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ID0605903400

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    Deutscher Bundestag 59. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 Inhalt: Begrüßung des Präsidenten des indischen Unterhauses . . . 3215 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . 3215 A Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschland-, Ost- und Europapolitik (Drucksachen VI /691, VI /757) in Verbindung mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Beschluß des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (Drucksache VI /880) — Erste Beratung — und mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. Arpil 1970 zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrags zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Drucksache VI /879) — Erste Beratung — Brandt, Bundeskanzler . 3215 C, 3244 C Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 3219 B Wienand (SPD) 3226 C Borm (FDP) 3230 D Scheel, Bundesminister . 3235 D, 3268 A Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . . 3240 B, 3248 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 3245 A, 3275 D Dr. Apel (SPD) 3248 D Dr. Ehmke, Bundesminister 3250 A, 3272 B Dr. Rutschke (FDP) 3252 B Baron von Wrangel (CDU/CSU) 3254 D Behrendt (SPD) . . . . . . . 3256 C Strauß (CDU/CSU) 3261 B Mischnick (FDP) 3273 D Nächste Sitzung 3276 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 3277 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3215 59. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1970 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3277 Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Bartsch 19. 6. Breidbach 19. 6. Frau Dr. Focke 17. 6. Heyen 19. 6. Katzer 17. 6. Freiherr von Kühlmann-Stumm 17. 6. Dr. Lohmar 30. 6. Müller (Remscheid) 17.6.
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    Rede von Dr. Horst Ehmke


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure, daß der Kollege Barzel jetzt draußen ist, weil ich mich zunächst zu seinen juristischen Ausführungen äußern wollte. Ich weiß zwar, daß Herr Kollege Barzel seine juristische Ausbildung nicht vollendet hat,

    (Oho-Rufe von der CDU/CSU) trotzdem schmerzt es mich immer


    (Abg. Rasner: Herr Brandt auch nicht!)

    — ja, beruhigen Sie sich erst einmal ein bißchen —, mit welcher Billigkeit von ihm juristische Argumente gebracht werden, die auch nicht dadurch richtiger werden, daß er sie in der glatten Art vorbringt, die ihn uns allen so sympatisch macht.

    (Heiterkeit und lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich erinnere mich daran, daß der Kollege Barzel bei der Diskussion über den Nichtverbreitungsvertrag anfing, Sohm- „Institutionen" zu zitieren. Die hatte er wohl aus dem ersten Semester. Ich habe mich freundschaftlich mit ihm darüber unterunterhalten. Er zitierte dort etwas über „error in objecto" bei Kaufverträgen. Die Klammer, die er in dem Satz weggelassen hat, brachte als ein Beispiel, daß man einen Sklaven kauft, es sich aber in Wirklichkeit um eine Sklavin handelt. Das brachte er als Beispiel für den Fall, daß zwei Partner einen völkerrechtlichen Vertrag unterschiedlich interpretieren. Ich war damals der Meinung, es sei unter dem Niveau, darauf zu antworten, zumal wir das doch eigentlich noch ganz gut auseinanderhalten können.

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Ich sage heute, daß die Berufung auf Art. 79 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht die Spur von Seriosität haben kann. Sie wissen doch, das ist eine Formvorschrift.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Herr Lenz und Herr Benda, Sie wissen doch,

    (Abg. Rasner: Sind Sie der Verfasser des Grundgesetzes?)

    wie diese Vorschrift in das Grundgesetz hineingekommen ist. Sie kam hinein, als man einen Vertrag hatte, von dem man nicht wußte — oder von dem Sie jedenfalls sagten, man wisse nicht genau,
    wie Karlsruhe entscheiden werde —: sind darin Verfassungsänderungen enthalten? Man hat gesagt: Für den Fall, daß welche enthalten sind, daß also der Vertrag die Verfassung durchbricht, soll das im Text klargestellt werden.

    (Abg. Rasner meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

    — Herr Rasner, im Augenblick nicht.
    Art. 79 Abs. 1 ist also überhaupt nicht herauszuziehen für die Frage, wann eine Verfassungsänderung erforderlich ist. Ich warne davor, so manipulativ mit Verfassungsargumenten umzugehen. Im übrigen hat Herbert Wehner Ihnen schon einmal gesagt: Gute Reise nach Karlsruhe! Ich halte es nur für unverantwortlich, in dieser Weise eine Situation heraufzubeschwören — das gilt ja auf längere Zeit auch für Sie —, in der man dieses Land — das ist, glaube ich, eine der großen Gefahren Ihrer Politik, wobei ich weiß, daß es unter Ihnen sehr verschiedene Meinungen und Nuancen gibt; ich mache ein Schwarzweißmalen nicht mit;

    (Abg. Rasner: Denkste! Möchteste!)

    Herr Rasner, es sind nicht alle so schlimm wie Sie, ganz bestimmt nicht —,

    (Beifall bei der SPD.)

    in der man diesen Staat praktisch handlungsunfähig macht, indem man erklärt: Für diese Dinge, die von Ihnen so lange hinausgeschoben worden sind, braucht man eine Zweidrittelmehrheit.
    Ich bin der Meinung, da Sie sich auf Wahlen berufen — ich verstehe Ihre Freude; herzlichen Glückwunsch! —, sollten Sie auch die Mehrheit in diesem Hause respektieren. Auch eine knappe Mehrheit hat das zu tun, was sie für das Wohl unseres Landes für erforderlich hält.
    Nun wäre ich über diese Juristerei schon unglücklich genug. Ich muß aber sagen, ich bedauere die rabulistische Art, mit der Herr Kollege Barzel auch politische Argumente hier hin- und her- und umgedreht hat.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.) Der Herr Bundeskanzler hat gesagt,


    (Abg. Lemmrich: Wenn man selber ein Rabulistiker ist wie Sie, Herr Ehmke, sollte man dies nicht anderen andichten!)

    damals hätten die Alliierten dabeigestanden. Da haben wir alle dabeigestanden, auch die CDU. Unter CDU-Kanzlern ist der fortschreitende Prozeß der Teilung Deutschlands hingenommen und respektiert worden. Es blieb uns ja gar nichts anderes übrig. Was macht Herr Barzel daraus? — Er spielt sich auf als die Schutzmacht der Alliierten

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien)

    und tut so, als wisse der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin nicht, was wir den Alliierten in Berlin zu verdanken haben. Das ist Rabulistik.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)




    Bundesminister Dr. Ehmke
    Damit kann man keine Politik machen. Und wenn wir in diesem Hause dazu kommen, daß wir nicht zur Gemeinsamkeit hinfinden, wird die Überschrift über diesem Kapitel Rainer Barzel heißen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rasner: Wehner heißen!)

    Damit komme ich zu der Reaktion, mit der Kollege Barzel heute morgen auf den Versuch des Bundeskanzlers geantwortet hat, die Fronten zu Lokkern. Daß das alles schwierige Probleme sind, daß man verschiedener Meinung sein kann, wissen wir. Was macht Herr Barzel? Er geht hier herauf und sagt dazu, sehr von oben herab: Das wäre zu loben. Dann kommt aber sofort: Na bitte, er zieht ja schon zurück; jetzt muß er auf unsere Position einschwenken. — Stellen Sie sich das als Gemeinsamkeit vor, jeden Versuch, in ein Gespräch zu kommen und gemeinsame Positionen zu behalten, so zu beantworten?! — Sie haben gleich großsprecherisch gesagt: er steckt die Pflöcke zurück. — Wir haben nichts zurückzustecken,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    weil wir ja doch im Ernst nicht zulassen können, daß Sie noch einmal 20 Jahre in der Deutschland-Politik nichts tun.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — OhoRufe von der CDU/CSU.)

    Ich ziehe aus den Wahlen eine ganz andere Folgerung. Wir haben uns viel zu lange damit aufgehalten - so fürchte ich, wie der Kollege Barzel, ich rede nur zu ihm, argumentiert hat --, den Versuch zu machen, breitere Mehrheiten zu finden. Sie wollen nicht. Sie hören nicht unsere Argumente. Wenn der Kanzler den Versuch macht, wird er erst gelobt. Dann kommt der Tritt und es wird gesagt: Na ja, jetzt muß er zurück; da ist ja auch nichts hinter. - Da muß sich Ihre Fraktion entscheiden. Wenn Sie das so machen wollen, ist klar, daß es keine Gemeinsamkeit gibt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir werden dann die Verantwortung, die uns der Wähler und die uns das Amt auferlegt, allein zu tragen haben. Ich bin der Meinung, daß wir das auch mit sehr gutem politischen Gewissen tun können, weil mir, Herr Dr. Kiesinger, nämlich einer der großen Unterschiede in der Art, wie an die ostpolitischen Fragen herangegangen wird, der zu sein scheint, daß die CDU/CSU sich, obgleich man konservativen Parteien eigentlich eine größere Wirklichkeitsbezogenheit nachsagt, rein in Deklamationen und Formeln bewegen. Ich nenne die wunderbarste Formel — Herr Barzel findet sie so schön, daß er sie gleich dreimal gesagt hat —: Die deutsche Frage „muß in der Substanz offen bleiben". Sie glauben doch nicht, Sie könnten, wenn Sie in der Ostpolitik nichts tun, sondern nur Resolutionen auf Parteitagen verabschieden, die Probleme so lösen, daß die Frage „in der Substanz offen bleibt". Sie ist in den letzten 20 Jahren nicht offen geblieben. Die Jugend dieser beiden Teile Deutschlands kennt sich kaum noch. Sie glauben doch nicht, daß Sie den historischen Prozeß, auf den Sie sich sonst immer berufen, hier ignorieren können. Das Problem ist doch dies —

    (Abg. Dr. Wörner: Welches ist denn die Schlußfolgerung, die Sie daraus ziehen?)

    — Das sage ich Ihnen gleich; das ist sehr einfach, Herr Wörner. Wenn gute Resolutionen beschlossen würden, dann würden wir sie auch gemeinsam beschließen. Aber was Sie machen, ist doch praktisch dies: Sie haben eine Fahne, darauf steht „Menschenrechte", darauf stehen Ihre Wünsche, darauf steht „Selbstbestimmungsrecht". Damit marschieren Sie an der Grenzlinie auf und ab und haben dabei ein gutes Gefühl.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir sind in den Grundsätzen nicht verschiedener Meinung, Herr Benda. Wir sind vielmehr der Meinung, es reicht nicht aus, das eigene Gewissen zu beruhigen, indem man stereotyp Grundsätze wiederholt, ohne seit Jahrzehnten Mittel zu finden, diese Grundsätze zur Anwendung zu bringen.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Wir sind der Meinung, daß man dann in die Arena heruntersteigen und das „schmutzige" und schwierige Geschäft machen muß, den Leuten wirklich zu mehr Rechten zu verhelfen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Daß das immer und immer wieder zitiert wurde, hat keinen Menschen drüben genützt, und das wird auch in Zukunft nicht nützen.

    (Zuruf von der CDU/CSU.)

    Ich greife das Wort von der Alternative auf. Ich habe nichts gegen die Grundsätze, die Sie proklamieren, wenn Sie dabei nur sagen würden, wie Sie denn im Gegensatz zu allem, was wir hinter uns haben, praktisch vorwärtskommen wollen.
    Ich will wie Sie, Herr Dr. Kiesinger, kein Prophet sein. Ich sage nur eines, es ist meine persönliche Beurteilung: Wenn die Chance, die sich im Augenblick im Rahmen und gewissermaßen auch unter der Decke der amerikanisch-sowjetischen Gespräche abzeichnet, verpaßt wird und wir wieder in die Positionen zurückfallen, die wir als unsere eigenen Prinzipien deklarieren und betonen, ohne irgend etwas in der Welt zu ändern, dann werden wir, Herr Dr. Kiesinger, genau zu dem kommen, was Sie vermeiden wollten, nämlich zu einer defensiven Politik. Ich kann Ihnen voraussagen, daß wir dann nach fünf oder sechs Jahren in der deutschen Politik stehen und sagen werden: Hätten wir damals zugegriffen und das gemacht, was als Regelung möglich war. Das sage ich Ihnen als meine Meinung. Jedenfalls können mich die 20 Jahre, die wir hinter uns haben, nicht überzeugen, daß nichts zu tun und immer nur die hehren Prinzipien zu zitieren irgend etwas besser macht.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)




    Bundesminister Dr. Ehmke
    — Ich würde gern ihre Frage beantworten, aber ich verstehe sie nicht.

    (Abg. Blumenfeld: Wohin und wo zugegriffen?)

    Auch dort ist doch das Problem: Wir sind uns einig, es soll Gewaltverzichtsverträge geben, wir wollen zu einer Regelung in Mitteleuropa kommen. Wir wissen, es gilt nach Osten, genauso wie es für Adenauer nach Westen gegolten hat, daß kein deutscher Bundeskanzler nachträglich den zweiten Weltkrieg gewinnen kann. Davon haben wir auszugehen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Man kann dann auch nicht sagen: Das meinen wir im Prinzip, und, wenn man dann mit einem harten Gegner zu verhandeln hat — und ich kann nur sagen, es ist in Moskau gut verhandelt worden —, sagen: Ja, aber hier weichen wir von unseren Prinzipien ab. Entweder meint man das ernst — dann muß man sich klar sein, daß die eigenen Prinzipien nicht voll durchzusetzen sind —, oder man sollte ganz glatt sagen: Wir tun lieber gar nichts, weil wir der Meinung sind, uns mit denen einzulassen führt nur dazu, daß die uns zurückdrücken. Diese Klarheit müssen wir auch einmal von Ihnen haben. Sonst haben wir hier viele Stunden lang und mit viel Kraft versucht, Gemeinsamkeiten zu finden, während ich jetzt nach der Intervention von Kollegen Barzel den Eindruck habe, daß Sie gar nicht daran denken, sie zu suchen und uns zu begleiten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rasner: Respekt! Ein treuer Diener seines Herrn! Das kann man nicht anders sagen!)



Rede von Liselotte Funcke
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rutschke.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Wolfgang Rutschke


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Barzel hat vorhin seine Ausführungen damit geschlossen, daß er bestrebt sei, Erleichterungen des Klimas in diesem Bundeshaus zwischen der Opposition und den Koalitionsparteien zu erreichen. Auch ich kann nur, wie es eben schon geschehen ist, die Feststellung treffen, daß er genau das Gegenteil dessen getan hat. Die Polemik, die seit einiger Zeit in verstärktem Maße in dieses Haus eingezogen ist, führt uns doch nicht weiter. Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir damit dem Ansehen dieses Bundestages in der Öffentlichkeit keinen Gefallen tun,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    sondern daß wir dem Parlament durch diese unsachliche Polemik schaden.
    Die Regierung gibt Antworten auf Fragen, die von der Opposition gestellt werden. Es hört aber von der Opposition offensichtlich niemand zu; denn man kommt drei Minuten später mit denselben Fragen, mit denselben Behauptungen, mit denselben Unterstellungen. Dann ist es natürlich sehr schwierig für die Regierung und die Koalitionsparteien, wieder von vorn anzufangen und sich gegen diese Gebetsmühlen zu wehren.
    Herr Barzel leider ist er nicht hier — gefällt
    sich dann in rabulistischen Darstellungen, indem er sagt, die CDU/CSU sei einverstanden, die Grenzen zu achten, aber das sei etwas völlig anderes, als wenn der Bundeskanzler sage, daß er die Grenzen achten werde und sie künftig als unverletzlich ansehe. Meinen Sie denn, wenn Sie sagen, daß Sie die Grenzen achten wollen, daß das nur eine Momentaufnahme ist, und wollen Sie gleichzeitig damit sagen, daß Sie in Zukunft nicht bereit sind, diese Aussage weiterhin aufrechtzuerhalten? — Ja, Herr Kiesinger, das ist doch aber die logische Folge daraus. Das ist doch die eine reine Rabulistik, was hier getrieben wird, was Herr Barzel hier tut.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sagen Sie doch klar, Sie wollen die Grenzen achten, aber nicht anerkennen! Dann wissen wir es! Sagen Sie das Wort!)

    — Aber verzeihen Sie, die Grenzen achten heißt,
    daß ich die Grenzen als bestehend sehe. Oder nicht?

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wollen Sie sie auch anerkennen?)

    Und wenn ich sage, daß ich diese Grenzen auch künftig unverletzlich halte, dann bezieht sich das doch auf Gewalt.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr gut!)

    Denn verletzen kann man doch nur durch Gewalt. Also!

    (Beifall bei den Regierungsparteien. -Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr gut! Das Wort hätte ich nur gern von dem Herrn Außenminister selbst gehört!)

    — Dann müssen Sie zuhören, Herr Kiesinger! Nur so ist es aufzufassen: Sie wollen eben in einer Form Unterschiede konstruieren, die letzten Endes in der Sache überhaupt nicht weiterführen.
    Ich hatte mir an sich vorgenommen, hier zur Europapolitik zu sprechen. Ich glaube, daß das zweckmäßiger sein wird; denn ich habe das Gefühl, daß das andere sinnlos ist. Man überzeugt niemanden, weil niemand überzeugt werden will. Das ist wirklich schlimm.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Anlaß für die heutige Debatte sind Vorlagen, die zeigen, daß wir auf dem Weg nach Europa ein entscheidendes Stück vorwärtsgekommen sind. Wir Freien Demokraten sind über diesen Fortschritt besonders befriedigt; denn hier zeigen sich Früchte einer Politik, die wir seit langem betrieben und maßgeblich mitgestaltet haben. Es ist seit jeher unsere Überzeugung, daß die politische Zukunft unseres Landes mitbestimmt wird von dem Fortgang der europäischen Einigungsbewegung.
    Diese europäische Bindung bedeutet für uns die feste Verankerung unseres Landes mit dem freiheitlichen und rechtsstaatlichen System des Westens. Nur mit dieser Verankerung sehen wir uns in der Lage, unsere Blicke auch auf jenen anderen Teil Europas zu richten, der nach dem Krieg in einer für



    Dr. Rutschke
    das deutsche Volk besonders schmerzlichen und tragischen Weise von uns getrennt worden ist. Wenn wir uns heute der Hoffnung hingeben, daß es uns gelingen kann, neue Brücken nach Osten zu schlagen, die unser Verhältnis zu Sowjetrußland und den anderen Staaten des östlichen Europas verbessern, wenn wir vielleicht auch einen Hoffnungsschimmer sehen, daß es uns gelingen kann, das Verhältnis zum anderen Teil Deutschlands zu normalisieren — in einem schweren und sicher sehr langwierigen Prozeß, an dessen Beginn wir eben erst stehen —, so war Voraussetzung für dieses Bemühen die Zuversicht, daß gleichzeitig das Ineinanderwachsen im freien Teil Europas und besonders innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fortschreiten werde. Diese Symmetrie in der Entwicklung unserer Beziehungen nach beiden Seiten ist für die FDP ein kardinaler Punkt ihres politischen Konzepts.
    Wie war die Lage im Herbst 1969, als wir mit der SPD die Koalition eingingen und diese Regierung bildeten? Die europäische Einigungsbewegung war festgefahren. Der europäische Gedanke schien erstickt in bürokratischem Tauziehen um technische Details, um Marktordnungen, von denen der Normalbürger dieses Landes wenig oder nichts versteht, von einem kleinlichen Feilschen um Zugeständnisse und Vorteile. Der große politische Schwung schien nach der Krise durch den zeitweiligen Auszug Frankreichs aus dem Ministerrat verloren. Es war offen, ob der europäische Gedanke noch eine Zukunft hätte, ob wir jemals aus der Zerstrittenheit herausfinden würden.
    Es ist dieser Bundesregierung und ihrer Initiative zu danken, wenn wir heute wieder hoffnungsfroher auf das kommende Europa blicken können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Schon fünf Wochen nach dem Regierungswechsel haben Bundeskanzler und Außenminister entscheidend zu einem neuen Durchbruch für den europäischen Gedanken auf der Haager Gipfelkonferenz beigetragen. Es ist ihnen gelungen, Frankreich aus seiner schwankenden Haltung mitzureißen. Daß es nicht bei einem Lippenbekenntnis geblieben ist, haben die Verhandlungen im EWG-Ministerrat während des letzten Winters gezeigt. Es ging darum, die Gemeinschaft zu vervollständigen und zu vertiefen, um den Weg für die Erweiterung freizumachen. Es galt, ein Bündel von Interessen in einen ausgewogenen Kompromiß aufzulösen. Die schwersten Brocken, die dabei aus dem Weg geräumt werden mußten, waren die Beschlußfassungen über die Agrarmarktordnungen für Tabak und Wein, auf die Italien auf Grund eines Ratsbeschlusses vom Mai 1960 einen Anspruch erhob.
    Gleichzeitig mußte die endgültige Finanzierungsregelung für den Agrarmarkt im ganzen gefunden werden, auf der Frankreich bestand, bevor über die Erweiterung • der Gemeinschaft verhandelt werden konnte. Auch Frankreich konnte sich auf eine Grundsatzregelung in Art. 2 der bekannten Finanzverordnung Nr. 25 berufen, die im Jahre 1962 vom Ministerrat verabschiedet worden war.
    Die deutschen Interessen lassen sich einfacher umschreiben und darstellen: Deutschland mußte sicherstellen, daß seine finanziellen Belastungen in Grenzen gehalten und die Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments gestärkt wurden. Denn dies letztere ist nach unserer Meinung von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Gemeinschaft, für ihre politische Selbständigkeit, für ihre Handlungsfähigkeit und für das Eigengewicht, das ihr zunehmend wird zukommen müssen.
    Es ging auch diesmal nicht ohne Marathonverhandlungen ab. Unseren Unterhändlern — und ich möchte hier neben dem Bundesaußenminister den Bundeslandwirtschaftsminister, aber auch den Staatssekretär des Bundesministeriums der Finanzen nennen — sind wir besonderen Dank schuldig. Sie haben Unermüdlichkeit und Verhandlungsgeschick bewiesen, womit sie entscheidend zu einem ausgewogenen und auch für die Bundesrepublik befriedigenden Ergebnis beigetragen haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich glaube, es ist kein Zufall, daß mit den Genannten drei Freie Demokraten in vorderster Linie diese Schlacht für Europa geschlagen haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Besonders hervorheben möchte ich die folgenden Punkte: Erstens. Mit der Übertragung der eigenen Einnahmen wird die Grundlage für eine neue europäische Finanzverfassung geschaffen. Ab 1. Januar 1971 werden die Matrikularbeiträge an die Gemeinschaft mit unbeschränkter Nachschußpflicht abgelöst durch ein ausgewogenes Finanzierungssystem, in dem zugleich die Lasten begrenzt werden. Dieser Gesichtspunkt scheint mir für den deutschen Steuerzahler von besonderem Interesse zu sein. In den früheren Diskussionen war dieser Gedanke nicht oder allenfalls nur in Andeutungen zu finden.
    Zweitens. Verbunden hiermit ist es gelungen, den Gedanken einer mehrjährigen Finanzplanung im europäischen Bereich durchzusetzen. Kernstück dieser Regelung ist eine dreijährige Finanzplanung. Dies bedeutet nicht nur mehr Vorausschaubarkeit und mehr Sicherheit für die Entwicklung in Europa. Es gibt auch den Partnerländern und vor allem uns selbst eine Grundlage für unsere eigenen Haushaltsund Finanzplanungen. Das Damoklesschwert der unvorhersehbar und ins Ungemessene wachsenden Nachschußpflichten an europäische Fonds ist beseitigt worden.
    Drittens. Mit der Übertragung eigener Einnahmen und der Verstärkung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments wird endlich auch im europäischen Bereich das originärste parlamentarische Recht, das Budgetrecht, mit einem ersten Schritt eingeführt.

    (Beifall bei der FDP.)

    Ich brauche hier nicht zu unterstreichen, was das bedeutet, denn in der geschichtlichen Entwicklung des Parlamentarismus spielt das Haushaltsrecht eine überragende Rolle. Und ,ich bin sicher, daß das in Zukunft nicht anders sein wird.



    Dr. Rutschke
    In der Interimszeit, also vom 1. Januar 1971 bis 31. Dezember 1974, hat noch der Ministerrat das letzte Wort beim Europäischen Parlament Eine weitergehende Befugnis für das Europäische Parlament wäre wünschenswert. Sie ließ sich aber angesichts des Widerstandes der anderen Mitgliedstaaten noch nicht durchsetzen. Ich möchte an dieser Stelle die Bundesregierung auffordern, diesem Punkt ihre besondere Aufmerksamkeit zu widmen und bei günstiger Gelegenheit neue Vorstöße zu unternehmen, damit wir in diesem kardinalen Punkt baldmöglichst weitere Fortschritte verzeichnen können.
    Viertens. Mit den Marktordnungen für Tabak und Wein ist der Agrarsektor in dieser europäischen Verhandlungsrunde weitgehend bereinigt worden. Besonders bedeutsam waren die Verordnungen auf dem Tabaksektor, denn hier verknüpfen sich Marktordnungsprobleme mit großen Steuerproblemen. Wir haben verhindern können, daß wir uns dem Diktat anderen Verbrauchergeschmacks unterwerfen müssen, und wir haben sichergestellt, daß unsere Handelsbeziehungen zu dritten Ländern nicht gestört werden.
    Bei der Verabschiedung der Weinmarktordnung hat es äußerst schwieriger und zäher Verhandlungen von Minister Ertl bedurft, um sowohl die Interessen der deutschen Verbraucher als auch die Interessen der deutschen Weinanbauer zu wahren. Der deutsche Wein hat in der Welt 'seine Qualitätsgeltung, und er wird sie unter den neuen Marktordnungen behalten und sogar noch ausbauen können.
    Diesen Teil der Einigungsfortschritte im Bereich der Agrarmarktordnungen, der von diesem Hausse nicht ratifiziert zu werden braucht, muß man kennen, wenn man ,das Gesamtwerk würdigen will, von dem hier ein entscheidender Teil auf dem Tisch liegt.
    Meine Damen und Herren, so begrüßenswert diese Fortschritte für den Gemeinsamen Markt der Sechs sind, wesentlich bedeutsamer ist noch, daß damit der Schlüssel für das Tor gefunden ist, durch das weitere Länder Eingang in die Gemeinschaft finden können und sollen. Die Freien Demokraten begrüßen es in ganz besonderer Weise, daß in diesem Sommer endlich ein neuer Anlauf unternommen wird. Wir hoffen sehr, daß nun der Beitritt Großbritanniens und der anderen beitrittswilligen Länder, Dänemark, Norwegen und Irland, gelingen möge. Wir möchten den Herrn Bundeskanzler und den Herrn Außenminister insbesondere darum bitten, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, diesen Erfolg herbeizuführen. Wir wissen, daß die Verhandlungen schwierig sein werden. Wir wissen, daß viele technische, im einzelnen äußerst schwierige Probleme gelöst werden .müssen.
    Wir wissen 'aber auch, daß es gilt, entscheidende berechtigte 'deutsche Interessen zu wahren, und daß wir uns auch hier wieder mit einer gewissen Geduld wappnen müssen. Die neu eröffnete Chance, die Gemeinschaft auf ein größeres Europa zu erweitern, darf nicht verspielt werden. Dieser Zwang darf uns aber andererseits nicht davon abhalten, unsere berechtigten Interessen nachdrücklich zu vertreten. Wir haben die Zuversicht, daß 'dies bei dem Verhandlungsgeschick, da's unsere Unterhändler bei den Verhandlungen im letzten halben Jahr bewiesen haben, gelingen wird.
    Der Vorteil Europas für den europäischen Verbraucher darf nicht durch untragbare Belastungen für den europäischen Steuerzahler erkauft werden. Andererseits wissen wir aber auch, daß die europäische Einigung ihren Preis hat und einen Preis wert ist.
    Um eines ganz klar zu sagen: die Erweiterung und Vollendung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist nur vordergründig eine vorwiegend wirtschaftliche Frage. Sie ist ihrem Kern nach eine politische Frage, und zwar eine politische Existenzfrage dieses Kontinents. Die Freien Demokraten begrüßen die Gesetzesvorlage und werden ihr zustimmen. Wir sehen darin eine Ermutigung und Ermunterung. Wir werden fortfahren, auf der Grundlage der fortschreitenden europäischen Einigung zur Entspannung in Europa — und ich meine hier ganz Europa — entscheidend beizutragen. So verstehen wir europäische Politik und deutsche Politik, denn deutsche Politik muß immer Europapolitik sein.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)