Moskauer Vertrag die Berlin-Verhandlungen fördern und intensivieren werde.

    (Abg. Reddemann: Mit beiden Beinen fest in der Luft!)

    — Fragen Sie mal Herrn Kollegen Schröder, ob es heute leichter oder schwerer ist, unter Berufung auf vitale deutsche Interessen mit der Sowjetunion über Berlin zu sprechen oder nicht.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Wir haben natürlich weiterhin keinen eigentlichen Rechtstitel gegenüber den Vier Mächten, aber auch auf sowjetischer Seite wird unser vitales Interesse an einer befriedigenden Berlin-Regelung nicht mehr bestritten. Mehr sage ich nicht, aber das sage ich, weil es zur Bestandsaufnahme dieses Januar 1971 dazugehört.
    Die Vier Mächte haben für die Berlin-Verhandlungen besondere Vertraulichkeit vereinbart. Die Bundesregierung, die diese Verhandlungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv fördert, hat sich dem angeschlossen. Sie muß sich dadurch in der öffentlichen Auseinandersetzung Zurückhaltung auferlegen, obwohl sie viel Verständnis dafür hat, daß unsere Öffentlichkeit diese Verhandlungen mit besonders lebhaftem Interesse verfolgt.
    In einer Solchen Situation — das weiß ich — sind Mißverständnisse zuweilen unvermeidbar. Dennoch ist es im großen und ganzen gelungen, zwischen Regierung, Koalitionsparteien und Opposition eine weithin übereinstimmende Beurteilung in der Berlin-Frage sicherzustellen. Es wäre gut, wenn wir dies im gemeinsamen Interesse und zugunsten Berlins beibehalten könnten.

    (Abg. Dr. Stoltenberg: Sehr wahr! — Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Die Bundesregierung ist sich mit den in Berlin engagierten Mächten darin einig, daß es für die außerordentlich komplizierten Verhandlungen, in denen schließlich die Ergebnisse einer mehr als 20jährigen Entwicklung berücksichtigt werden müssen, keinen Zeitdruck geben darf. Gleichzeitig sollte aber zügig gearbeitet werden, so daß diese Verhandlungen, wenn ihr Stand es als sinnvoll erscheinen läßt, auch eine weitere Intensität, also einen konferenzähnlichen Charakter, annehmen könnten.
    Ich enthalte mich jeder zeitlichen Prognose. Aber ich will noch einmal versuchen, das Ziel zu umreißen. Die Berlin-Regelung muß der Wirklichkeit Rechnung tragen, wie sie ist, d. h., sie muß WestBerlin durch zeitlich nicht begrenzte Vereinbarungen zwischen Ost und West nach menschlichem Ermessen störungsfrei machen und dadurch eine ruhige Entwicklung der Stadt für die Zukunft eröffnen. Berlin, das Symbol der Auseinandersetzungen des kalten Krieges, muß zu einem Symbol des respektierten Nebeneinander und des Miteinander im Zentrum eines friedlich zusammenarbeitenden Europas werden.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Die Bundesregierung — und ich bin überzeugt, dieses ganze Haus — verurteilt aufs schärfste die Schwierigkeiten und Behinderungen auf den Straßen nach Berlin.

    (Allgemeiner Beifall.)

    Dies ist ein untauglicher Versuch, faktische Kompetenzen zu demonstrieren und damit Druck ausüben zu wollen. Störungen auf den Zugangswegen sind Störungen der Verhandlungen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Es ist offensichtlich, daß die Regierung der DDR immer wieder neue Vorwände benutzt und damit die Situation verschärft, gerade während die Verhandlungen im Gange sind, Verhandlungen, deren Ziel es unter anderem ist, den unbehinderten Zugang zu vereinbaren. Unsere Antwort kann nach meiner Überzeugung nur politisch sein: Es wird keine Berlin-Regelung geben, die das Recht auf freie Versammlung nicht ebenso gewährleistet wie den unbehinderten Zugang.

    (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Die Bundesregierung steht — ich sagte es schon in anderem Zusammenhang — in engem Kontakt mit den Drei Mächten, die eine besondere Verantwortung für alle mit Berlin zusammenhängenden Fragen tragen.
    In diesem Rahmen bleibt es weiterhin Sache der Bundesregierung, der wirtschaftlichen Situation West-Berlins besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Auch wenn die Sicherheit der Stadt und ihrer Zufahrtswege in der Verantwortung der Drei Mächte liegt, so tragen wir doch ein hohes Maß an Mitverantwortung für die Lebensfähigkeit dieser Stadt, die hier niemand mehr am Herzen liegen kann als einem Bundeskanzler, der dort während eines Jahrzehnts wesentliche politische Verantwortung getragen hat.
    Wenn wir auf das vergangene Jahr zurückblicken, hat die Bundesregierung und haben wir hier gemeinsam, Bundesregierung und Bundestag, weitere wirksame Maßnahmen getroffen, um die Schwierigkeiten, die die Lage der Stadt mit sich bringt, soweit wie möglich zu beheben. Ich erinnere hierzu an die noch im vergangenen Jahr in Kraft getretene neue Fassung der Berlinförderungsgesetzes und an die Richtlinien zur Förderung der Arbeitsaufnahme in West-Berlin. In beiden Fällen geht es um bedeutsame neue Regelungen für Arbeitnehmer und Unternehmer. Die Bemühungen um Arbeitskräfte und um wirtschaftliches Wachstum für Berlin sind auch



    Bundeskanzler Brandt
    1970 von Erfolg gewesen. Wenn die politische Situation verbessert wird, so wird sich dies auch auf die Wirtschaft positiv auswirken. Die Sicherung der Lage Berlins wird es der Stadt ermöglichen, wenn man soweit ist, verstärkt ihren besonderen Beitrag zum wirtschaftlichen und kulturellen Austausch in Deutschland und in Europa zu leisten.
    Meine Damen und Herren! Die Spaltung Deutschlands, die uns der Krieg hinterließ, hat auch diesseits der Grenzlinie gelegene Landstriche hart getroffen: aus einem Kernland wurde ein abseits der Wirtschaftsströme liegendes Randgebiet. Historisch gewachsene, politische, kulturelle und wirtschaftliche Bindungen wurden zerrissen.
    In Übereinstimmung mit einem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 2. Juli 1953 haben die Bundesregierungen seitdem wiederholt betont, daß sie das innerdeutsche Randgebiet vorrangig fördern wollten. Diese Regierung hat dem Hohen Hause den Entwurf eines Gesetzes vorgelegt, das die bisherigen Förderungsmaßnahmen und -präferenzen für die betroffenen Gebiete absichern soll. Zudem bringt es wesentliche Verbesserungen, insbesondere auf dem Gebiet des Wohnungsbaus und der sozialen Einrichtungen. Zusätzlich sollen weitere 80 Millionen DM aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt werden, wobei sich die Planungen jetzt über die Wirtschaftsförderung hinaus auf Infrastrukturmaßnahmen konzentrieren werden.
    Meine Damen und Herren! Bei den Bemühungen, für alle Betroffenen die Folgen der Teilung Deutschlands nach bestem Vermögen erträglicher zu gestalten, denke ich auch heute besonders an die große Gruppe unserer Bevölkerung, die als Folge des Krieges vor 25 Jahren ihre alte Heimat verloren hat. Niemand sollte sich anmaßen, über jene abfällig zu urteilen, die auch heute noch über den Verlust ihrer Heimat im Osten Schmerz und Trauer empfinden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP.)

    Sie trugen eine schwerere Last als viele andere Deutsche. Und gerade ihre Vertrauensmänner waren es, die sich schon vor 20 Jahren in der Charta von Stuttgart von Haß freigehalten und den Ausgleich mit den östlichen Nachbarn gesucht haben. Jene Charta war ein Dokument der Menschlichkeit und der Vernunft, das den Blick in die Zukunft richtete und den barbarischen Methoden der Vergangenheit eine deutliche Absage erteilte. Gewisse Leute wollen heute den Vertriebenen gegenüber den Eindruck erwecken, als sei durch den von uns unterzeichneten Vertrag mit Polen eine reale Möglichkeit auf Rückkehr in die alte Heimat verlorengegangen, als seien sie gewissermaßen erst heute vertrieben, als habe jetzt ein Verzicht auf greifbare Rechte stattgefunden. Dazu möchte ich bei dieser Gelegenheit nur folgendes sagen. Wenn wir heute um des Friedens willen bereit sind, von den bestehenden Grenzen in Europa, d. h. auch in Osteuropa, auszugehen und sie zu achten, dann bedeutet dies keineswegs eine Legitimierung oder ein stillschweigendes Einverständnis mit der Vertreibung der Deutschen aus diesen Gebieten, die 1945 und 1946 stattgefunden
    hat. Den Krieg haben wir allerdings, wie wir alle wissen, nicht erst jetzt verloren, und über die Haltung der ausländischen Mächte, einschließlich unserer engsten Verbündeten, hat man sich auch längst orientieren und informieren können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir wollen — nicht zuletzt durch den Vertrag -
    Barrieren zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk abbauen, Barrieren, die sich aus einem schwierigen historischen Erbe, insbesondere aber aus dem zweiten Weltkrieg ergeben haben.
    Bei den Verlusten durch die Vertreibung ging es nicht nur um die Grundlagen materieller Existenz, es geht auch um ein Gebiet, das große Leistungen und Beiträge zum deutschen Kultur- und Geistesleben erbracht hat. Die Bundesregierung will dieses kulturelle Erbe zusätzlich pflegen helfen.
    Für die materiellen Verluste der Vertriebenen hat die Bundesrepublik gewiß keinen auch nur annähernd vollen Ersatz schaffen können. In den meisten Fällen ist dennoch die wirtschaftliche Eingliederung gelungen. Persönliche Tüchtigkeit, Geschick, nicht zuletzt auch die günstige Wirtschaftsentwicklung in unserer Bundesrepublik haben dazu beigetragen. Diejenigen unserer Mitbürger aber, die den Krieg nicht mit dem Verlust der angestammten Heimat mit all ihren unwägbaren Quellen bezahlen mußten, bitte ich um ihr Verständnis und ihre Hilfe für alle, die bei uns noch immer nicht ganz zu Hause sind.
    Nach dem Abschluß des Vertrages mit Polen werden viele Familien die Aussicht haben, ihre dort lebenden Angehörigen bei sich aufnehmen zu können. Wie Sie wissen, treffen in diesen Tagen erste kleinere Gruppen in der Bundesrepublik ein.

    (Abg. Frau Griesinger: Erste!)

    — Seit dem Zeitpunkt — das verstehen Sie doch wohl —, von dem hier die Rede ist.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    Die Umstellung auf das Leben bei uns wird manchen dieser Menschen zunächst nicht leichtfallen. Die Bundesregierung und die Regierungen der Länder werden das ihnen Mögliche tun. Es bedarf aber der Mitwirkung aller Mitbürger, um diesen Deutschen, die zu uns kommen, die Last der Eingewöhnung und des Neubeginns zu erleichtern. Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Bundesrepublik Deutschland aber, woher sie auch stammen, rufe ich auf, das Ihre dazu zu tun, daß die Versöhnung mit dem polnischen Volk dauerhafte Wirklichkeit wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Dies gilt gleichermaßen für den von uns angestrebten Ausgleich mit den Völkern der Tschechoslowakei, für die Aussöhnung und Zusammenarbeit mit dem Osten überhaupt.
    Unsere Bemühungen, das Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten und zum anderen Teil Deutschlands zu normalisieren, haben in den letzten Monaten — abgesehen von dem legitimen Meinungsstreit über Inhalt und Form; der wird ja auch



    Bundeskanzler Brandt
    hier ausgetragen werden — zu recht heftigen Aktionen kleiner Gruppen geführt, deren Lautstärke in keinem Verhältnis zu ihrer zahlenmäßigen Stärke stand und steht. Diese Gruppen, die unter der mißbrauchten, in diesem Fall makabren Parole „Widerstand" versuchen, auch einen Teil der Heimatvertriebenen für ihre Ziele zu mißbrauchen, repräsentieren nicht die Politik unseres Landes und nicht den Willen der Bevölkerung.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Es handelt sich um eine Sammlung von Resten radikaler Organisationen, die mit immer neuen Methoden versuchen, unzufriedene Mitbürger für ihre verwerflichen Zwecke einzufangen.
    Wir wissen, wie solche Aktionen auf dem Hintergrund der Geschichte bei unseren Nachbarn wirken, auch bei unseren Freunden im Westen. Die Untaten des Hitler-Regimes haben in der öffentlichen Meinung der Nachbarländer und darüber hinaus tiefe Spuren hinterlassen. Übernervöse Reaktionen in diesen Ländern mögen wir ablehnen, aber wir müssen sie deshalb doch zu verstehen versuchen, auch wenn sie nicht durch die Tatsachen gerechtfertigt sind.
    Die Bundesregierung geht davon aus, daß die ganz überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung Ziele und Methoden der erwähnten Gruppen ablehnt; gerade weil viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger noch in Erinnerung haben, wie zerstörerisch solche Kräfte wirken können. Die Wahlen der letzten Zeit haben im übrigen deutlich zum Ausdruck gebracht, daß unser Volk nicht gewillt ist, sich Extremisten und offensichtlichen politischen Abenteurern anzuvertrauen.

    (Beifall bei allen Fraktionen.)

    Wir haben uns mit Energie gegen jene zu wehren — mögen sie von der einen oder von der anderen Seite kommen —, die Gewalt oder Terror zum Mittel politischer Auseinandersetzung machen wollen.

    (Beifall bei allen Fraktionen.)

    Und nationalistische Hetze verbietet sich darüber hinaus durch unsere bitteren Erfahrungen ebenso wie nach dem Auftrag unserer freiheitlichen Verfassung.
    Meine Damen und Herren! Es ist gesagt und geschrieben worden, das erste Jahr dieses neuen Jahrzehnts sei für manche im Hinblick auf die Ereignisse in Europa gewissermaßen ein „deutsches Jahr" gewesen. Ich würde nach alter Berliner Manier sagen, ob es nicht auch eine Nummer kleiner zu haben ist. Jedenfalls vergessen wir nicht, was sich aus den Anstrengungen vieler ergibt. Wir können jedoch ohne Selbstgefälligkeit sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland bei den schwierigen Bemühungen — und sie bleiben schwierig — um einen gesicherten Frieden kein stiller Teilhaber, sondern eine treibende Kraft ist, und so soll es auch bleiben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Dies gilt in gleicher Weise für die westliche, zumal
    die westeuropäische Zusammenarbeit wie auch für
    die mühevolle Verständigung mit den östlichen Nachbarn.
    Unsere Politik leidet nicht an Gleichgewichtsstörungen.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    Die Förderung der westeuropäischen Zusammenarbeit, die Weiterentwicklung des Atlantischen Bündnisses und die Pflege bewährter Freundschaften bleiben das Fundament unserer Politik. Wir stehen mit beiden Beinen fest in der westlichen Gemeinschaft. Die enge und unauflösliche Partnerschaft mit unseren Freunden und Verbündeten ist nicht nur die Basis für unsere gemeinsamen Bemühungen um die Befriedung Europas, sie stellt auch einen großen Wert an sich dar.
    Auf der anderen Seite können und wollen wir — wie unsere Partner im Westen — uns damit nicht zufrieden geben. Die Bundesrepublik hat in dem Prozeß, der letztlich auf Entspannung in Europa abzielt, eine abgestimmte, aber eigenständige Rolle übernommen. So wichtig es ist, daß wir mit unseren westlichen Partnern Hand in Hand gehen, so klar ist es auch, daß eine Reihe von Barrieren und Hindernissen nur von uns, den Deutschen, selbst aus dem Weg geräumt werden können. Die Hinterlassenschaft des vom Deutschen Reich begonnenen und verlorenen Krieges müssen wir — wenn wir einen Neubeginn wollen — zu einem großen Teil selbst beseitigen. Die Überwindung der europäischen Spannungssituation wird auch von unserem eigenen Beitrag abhängen, zumal was die Herstellung eines tragbaren und verträglichen Verhältnisses zwischen den beiden Staaten in Deutschland angeht. Dies ist eine Aufgabe, die uns niemand abnehmen kann, sondern die wir selbst anzupacken haben.
    Zusammenfassend möchte ich feststellen, daß wir von folgenden Tatsachen und Erwartungen ausgehen:
    Erstens. Das in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegte Recht auf Selbstbestimmung muß im geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen zustehen.
    Zweitens. Die deutsche Nation bleibt auch dann eine Realität, wenn sie in unterschiedliche staatliche und gesellschaftliche Ordnungen aufgeteilt ist.
    Drittens. Die auf Bewahrung des Friedens verpflichtete Politik der Bundesrepublik Deutschland erfordert eine vertragliche Regelung der Beziehungen auch zur DDR. Die in den 20 Punkten von Kassel niedergelegten Grundsätze und Vertragselemente bleiben die für uns gültige Grundlage für Verhandlungen.
    Viertens. Der rechtliche Status von Berlin darf nicht angetastet werden. Im Rahmen der von den verantwortlichen Drei Mächten gebilligten Rechte und Aufgaben wird die Bundesrepublik Deutschland ihren Teil dazu beitragen, daß die Lebensfähigkeit West-Berlins besser als bisher gesichert wird.
    Fünftens. Ein befriedigendes Ergebnis der Viermächteverhandlungen über die Verbesserung der Lage in und um Berlin wird es der Bundesregierung



    Bundeskanzler Brandt
    ermöglichen, den am 12. August 1970 in Moskau unterzeichneten Vertrag mit der Sowjetunion den gesetzgebenden Körperschaften zur Zustimmung zuzuleiten.
    Sechstens. Im gleichen zeitlichen und politischen Zusammenhang werden die gesetzgebenden Körperschaften über den am 7. Dezember 1970 in Warschau unterzeichneten Vertrag mit der Volksrepublik Polen zu entscheiden haben.
    Ich habe mich bemüht, meine Damen und Herren, sachlich zu berichten; denn ich bin davon überzeugt: wir werden der Lage der Nation nur dann gerecht, wenn wir fähig sind, den Meinungsstreit so zu führen, daß er dem Gegenstand und unser aller Verantwortung gerecht wird.

    (Lebhafter, anhaltender Beifall bei den Regierungsparteien.)