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ID0606200600

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    Deutscher Bundestag 62. Sitzung Bonn, Freitag, den 10. Juli 1970 Inhalt: Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Tobaben und Borm 3443 A Amtliche Mitteilungen 3443 A Erweiterung der Tagesordnung 3444 B Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Dr. Schiller, Bundesminister 3444 C Entwurf eines Gesetzes über die Erhebung eines rückzahlbaren Konjunkturzuschlags zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer (SPD, FDP) (Drucksache VI/ 1017) —Erste Beratung — in Verbindung mit Zweite Verordnung über steuerliche Konjunkturmaßnahmen (Drucksache VI/ 1013) und mit Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. konjunkturpolitische Dämpfungsmaßnahmen (Drucksache VI/1025 [neu]) Mertes (FDP) 3447 D Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) 3450 C Brandt, Bundeskanzler 3456 A Junghans (SPD) 3460 B Kienbaum (FDP) 3462 C Höcherl (CDU/CSU) 3463 D Dr. Schellenberg (SPD) . 3466 B, 3467 D Nächste Sitzung 3468 C Anlagen: Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten 3469 A Anlage 2 Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1970 (Hauhaltsgesetz 1970) 3469 C Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juli 1970 3443 62. Sitzung Bonn, den 10. Juli 1970 Stenographischer Bericht Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Abelein 11. 7. Dr. Achenbach * 11.7. Adams * 11.7. Dr. Aigner * 11. 7. von Alten-Nordheim 11. 7. Dr. Artzinger * 11.7. Baier 11.7. Dr. Barzel 11.7. Dr. Becher (Pullach) 11.7. Behrendt * 11.7. Benda 11.7. Dr. Burgbacher * 11. 7. Dr. Czaja 11.7. Dr. Dittrich * 11. 7. Dichgans * 11. 7. Dröscher * 11.7. Faller * 11.7. Fellermaier * 11. 7. Flämig * 11.7. Dr. Furler * 11. 7. Gewandt 11. 7. Gerlach (Emsland) * 11.7. Dr. Gradl 11.7. Haage (München) * 11. 7. Dr. Hein * 11. 7. Frau Dr. Henze 11. 7. Dr. Hupka 11.7. D. Jahn (Braunschweig) * 11. 7. Klinker * 11.7. Katzer 11.7. Dr. Kley 11.7. Dr. Koch * 11.7. Frau Krappe 11.7. Kriedemann * 11. 7. Frau Dr. Kuchtner 11. 7. Lange * 11. 7. Lautenschlager * 11. 7. Leisler Kiep 11. 7. Lemmer 11. 7. Lenze (Attendorn) 11.7. Liehr 11.7. Dr. Lohmar 11. 7. Dr. Löhr * 11.7. Lücker (München) * 11.7. Meister * 11. 7. Memmel * 11.7. Müller (Aachen-Land) * 11.7. Ollesch 11.7. Frau Dr. Orth * 11. 7. Picard 11.7. Pieroth 11.7. Porzner 11. 7. Richarts * 11.7. Riedel (Frankfurt) * 11.7. Schmidt (Braunschweig) 11. 7. Schmidt (Würgendorf) 11.7. Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Schwabe * 11.7. Schröder (Wilhelminenhof) 11. 7. Dr. Schwörer * 11. 7. Seefeld * 11.7. Springorum * 11.7. Dr. Starke (Franken) * 11.7. Frau Dr. Walz 11. 7. Dr. Freiherr v. Weizsäcker 11. 7. Werner * 11.7. Wolfram * 11. 7. Dr. Wörner 11. 7. Wohlrabe 11.7. Anlage 2 Anlage zum Schreiben des Präsidenten des Bundesrates vom 26. Juni 1970 an den Bundeskanzler Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1970 (Haushaltsgesetz 1970) a) Der Bundesrat hält die Ermächtigung an den Bundesminister der Finanzen, eine „Bildungsanleihe" bis zur Höhe von 1 Milliarde DM aufzunehmen, allein nicht für geeignet, das Problem der Bildungsfinanzierung zu lösen. Es geht bei der Bildungsfinanzierung nicht darum, einen einmaligen investiven Nachholbedarf zu finanzieren, sondern es müssen vor allem die progressiv wachsenden Folgekosten, die Länder und Gemeinden zu tragen haben, finanziell gesichert werden. Im übrigen geht der Bundesrat davon aus, daß von der Anleiheermächtigung nur dann Gebrauch gemacht wird, wenn die Verhältnisse am Kapitalmarkt eine solche Anleihe zulassen und wenn außerdem die Anleihebedürfnisse der übrigen öffentlichen Gebietskörperschaften ausreichend berücksichtigt werden. b) Der Bundesrat bedauert, daß die Bundesregierung die verfügte Aussetzung der Frachthilfe für die Beförderung von Steinkohle ab 10. Februar 1970 nicht rückgängig gemacht hat. Er bittet die Bundesregierung, im weiteren Vollzug des Bundeshaushalts alles zu unternehmen, um die Fortsetzung der Steinkohlefrachthilfe zu ermöglichen. *) Für die Teilnahme an einer Sitzung des Europäischen Parlaments 3470 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Juli 1970 Der Bundesrat bedauert, daß seine Forderung, im Bundeshaushalt 1970 einen Ansatz von 100 Millionen DM für Investitionshilfen gemäß Art. 104 a Abs. 4 GG zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums auszubringen, bei den Beratungen im Deutschen Bundestag unberücksichtigt geblieben ist. Durch gezielten Einsatz derartiger Finanzhilfen hätten strukturpolitisch wichtige Maßnahmen, auf die nach den Grundsätzen des Konjunkturrats vom Januar 1969 Konjunkturdämpfungsmaßnahmen nicht angewendet werden sollen, insbesondere in Problemgebieten leistungsschwacher Länder im Interesse eines stabilitätskonformen Wachstums ermöglicht werden können. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, im Rahmen der Haushaltsberatungen für 1971 und der Fortschreibung der Finanzplanung zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Gewährung von Investitionshilfen nach Art. 104 a Abs. 4 GG ab 1971 notwendig und möglich ist.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Werner Mertes


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)


    (Abg. Dr. Stoltenberg: Was?)

    die Übernachfrage in der deutschen Volkswirtschaft und die daraus resultierenden Preiserhöhungstendenzen zu dämpfen. Deshalb sind steuerpolitische Mittel erforderlich, um ein Überschlagen der Konjunktur zu verhindern. Da der Boom mittlerweile die ganze Wirtschaft einschließlich der Verbrauchernachfrage erreicht hat,

    (Abg. Dr. Stoltenberg: Vor einem Jahr hat er die erreicht!)

    erscheint es unumgänglich, die Bremsen auf breiter Front, auch von der Einnahmenseite her, anzuziehen, um Kaufkraft. sowohl im gewerblichen als auch im privaten Bereich abzuschöpfen und, was das Entscheidende ist, stillzulegen.
    An und für sich hätte man dazu auf die Bestimmung des § 26 Nr. 3 Buchstabe b des Stabilitätsgesetzes zurückgreifen können, nach der die Bundesregierung ermächtigt ist, die Einkommen- und Körperschaftsteuer auf dem Verordnungswege zeitweilig um 10 % zu erhöhen. Dieser Weg — das muß ebenfalls sehr deutlich gesagt werden — hätte allerdings zu einer definitiven Steuererhöhung geführt, weil diese Gesetzesbestimmung eine Rückzahlung des zusätzlichen Steuerbetrages nicht vorsieht.

    (Abg. Dr. Schmidt eine Änderung des Stabilitätsgesetzes vornehmen können!)

    Der Entzugseffekt bei den Steuerpflichtigen hätte also einen endgültigen Charakter gehabt. Wir alle wissen, auf welchen Widerstand Steuererhöhungen in der Bevölkerung stoßen, und zwar mit Recht angesichts einer gesamtwirtschaftlichen Steuerquote von derzeit bereits rund 24 %. Es wäre daher wesentlich schwieriger gewesen, bei einem endgültigen Entzugseffekt die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise für die steuerpolitischen Maßnahmen des Dämpfungsprogramms zu gewinnen. Mir scheint, daß der Weg, den wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einschlagen, besser ist als die Anwendung der entsprechenden Bestimmungen des Stabilitätsgesetzes. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch anregen, bei einer künftigen Novellierung des Stabilitätsgesetzes diese Erfahrungen zu berücksichtigen und u. a. einen rückzahlbaren Konjunkturzuschlag in das Instrumentarium dieses Gesetzes aufzunehmen.
    Überdies scheint mir der Weg über den rückzahlbaren Zuschlag zur Lohn- und Einkommensteuer auch konjunkturpolitisch besser zu sein. Bei einer zeitweiligen Kaufkraftabschöpfung läßt sich nämlich niemals mit völliger Sicherheit ausschließen, daß Unternehmen und Haushalte entsparen, d. h. daß sie den zeitlich begrenzten Kaufkraftverlust durch Auflösung von Sparguthaben kompensieren, um dadurch ihr Konsumniveau unverändert zu lassen. Ein solches Verhalten, das die Wirksamkeit des Dämpfungsprogrammes beeinträchtigen könnte, ist meines Erachtens bei einem rückzahlbaren Steuerzuschlag aber weniger zu erwarten als bei einer wenn auch zeitlich begrenzten definitiven Steuererhöhung. Auch von dieser Seite her ist also dem rückzahlbaren Konjunkturzuschlag der Vorzug zu geben.
    Wir können heute, meine Damen und Herren, noch nicht sagen, welche Erfahrungen administrativer Art diese Konjunkturdämpfungsmaßnahme bringen wird.

    (Zuruf des Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal].)

    Sicher ist, daß insbesondere die Unternehmen eine gewisse Mehrarbeit auf sich zukommen sehen. Meine Bitte an die Verwaltung geht deshalb dahin, alles, aber wirklich auch alles zu unternehmen, um die verwaltungstechnischen Schwierigkeiten bei der



    Mertes
    Durchführung des Gesetzes auf ein Minimum zu reduzieren.
    Der Konjunkturzuschlag als Kaufkraft abschöpfende Maßnahme wird bei vielen von ihm Betroffenen sicherlich zuerst auf wenig Verständnis stoßen, weil in der Regel die eigenen Konsumausgaben als keineswegs überhöht oder auch nur einschränkungsfähig angesehen werden. Tatsächliche Schonung verdienen aber nur die Einkommen, für die der Konjunkturzuschlag zu Einschränkungen bei lebensnotwendigem Bedarf führen könnte. Aus diesem Grunde sieht der Gesetzentwurf eine Sozialklausel vor, nach der nur Steuerpflichtige mit einer monatlichen Steuerschuld von über 100 DM von dem Zuschlag betroffen werden. Mir scheint, daß diese Regelung die minderbemittelten Einkommensgruppen in hinreichender Weise schont, so daß sozialpolitische Einwendungen kaum erhoben werden dürften.
    Betrachtet man den vom Konjunkturzuschlag ausgenommenen Personenkreis einmal näher, so erkennt man, daß nur weniger als die Hälfte aller mit Lohn- und Einkommensteuer Belasteten den Zuschlag überhaupt zahlen müssen. Angesichts der Schonung breiter Kreise durch die Sozialklausel ist es nicht recht verständlich, wenn vereinzelt von der mangelnden Ausgewogenheit des Konjunkturprogramms und von einer Benachteiligung der lohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmer im Vergleich zu den einkommensteuerpflichtigen Selbständigen gesprochen wird. Dieser Vorwurf geht auf § 1 des vorliegenden Gesetzentwurfes zurück, nach dem der Zuschlag bei Einkommensteuerpflichtigen nur auf die Vorauszahlung und nicht auch auf die Abschlußzahlungen erhoben wird. Abgesehen davon, daß die Einbeziehung auch der Abschlußzahlungen in die Bemessungsgrundlage des Konjunkturzuschlages u. a. eine nur schwer zu rechtfertigende Komplizierung des Gesetzes mit sich gebracht hätte, muß vor allem auch die Gesamtbelastung gesehen werden. Sie besteht bei den Selbständigen ja nicht nur aus dem 10%igen Konjunkturzuschlag, sondern auch aus der zeitweiligen Aussetzung der degressiven Abschreibung. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die Vorauszahlungen der Einkommensteuerpflichtigen schon seit einiger Zeit in recht großem Umfang an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt werden und damit die früheren erheblichen Abschlußzahlungen seit längerem der Vergangenheit angehören.
    Zusammenfassend möchte ich sagen, daß der uns vorliegende Gesetzentwurf ein gutes Mittel darstellt, um zusammen mit den anderen Maßnahmen die gegenwärtige konjunkturelle Übernachfrage zu drosseln und die Wirtschaft wieder auf die Gangart zurückzuführen, die es erlaubt, die Ziele des Stabilitätsgesetzes — insbesondere aber Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung gleichermaßen — zu verfolgen. Ich bitte Sie daher, dem vorliegenden Gesetzentwurf Ihre Zustimmung zu geben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Kai-Uwe von Hassel
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Sie haben die Begründung zur Einbringung dieses Gesetzentwurfes gehört.
Ich eröffne nunmehr die Aussprache über alle vier Tagesordnungspunkte. Das Wort hat dazu der Abgeordnete Dr. Stoltenberg. Für ihn sind 45 Minuten Redezeit beantragt.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gerhard Stoltenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben diese Sondersitzung des Bundestages in der Ferienzeit beantragt, um jetzt konjunkturpolitische Entscheidungen zu beraten und zu treffen. Seit über sechs Monaten forderten maßgebende Stimmen der deutschen Öffentlichkeit die Regierung mit wachsender Eindringlichkeit auf, zu handeln und ein wirkungsvolles Gesamtprogramm für die Sicherung des gefährdeten wirtschaftlichen Gleichgewichts und der Stabilisierung der Preise vorzulegen. Fünfzehn Sitzungswochen des Parlaments und fünf konjunkturpolitische Debatten sind seit Anfang dieses Jahres verstrichen, ohne daß der Bundeskanzler zu bewegen war, aus seiner Haltung staatsmännischer Tatenlosigkeit herauszutreten

    (lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    und die Zügel in die Hand zu nehmen. Immer wieder sind wir in diesen Diskussionen der vergangenen Monate von der Regierungsbank aus und von der sozialdemokratischen Fraktion der Schwarzmalerei, der Panikmache und der Beunruhigung friedlicher und zufriedener Bürger geziehen worden,

    (Zustimmung bei der CDU/CSU — Sehr wahr! bei der .SPD)

    als wir mit anderen warnend auf die wachsenden Spannungen und die Gefahren verwiesen haben, der geeignete Zeitpunkt könne verpaßt werden.
    Wir verzichten darauf, diese Zitate unserer Kritiker im einzelnen nochmals vorzutragen, obwohl dies verlockend wäre. Sie würden angesichts der heutigen Vorlage und ihrer Begründung durch die Kollegen Schiller und Mertes manchem in diesem Hause nicht sehr angenehm im Ohr klingen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    In seiner dritten Ferienwoche soll nun der Bundestag nach dem Willen der Koalition das lang Versäumte im Eiltempo nachholen. Am Montagnachmittag dieser Woche erfuhren wir von dem Plan, bereits am Sonnabend den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf in dritter Lesung zu verabschieden. Am Dienstagnachmittag hat uns die Bundesregierung von ihrem Sechs-Punkte-Programm unterrichtet, das heute und morgen zur Entscheidung ansteht. Denn, meine Damen und Herren — ich möchte das ganz deutlich zu Beginn unserer Aussprache sagen —, wir stimmen hier nicht nur über den vorliegenden Gesetzentwurf ab, wir treffen damit ein politisches Votum über alle sechs Punkte des Kabinetts, und wir müssen dabei zugleich auch jene von der Regierung nicht einbezogenen Elemente staatlichen Handelns mitbewerten,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    von denen der weitere Konjunkturverlauf, Erfolg oder Mißerfolg der jetzt vorgeschlagenen Maßnahmen maßgeblich mitbeeinflußt werden.



    Dr. Stoltenberg
    Wir haben, soweit dies bei dem doch recht eigentümlichen Verfahren und in der Kürze der genannten Fristen überhaupt möglich war, versucht, in einer kritischen Analyse diese Faktoren richtig zu bewerten. Die sachliche Beurteilung, die ich im einzelnen kurz begründen werde, ist für unser Votum bestimmend, aber wir können doch nicht umhin, zunächst einiges Nähere zu der Vorgeschichte dieser Vorlage und unserer jetzigen Beratungen zu sagen.
    Wenn die unzulängliche, die peinliche Art, mit der die Vorschläge des Sachverständigenrates, der Bundesbank, auch des Wirtschaftsministers, der CDU/CSU und vieler anderer zur Stabilitätspolitik so lange nicht ernsthaft behandelt, sondern verschleppt und abqualifiziert wurden, so ist das nicht nur eine Frage des politischen Stils;

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    sondern es ist heute, im Juli, in einer relativ späten Phase des Konjunkturzyklus auch in der Sache schwieriger, die Wirkungen einzuschätzen, als dies im Januar, Februar oder noch im April der Fall gewesen wäre.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

    Diese Einsicht hat ja auch, wie wir hören, die Beratungen im Lager der Koalitionsfraktionen offensichtlich nicht ganz leicht gemacht und jedenfalls Manchem die Entscheidungen erschwert.
    Die Bedenkenlosigkeit, mit der der sozialdemokratische Parteivorsitzende, Herr Brandt, noch unmittelbar vor den Landtagswahlen am 14. Juni gegen den dringenden Rat vieler Fachleute innerhalb und außerhalb seiner Regierung den Bürgern Steuersenkungen versprochen hat, mußte den Widerstand gegen befristete Steuererhöhungen bei den Betroffenen in vielen Organisationen und Verbänden verstärken.

    (Beifall und Zurufe von der CDU/CSU.)

    Sie hat, wie wir in den ersten Reaktionen dieser Tage spüren, ihre Bereitschaft, den neuen, ganz anderen Argumenten dieser in ihrer politischen und moralischen Glaubwürdigkeit schwer erschütterten Regierung zu folgen, vermindert. Das haben manche Reaktionen der letzten Tage klargemacht, nicht zuletzt auch Stimmen aus dem Lager der Gewerkschaften. Die Regierung hat ihre wichtigste Aufgabe, in einer zweifellos schwierigen politischen Situation zu einer kontinuierlichen, intellektuell überzeugenden und redlichen Orientierung für die öffentliche Meinungsbildung zu kommen, nicht gemeistert.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Kollege Schiller hat heute versucht, an Hand alter Zitate aus Berichten der Regierung in den ersten Monaten dieses Jahres darzustellen, daß es schon damals Hinweise für eine aktive Stabilitätspolitik gegeben habe. Nun, eine Regierung, die sich in ihren Berichten und auch in ihren führenden Exponenten so häufig widerspricht wie diese, wird auch bei der unerwartetsten Wendung irgendwo in den alten Archiven noch ein Zitat finden, das diese neue Linie abdeckt.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Es bleibt dem Bundeskanzler vorbehalten, hier seinen Sinneswandel überzeugender zu begründen, als er es in den letzten Tagen in der Öffentlichkeit tat. Mittwoch hat er dem deutschen Volke erklärt, die steuerlichen Belastungen sollten der Sicherung der Stabilität und der Arbeitsplätze dienen. Am 1. Mai klang es in Dortmund wie auch bei vielen folgenden Gelegenheiten vor den Landtagswahlen ganz anders. Damals, vor zehn Wochen, sagte Herr Brandt, daß härtere Dämpfungsmaßnahmen von manchen Leuten gefordert würden, um uns eine zweite Talfahrt zu bescheren.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

    Das ist die nun schon hinreichend bekannte Methode dieser neuen Regierung, Vorschläge der CDU/CSU zu verketzern und wenige Wochen später ähnliche Initiativen der Regierung, die dem gleichen Ziel dienen sollen, dann als verantwortungsbewußte Aktion zu feiern.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir möchten es gern deutlicher und überzeugender hören: Welche neuen Einsichten haben nun zu dieser Umwertung der Ziele und diesem Kurswechsel wirklich geführt?

    (Zurufe von der CDU/CSU: Wahlen!)

    Wir nehmen mit sehr vielen Kommentatoren dieser Tage bis zum Beweis des Gegenteils an, daß es eine seit dem 14. Juni erheblich veränderte Einschätzung des Wählerverhaltens war

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    und nicht die sehr geringfügigen letzten Schattierungen in den Konjunkturdaten, die nun doch, Herr Kollege Schiller und Herr Kollege Mertes, als ein reichlich dürftiges Alibi dienen sollen. Für was muß der gute, alte Ifo-Konjunkturtest eigentlich in den kommenden Jahren noch herhalten?, kann man nach manchen Äußerungen und Bezugnahmen auf ihn für völlig verschiedene und entgegengesetzte Absichten heute nur fragen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die Antwort des Bundeskanzlers auf genau diese Frage in seiner Pressekonferenz vom 8. Juli möchte ich dem Hohen Hause doch nicht vorenthalten. Die Frage lautete: „Herr Bundeskanzler, worauf ist eigentlich der Wandel in der Konjunkturpolitik zurückzuführen?" Der Bundeskanzler hat den Journalisten dann geantwortet: „Wollen Sie das nicht Herrn Schiller überlassen?"

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

    Vielleicht hätte er diesen Grundsatz schon etwas eher befolgen sollen.

    (Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich zitiere weiter:
    Wir haben es
    — so sagte der Bundeskanzler —— das gilt nicht nur auf diesem Gebiet — mit
    zwei Faktoren zu tun. Wir haben es mit der



    Dr. Stoltenberg
    Lage zu tun und mit den Kräften, die sich auf die Lage einzustellen haben.

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    Da geht manches rascher, manches weniger rasch; manches geht in einer bestimmten Situation, was in einer anderen nicht geht. So einfach ist das.

    (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Klar, meine Damen und Herren, so einfach ist es für den Bundeskanzler.

    (Abg. Haase [Kassel] : Stammt das von Ehmke?)

    Aber man muß doch wohl fragen, ob er sich bei der Schicksalhaftigkeit dieser Frage der Stabilität für die soziale, wirtschaftliche und politische Zukunft unseres Volkes nicht etwas zu einfach macht.

    (Beifall 'bei der CDU/CSU.)

    Herr Schiller hätte die heutige Begründung für die Vorschläge der Regierung lieber im Februar gegeben. Sie wäre dann vielleicht etwas überzeugender ausgefallen. Es hätte dazu für ihn — wie für viele andere — nicht angeblich neuer Trends und Daten bedurft.
    Die Merheit des Kabinetts hat jedoch bis zum 14. Juni nicht nur die ökonomischen Faktoren, sondern auch das Stabilitätsbewußtsein der meisten deutschen Bürger völlig falsch eingeschätzt, nämlich ihre berechtigte Erwartung, daß alle Ziele des vielgepriesenen Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes ernstgenommen werden, und das Handeln der Regierung bestimmen. Die ebenso unzutreffende wie gefährliche Behauptung, langfristige Sicherheit der Arbeitsplätze und Preisstabilität seien Gegensätze, ist nun hoffentlich mit dem heutigen Tage für alle Zukunft aus dem Arsenal der Regierungsargumente verschwunden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie ist übrigens mit der soeben in Deutschland veröffentlichten Studie von Professor Henry C. Wallich „Geldwertstabilität und Wirtschaftswachstum" erneut in einer eindrucksvollen empirischen wissenschaftlichen Untersuchung widerlegt worden.
    Meine Damen und Herren, drei der sechs Punkte der Bundesregierung entsprechen dabei ganz oder zumindest teilweise Forderungen, die wir seit Anfang dieses Jahres mit anderen vertreten. Die Regierung hat jetzt ausdrücklich beschlossen, daß der Bundeswirtschaftsminister am 17. Juli in der Konzertierten Aktion den Sozialpartnern die Entscheidung der Regierung darlegen und versuchen soll, sie für ein abgestimmteres Verhalten in ihren autonomen Dispositionen zu gewinnen. Wir meinen in der Tat, daß dies ein Kernpunkt für ein erfolgreiches Bemühen um Stabilität ist. Es kann sich nicht auf den Bund beschränken. Aber sein Handeln wird die Regierung nach so langer Untätigkeit und so vielen unschönen Winkelzügen erst wieder zu einem glaubwürdigen Gesprächspartner mit sachlicher Autorität werden lassen.
    Es gibt eben seit dem vergangenen Herbst keine Konzertierte Aktion, die diesen Namen verdient, weil der Wirtschaftsminister bisher immer mit leeren Händen kommen mußte. Es bleibt abzuwarten, ob die neuen Planungen der Regierung geeignet sind, das schwer erschütterte Vertrauen schrittweise wiederherzustellen und so auch in der Einkommens- und Preispolitik zu einem stabilitätsgerechteren Verhalten beizutragen.
    Wir müssen allerdings sagen, Herr Kollege Schiller, daß uns Ihre Interpretation dieser Bemühungen in der eben erwähnten Pressekonferenz vom 6. Juli auch nicht zufriedenstellt. Ich möchte hier Ihre Antwort auf eine ebenfalls sehr entscheidende Frage gern kurz zitieren. Vielleicht ist es möglich, die Dinge dann noch zu präzisieren. Sie sind gefragt worden: -
    Was spricht dagegen, solche Orientierungsdaten für die Konzertierte Aktion zu beschließen und vorzulegen?
    Sie haben dann geantwortet — ich zitiere —:
    Die Psychologie! Wir haben jetzt ein Paket beschlossen, das sicher von vielen in der gegenwärtigen Konjunkturphase als hart angesehen wird. Wir sollten erst einmal die immanente Kraft dieses Pakets in der Konzertierten Aktion sich auswirken lassen.
    Meine Damen und Herren, das bleibt doch weit hinter dem zurück, was Sie selbst auf Aufgabe der Konzertierten Aktion in den Jahren 1967/68 vertreten und praktiziert haben und was auch der Wortlaut des Stabilitätsgesetzes nach unserer Überzeugung in einer solchen Situation vorschreibt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Damals hat es ganz andere Verhaltensweisen und Ziele gegeben. Ich zitiere noch einmal zum Vergleich aus dem Kommuniqué der ersten Konzertierten Aktion vom 2. März 1967. Da heißt es:
    Für das Jahr 1967 erkennen die Beteiligten die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der Bundesregierung an und sind bereit, diese Zielsetzungen durch ihre eigenen autonomen Entscheidungen zu unterstützen. Die Beteiligten sind sich darin einig, daß der Staat bei seinen Maßnahmen und die autonomen Gruppen bei ihren preis- und lohnpolitischen Entscheidungen diese Orientierungsdaten berücksichtigen sollen.
    Damals haben manche — auch aus unseren Reihen — gefragt, ob dies nicht etwas zu weit gehe in dem Eingriff in den legitimen Spielraum autonomer Gruppen. Aber heute müssen wir alle feststellen, daß das, was Sie auf dieser Pressekonferenz verkündet haben, hinter dem zurückbleibt, was die Lage erfordert.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die Bundesregierung hat die Beratung des Steueränderungsgesetzes 1970 nicht nur bis zum Herbst, sondern in eine ungewisse Zukunft verschoben. Das Schicksal dieser Vorlage, meine Damen und Herren, bietet nun allmählich genügend Stoff für eine abendfüllende Komödie.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)




    Dr. Stoltenberg
    Bei aller Komik, die hier Konzeptionslosigkeit und Führungsschwäche bewirkten, ist freilich auch nicht der schon erwähnte ernstere Hintergrund eines zunehmenden Mißtrauens gegen neue Aussagen und Versprechungen dieses Kabinetts schlechthin zu verkennen, der durch solche Aktionen verursacht wird. So war es sicherlich richtig, daß jetzt von der Regierung keine neuen Fristen für das Inkrafttreten und die Behandlung dieser Vorlage gesetzt wurden. Noch besser wäre es allerdings gewesen, sie ganz zurückzuziehen und die Fragen des Arbeitnehmerfreibetrags und der Ergänzungsabgabe völlig in den Zusammenhang der Steuerreform zu stellen, wo sich für die Arbeiter, die Angestellten, den Mittelstand und auch für die wichtigen Aufgaben der Bildungsfinanzierung auf Grund der noch ausstehenden Sachverständigengutachten für alle Beteiligten neue Gesichtspunkte ergeben dürften.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Was jetzt vom Kabinett ohne ein Konzept zur Steuerreform zu Einzelfragen, z. B. auch in der Verbindung von Ergänzungsabgabe und Bildungsfinanzierung beschlossen wurde, erweckt wieder einmal den Eindruck der wenig durchdachten Improvisation, die wir vor der großen Steuerreform jetzt alle vermeiden sollten.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Aber dieser fünfte Akt des Dramas einer erneuten Revision von Steuerbeschlüssen ist mit der jetzt vorgesehenen Behandlung keineswegs ausgeschlossen, vielleicht sogar erleichtert worden.
    Das Kabinett hat sich ferner für das von uns seit langem vertretene Ziel einer Umrüstung der Konjunkturpolitik ausgesprochen. Seit Februar haben wir immer wieder auf das gefährliche Mißverhältnis der Politik von Bundesbank und Bundesregierung hingewiesen: die zu starke einseitige Belastung durch den Diskont, zunehmende Strukturschäden und wachsende außenwirtschaftliche Probleme als Folgen der unzulänglichen Fiskalpolitik des Staates. Wir hören deshalb mit Interesse, daß die Koalition jetzt die sehr ernsten Gefahren dieser Disharmonie offenbar nicht mehr bagatellisiert, sondern sie zugibt und in Konsultationen mit dem Zentralbankrat durch staatliche Maßnahmen in absehbarer Zeit zu einer Senkung der Zinsbelastung gelangen möchte. Neben den Folgewirkungen für die Entscheidungen der Sozialpartner, die eben noch nicht übersehbar sind, ist dies fraglos ein ganz zentraler Punkt für die Bewertung der vorgesehenen steuerlichen Maßnahmen.
    Die Regierung kann jedoch bei dem jetzt nach zu
    langer Passivität plötzlich eingeschlagenem Tempo
    offenbar nicht davon ausgehen, daß sich die Bundes-
    bank in der Lage sieht, sehr bald zu einer Senkung
    des Diskontsatzes zu kommen. Pressemeldungen aus
    Frankfurt und die Berichte über die Ausführungen
    von Herrn Emminger vor der OECD lassen es als
    sehr ungewiß erscheinen, ob diese erhoffte Wirkung
    eintritt. Dabei dürfte auch die von der Bundesbank
    mehrfach geäußerte harte Kritik am Haushaltsgebaren der öffentlichen Hände eine Rolle spielen,
    das durch die gestrigen Beschlüsse der Bundesregierung leider nicht erfreulicher und konjunkturgerechter wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie können also, Herr Kollege Schiller — ich möchte das im Anschluß an unsere letzte Debatte hier sagen —, heute die sehr wesentliche Frage nicht beantworten, ob die vorgesehenen steuerlichen Maßnahmen der Bundesregierung in den kommenden Wochen und Monaten additiv zu der Hochzinspolitik der Bundesbank treten — das eine der vier von Ihnen genannten Modelle — oder ob sie die Bundesbank jetzt in den Stand setzen, den Diskontsatz unverzüglich herabzusetzen. Damit bleibt aber eine ganz wesentliche Unbekannte in der Abstimmung dieses Hauses heute und morgen.
    Wir verstehen es, daß sich die Meinungsbildung im Zentralbankrat nicht in den gleichen asymmetrischen Zyklen von Passivität und Hektik vollzieht, wie dies bei der Koalition der Fall ist und wie man es dem Parlament jetzt zumutet.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Aber es wäre gut, wenn die Regierung — jedenfalls
    etwas mehr, als es bisher geschah — präzisieren könnte, ob dieses Ziel der Umrüstung in den nächsten Wochen ein reales ist, oder ob damit gerechnet werden muß, daß die deutsche Wirtschaft und die deutschen Bürger in den kommenden Monaten die doppelte Belastung trifft.
    Das Kernstück der sechs Punkte sind die beiden steuerlichen Maßnahmen. Wir haben in den vergangenen Monaten wiederholt deutlich gemacht, daß wir dieses Instrument als Teil einer umfassenden, wirkungsvollen Stabilitätspolitik nicht ausschließen und entsprechende Vorschläge der Regierung sachlich prüfen werden. Freilich ist durch die Verschleppung der Entscheidung auf den Sommer 1970 gerade hier die Einschätzung der Wirkungen schwieriger geworden. Wir erkennen dies auch an den recht unterschiedlichen Reaktionen auf die Regierung, die nicht nur, Herr Kollege Schiller, unterschiedliche Interessenstandpunkte wiederspiegeln, sondern eben auch dieses Dilemma der außenordentlichen Schwierigkeit, in diesem Zeitpunkt die Folgen zu bewerten.
    Es stellt sich u. a. die Sachfrage, ob die Kombination von Vorauszahlungen bei der Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer mit der Aussetzung der degressiven Abschreibung nicht in erster Linie ein Ergebnis der völlig entgegengesetzten politischen Ausgangspositionen der beiden Koalitionsfraktionen ist, von denen die SPD noch bis vor kurzem jede steuerliche Belastung der Arbeitnehmer empört ablehnte, während die FDP hier immer wieder durch ihre Sprecher eine Erschwerung von Rationalisierungs- und Ausrüstungsinvestitionen als unannehmbar bezeichnete. Rein statistisch soll sich nach den Vorstellungen der Regierung in den kommenden elf Monaten eine Verminderung der Nachfrage um etwa 7 Mrd. DM ergeben. Wir alle wissen, wie schwer kalkulierbar dabei vor allem die Wirkungen einer Aussetzung der degressiven Abschreibung sind. Zunächst einmal, Herr Kollege Schiller, hat es in den beiden Wochen vor dem 6. Juli durch eine Art Vor-



    Dr. Stoltenberg
    ankündigungseffekt sicher einen neuen Höhepunkt an Bestellungen und Anzahlungen gegeben.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wie sich die Firmen in den kommenden Monaten in dieser Frage bei einer solchen Entscheidung, einer solchen Gesetzgebung verhalten, kann heute in der Tat niemand sagen.

    (Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] : Die Bundesregierung hätte das verhindern können!)

    Bei der Einkommensteuer bleibt abzuwarten, ob und inwieweit es unter dem Vorzeichen erneut steigender Preise zu einer Reaktion der Entsparung kommt. Es ist nun in der Tat — auch was diesen Zeitpunkt anbetrifft — ganz besonders unglücklich, daß die Steuerentscheidungen jetzt offensichtlich doch mit dem Anfang einer neuen Preiswelle zusammenfallen,

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    die von vielen Sachverständigen erst für den Herbst erwartet wurde und die von der Regierung in den letzten Wochen überhaupt bestritten wurde, für die es in den statistischen Veröffentlichungen der letzten Tage jedoch einige deutliche Anhaltspunkte gibt.
    Diese hier angedeuteten Sachfragen werden nach unserer Auffassung heute in den Ausschüssen noch gründlich zu erörtern und zu prüfen sein. Eines möchte ich jedoch ganz klar sagen. Wir können die Vorlagen der Regierung vor allem nur unter der Fragestellung bewerten, ob die Koalition sich hier
    und heute endlich zu einer stabilitätsgerechten Haushaltspolitik für die Jahre 1970 und 1971 entscheidet.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die Regierung ist mit ihren Vorschlägen aus der völligen Passivität herausgetreten. Aber sie bleibt zugleich durch die fehlende Integration der Haushaltspolitik in das Stabilitätskonzept bis jetzt auf halbem Wege stehen.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

    Die Bemühungen des Wirtschafts- und des Finanzministers, mit § 6 des Stabilitätsgesetzes nunmehr auch eine restriktivere Ausgabenpolitik für 1970 sicherzustellen, wurden von der Kabinettsmehrheit verworfen.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

    Herr Kollege Möller hat diesen § 6 zwar gestern im deutschen Fernsehen zitiert, aber das Kabinett hat ihm nicht die Ermächtigung gegeben, ihn anzuwenden. Das ist der wunde Punkt, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Damit kann nach Inkrafttreten des Haushaltsgesetzes 1970 in den kommenden Monaten ein neuer Nachfragestoß an Verpflichtungsermächtigungen und Zahlungen ausgelöst werden, der die Wirkung der vorgesehenen steuerlichen Belastungen zunichte macht.
    Noch bestürzender ist für uns freilich das Ergebnis der gestrigen Kabinettsberatungen über den Etat 1971. Wir wissen, daß innerhalb der Regierung ernsthaft ein Vorschlag zur Diskussion stand, für das kommende Jahr einen Kernhaushalt und einen Eventualhaushalt vorzulegen, wie es das Stabilitätsgesetz in einer, jetzt gegebenen Situation des Ungleichgewichts klar verlangt, um eine flexible, konjunkturgerechte Ausgabenpolitik sicherzustellen. Auch hier hat die Mehrheit des Kabinetts die klaren Vorschriften des Stabilitätsgesetzes mißachtet und die richtige Entscheidung verhindert, die einen neuen konjunkturpolitischen Kurs überhaupt erst glaubwürdig gemacht hätte.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die gestrige Ankündigung des Bundesfinanzministers, der Etat 1971 werde eine Steigerung von 12 % gegenüber den bereits überhöhten Ausgaben des Jahres 1970 bewirken, bringt einen schrillen Mißton in die neue Stabilitätsmelodie der Koalition.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Hier sollte man die Verantwortlichkeiten klar erkennen. Die Verantwortung liegt beim Bundeskanzler und beim Bundesfinanzminister, die in diesem Zusammenhang nach dem Gesetz besondere Rechte haben. Es wäre sicher ein Fehler, wenn wieder einmal der unglückliche Herr Ahlers für die schlechte Kommentierung in der heutigen Morgenpresse verantwortlich gemacht würde, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der Herr Kollege Möller hat gestern in seiner Pressekonferenz eine neue, sehr gefährliche und falsche Alternative aufgebaut, diesmal nicht mehr Sicherheit der Arbeitsplätze und Stabilitätspolitik, sondern etwas anderes: die angebliche Entscheidung zwischen stabilitätsgerechter restriktiver Ausgabenpolitik einerseits und der Förderung der großen inneren Reformen andererseits. Meine Damen und Herren, was bewirkt denn die starke Ausweitung der Infrastrukturmaßnahmen für Bildung und Wissenschaft, für Gesundheit, Wohnungsbau und Verkehr, wenn wir weiterhin Preissteigerungen in der Bauwirtschaft von jährlich 20 bis 30 % haben sollten,

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    die den numerischen Zuwachs der Einzeletats, mit denen die Herren Ressortminister sich schmücken, doch faktisch zunichte machen und so 1970, und wenn es so weitergeht, auch 1971 in Wahrheit keine echte Steigerung der Investitionen ermöglichen?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Was ist das für eine neue Finanzplanung, die unter dem aktuellen Vorzeichen der Überhitzung, des Ungleichgewichts die Ausgaben für 1971 um 12 % erhöhen will bei gleichzeitigen Steuerbelastungen für die Bürger in diesem Jahr 1971 und die in den folgenden Jahren, für die wir doch wohl alle eine ausgeglichenere Situation erwarten, dann Steigerungsraten von rund 8 % veranschlagt? Hier sind doch die elementarsten Erfordernisse einer dem Stabilitätsgesetz gerechten Finanzplanung gröblich mißachtet worden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    In der Art, wie hier gehandelt und vom Finanzminister gestern gesprochen wurde, wird nun auch



    Dr. Stoltenberg
    die schicksalhafte Frage erneut bagatellisiert, ob wir durch einen neuen Stabilitätskurs wirklich den drohenden verhängnisvollen inflatorischen Prozeß aufhalten, eindämmen wollen und können oder ob mit der Regierung auch die autonomen Partner sich schließlich doch auf seine schreckliche Gesetzmäßigkeit der Eskalation, der Steigerung einstellen. Die wirtschaftlichen und psychologischen Wirkungen einer halbherzigen Stabilitätspolitik, die bei der Steuerpolitik jetzt in die Vollen geht, aber haushaltspolitisch nicht mitgeht, ja, teilweise gegensteuert, können nur negativ sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir wünschen nicht, meine Damen und Herren, daß die neue Steuerbelastung der Bürger im wesentlichen dazu dient, dem Staat für seine Ausgabenpläne einen größeren konjunkturpolitischen Spielraum zu verschaffen.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

    Steuer- und Haushaltspolitik müssen sich jetzt dem entscheidenden Ziel der Wiedergewinnung der Stabilität, der Bekämpfung der Inflation unterordnen. Beide müssen dies tun.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich stimme Herrn Kollegen Schiller zu, der gesagt hat: Stabilität kann weh tun. Das ist richtig; aber offenbar haben die Ressortminister gestern dafür gesorgt, daß sie nicht zu denen gehören, denen bei Ihren Plänen wehgetan wird, und das wird die Bürger noch etwas mehr schmerzen, als es diese vorgesehenen steuerlichen Entscheidungen ohnehin tun.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Weshalb mißachtet die Regierung weiterhin die eindeutigen Bestimmungen der §§ 5, 6, 7 und damit auch 19 des Stabilisierungsgesetzes, die der Kollege Möller doch noch im Jahre 1969 in seinem Kommentar, zweite Auflage, so eindrucksvoll erläutert hat?

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

    Weshalb kommt es auch jetzt nicht zu der dringend gebotenen, vom Finanz- und Wirtschaftsminister vor Monaten geforderten stärkeren Bildung einer Konjunkturausgleichsrücklage im Jahre 1970 und zu der von der Bundesbank verlangten Stillegung von Finanzierungsüberschüssen der Sozialversicherung, zu der auch der Verband deutscher Rentenversicherungsträger offensichtlich grundsätzlich bereit ist?
    Zu diesen Kernpunkten der Haushaltspolitik haben wir in unserem vorliegenden Antrag konkrete Einzelvorschläge gemacht, die in den Ausschüssen und bei der abschließenden Plenarberatung im einzelnen noch näher erläutert werden. Ich möchte aber hier schon ganz deutlich sagen, daß die schwere Entscheidung für befristete Steuererhöhungen uns nur dann vertretbar erscheint, wenn auch eine grundlegende Neuorientierung der Haushaltspolitik erfolgt, die den Bürgern dann auch den Preis der Stabilität bringt und nicht den Erfolg der neuen Maßnahmen aufs Spiel setzt.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

    Deshalb wird die Behandlung unseres Antrages zu
    den genannten Punkten für die abschließende Stellungnahme meiner Fraktion zu den Vorschlägen der Regierung, der Koalition, von ausschlaggebender Bedeutung sein.
    Wir halten darüber hinaus bestimmte Verbesserungen und Präzisierungen der Steuervorlagen für notwendig. Wir beantragen, daß die Rückzahlung des Konjunkturzuschlages spätestens bis zum 30. Juni 1972 erfolgt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Durch die Verkürzung dieses Termins könnten die weitverbreiteten Befürchtungen vermindert werden, die versprochene Rückerstattung sei nicht gesichert. Außerdem wird der unangenehme, von der Koalition sicher nicht gewünschte Eindruck vermieden, der Zeitpunkt in ihrer Vorlage sei bewußt wenige Monate vor die nächste Bundestagswahl gelegt, um vielleicht durch eine größere Geldzahlung bei den Bürgern die vielen Enttäuschungen dieser Wahlperiode zu lindern.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Um den ganz besonderen Charakter dieser Steuervorauszahlung deutlicher zu machen und die eindeutige Verpflichtung zur fristgerechten Rückzahlung noch klarer festzulegen, beantragen wir ferner eine Jahresverzinsung des Konjunkturzuschlags von 6%.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren! Die Sozialdemokraten haben vor der letzten Landtagswahl im Juni die Parole ausgegeben: „Keine halben Sachen!"

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    Dieses Motto möchten wir Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, jetzt für die Konjunkturpolitik, für die Entscheidungen von heute und morgen als Richtschnur nachdrücklich empfehlen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie sollten sich dazu entschließen, die nicht ausreichenden Vorschläge der Bundesregierung durch eine Neuorientierung der Haushaltspolitik, durch ihre Integration in die Stabilitätspolitik zu einem geschlossenen Konzept weiterzuentwickeln. Nur dann besteht nach meiner Überzeugung die Chance, den Verlust an Vertrauen, der durch das unrühmliche Hin und Her der letzten Monate, die miserable Taktik eintrat, wieder zu überwinden.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Die „besseren Männer" !)

    Machen wir in der Tat hier keine halben Sachen. Dann werden Sie mit einer konstruktiven Mitwirkung der starksten Fraktion dieses Hauses für Ihr erweitertes Stabilitätsprogramm rechnen können und auch das heute noch fehlende Vertrauen der Bürger für einen neuen Kurs wiedergewinnen und damit zugleich die Chancen für den sachlichen Erfolg dieser Politik vergrößern.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)