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ID0605902400

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    Vokabeln: 6
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    6. Bundeskanzler.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 59. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 Inhalt: Begrüßung des Präsidenten des indischen Unterhauses . . . 3215 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . 3215 A Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschland-, Ost- und Europapolitik (Drucksachen VI /691, VI /757) in Verbindung mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Beschluß des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (Drucksache VI /880) — Erste Beratung — und mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. Arpil 1970 zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrags zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Drucksache VI /879) — Erste Beratung — Brandt, Bundeskanzler . 3215 C, 3244 C Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 3219 B Wienand (SPD) 3226 C Borm (FDP) 3230 D Scheel, Bundesminister . 3235 D, 3268 A Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . . 3240 B, 3248 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 3245 A, 3275 D Dr. Apel (SPD) 3248 D Dr. Ehmke, Bundesminister 3250 A, 3272 B Dr. Rutschke (FDP) 3252 B Baron von Wrangel (CDU/CSU) 3254 D Behrendt (SPD) . . . . . . . 3256 C Strauß (CDU/CSU) 3261 B Mischnick (FDP) 3273 D Nächste Sitzung 3276 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 3277 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3215 59. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1970 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3277 Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Bartsch 19. 6. Breidbach 19. 6. Frau Dr. Focke 17. 6. Heyen 19. 6. Katzer 17. 6. Freiherr von Kühlmann-Stumm 17. 6. Dr. Lohmar 30. 6. Müller (Remscheid) 17.6.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Kurt Georg Kiesinger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in dieser Debatte von verschiedenen Rednern auf meine eigene Politik in der Zeit der Großen Koalition und insbesondere auf die in der Tat präziseste Formulierung dieser Politik, dieser Deutschland- und Ostpolitik während der Zeit der Großen Koalition in meiner Rede vom 17. Juni 1967 angesprochen worden. Ich bin daher gezwungen, in einer kurzen Intervention darauf einzugehen. In diesen Zitaten wurden Sätze aus jener Rede herausgeholt, die den Irrtum erwecken könnten, als ob die gegenwärtige Politik in der Tat nur eine Fortsetzung dessen sei, was wir damals gemeinsam getragen haben. Lassen Sie mich deswegen, ohne daß ich mich im weiteren dabei aufhalten will, mich selbst zu zitieren, wenigstens zwei Kernsätze aus jener Rede des 17. Juni in die Erinnerung rufen, die deutlich machen, wo die Unterschiede liegen.
    Der eine Satz heißt:
    Entspannung darf nicht auf eine resignierende Hinnahme oder gar auf eine Besiegelung des Status quo hinauslaufen.

    (Abg. Baron von Wrangel: Sehr richtig!)

    Wo immer in der Welt bei widerstreitenden Lebensinteressen der betroffenen Völker der Status quo als dauerhafte Befriedung mißverstanden würde, schafft man einen Krankheitsherd, der jeden Augenblick epidemisch werden kann.

    (Abg. Baron von Wrangel: Sehr richtig!)

    Und weiter:
    Ich wiederhole, daß wir uns auf Scheinverhandlungen nicht einlassen werden, die nur der bisher von der freien Welt verweigerten internationalen Anerkennung Ostberlins dienen sollen.
    Herr Bundeskanzler, ich wäre der letzte, der gerade an diesem Tag, am 17. Juni, das zarte Pflänzchen, das allenfalls noch vorhanden sein könnte, einer größeren Übereinstimmung in Sachen der Außenpolitik zertreten würde. Aber es geht einfach nicht an — und die Rede des Herrn Außenministers soeben hat es mir wieder ganz deutlich gezeigt —, daß wir aneinander vorbeireden. Aber, Herr Außenminister, wir reden nicht an Ihnen, sondern Sie reden an uns vorbei.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ein Satz des Herrn Kollegen Borm heute vormittag hat mich geradezu erschreckt. Da hieß es, die Lage sei nun einmal so, daß man sich „irgendwie arrangieren" müsse. Herr Bundeskanzler, ich hoffe, daß Sie nicht bereit sind, diesen Satz als die Parole Ihrer Ost- und Deutschlandpolitik zu akzeptieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Irgendwie arrangieren, meine Damen und Herren, mußten und müssen sich leider unsere Landsleute drüben. Wie sollten sie denn sonst leben können? Wir aber sind freie Menschen, freie Deutsche, und als solche verantwortlich für das Schicksal drüben. Wir müssen uns nicht „irgendwie arrangieren", sondern wir haben das Recht und die Pflicht, nach einer gerechten und dauernden Lösung des Friedens in Europa zu suchen,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    die auch die Lösung der deutschen Frage einschließt.
    Das war auch der Grundtenor meiner damaligen Rede zum 17. Juni, und ich wünschte, wir stünden noch auf derselben gemeinsamen Grundlage wie damals;

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)




    Dr. h. c. Kiesinger
    denn, Herr Bundeskanzler, nicht wir, sondern Sie sind ja von der gemeinsamen Grundlage abgesprungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich will nicht weitschweifig sein. Unsere Bevölkerung versteht ja vielfach die juristischen Auseinandersetzungen nicht, die wir leider zu führen gezwungen sind; aber juristische Auseinandersetzungen, Herr Bundeskanzler, sind kein Formelkram. Vor allem werden sie nicht als Formelkram von jener Macht behandelt und behandelt werden, die damit souverän umzugehen versteht, wenn es gilt, juristische Formulierungen in ihrem Sinne in politische Praxis umzusetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Lassen Sie mich einen Aspekt aufnehmen, in dem ich Ihnen im Prinzip zustimme. Sie haben gesagt, was auch mich als Bundeskanzler umgetrieben hat: Was ist der von uns für den europäischen Frieden zu leistende Beitrag, und zwar unser eigener und, wie Sie sagten, unersetzbarer Beitrag. Jawohl, darum geht es, das ist die Kernfrage der Deutschland- und Ostpolitik, und das ist auch die Kernfrage, zwischen uns.
    Welches ist dieser unser eigener, dieser unersetzliche, durch keine andere Nation, durch kein anderes Land zu ersetzende Beitrag, den wir leisten können? Hier fängt es an, zwischen uns wolkig zu werden. Wann immer wir versuchen, Sie zu einer präzisen Aussage zu bringen, weichen Sie in das Abstrakte aus. Wir sagen Ihnen: Wir wollen auch — und wir haben ja damit begonnen, es zu wollen — einen Gewaltverzicht mit der Sowjetunion. Sie nennen aber ganz offenbar einen Vertrag mit der Sowjetunion einen Gewaltverzichtsvertrag, dessen eigentliche Substanz, dessen eigentlicher Inhalt etwas ganz anderes ist, nämlich, wie wir fürchten müssen, die Annahme aller wesentlichen Bedingungen der Sowjetunion, die wir seit Jahren kennen.

    (Beifall bei der CDU/ CSU.)

    Sie sagten und das klingt schön : Gewaltverzichtsverträge dürften die Lösung unserer nationalen Frage nicht verbauen. Und Sie fügten hinzu, die Sowjetunion habe andere Vorstellungen als wir. Gut, das wissen wir gemeinsam. Dann aber kommt der gefährliche Satz: Die Sowjetunion kennt auch diesen Teil unserer Geschäftsgrundlage. Herr Bundeskanzler, für jeden Juristen ist klar, was „Geschäftsgrundlage" heißt. Geschäftsgrundlage ist nicht ein einseitiger Vorbehalt eines der beiden Partner eines Vertrages, sondern ist der zwar im Vertragstext nicht enthaltene, aber als Fundament genommene Teil der Verhandlungen, von dem beide Partner übereinstimmend ausgehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir haben bei allen Ihren Formulierungen die schwere Sorge, daß Sie genau das tun, was Ihr Außenminister in sehr deutlichen Worten abgelehnt hat: daß Sie bereit sein könnten, Vertragstexte, Entwürfe für Vertragstexte zu akzeptieren, in denen beide Parteien jeweils von ihrer einseitigen Voraussetzung ausgehen. Das aber wäre in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion geradezu selbstmörderisch.
    Und warum diese verschleiernde Sprache? Soll sie dazu dienen, den übermächtigen Partner, mit dem wir es zu tun haben, bereit zu machen, sich auf . irgendeinen Vertragstext einzulassen? Sie sprechen von den „Realitäten" und übernehmen unbesehen die Forderung der Sowjetunion, daß man diese Realitäten anerkennen soll. Der Herr Außenminister hat soeben gesagt, die Sowjetunion habe darauf bestanden, daß man das Wort „Anerkennung" akzeptiere. Sie selber sagen, daß man die reale Lage „anerkennen" müsse. Nein, Herr Bundeskanzler: Wir haben die reale Lage zwar zu erkennen, sie aber nicht rechtlich und politisch anzuerkennen, sondern, von der realen Lage ausgehend, diese im Interesse des deutschen Volkes zu verbessern.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie mögen mir einwenden: Wie wollen Sie das tun, wie wollen Sie das zustande bringen? Heute früh war hier in einem Beitrag die Rede davon, daß man eben Millimeter um Millimeter vorwärtskommen müsse. Meine Damen und Herren, wir haben viel mehr die Sorge, daß die Sowjetunion es ist, die nicht nur Millimeter um Millimeter, sondern Meter um Meter in solchen Verhandlungen vorwärtskommen würde.

    (Erneuter lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU.)

    Ich habe mit großem Interesse das Weißbuch des Herrn Verteidigungsministers gelesen. Darin stehen sehr beherzigenswerte Sätze über die wirkliche Lage Europas. Der Herr Verteidigungsminister hat Belaubt, sich an mir reiben zu müssen, weil ich im Saarland angeblich unverantwortliches Zeug geredet hätte.

    (Zuruf von der SPD: Wie immer!)

    Meine Damen und Herren, ich wiederhole klipp und klar das, was ich dort gesagt habe: Mein Ziel als Bundeskanzler ist es gewesen, zu wirklichen Verhandlungen mit dem Osten zu kommen, sowohl mit der Sowjetunion als auch mit den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands, als auch mit Polen. Verhandeln aber heißt, sich entgegenkommen, verhandeln heißt, daß nicht der eine Teil vom anderen, wie dies bisher ganz offensichtlich geschieht, verlangt, daß er sich den Bedingungen beugt. Deswegen habe ich gesagt — und ich sage es wieder hart und klar —: Ich wollte verhandeln, aber ich wollte nicht zum Befehlsempfang erscheinen,

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Sie sprachen davon, Herr Bundeskanzler, daß man die Realitäten erkennen und anerkennen müsse, die Bemäntelung der Realitäten dagegen sei kleinlich. Wir fragen uns: Wer bemäntelt die Realitäten? Ich habe bei anderer Gelegenheit in diesem Hause gesagt — und im übrigen stelle ich fest, daß auch der Herr Verteidigungsminister ähnlicher Auffassung ist --, daß die wirkliche Realität in Europa die ist, daß die Sowjetunion erstens festhalten will, was sie

    Dr. h. c. Kiesinger
    hat, daß sie das, was sie hat, durch unsere Unterschrift und die Zustimmung vieler anderer besiegeln will, daß sie darüber hinaus ihren Einfluß auf Westeuropa bis zur Küste des Atlantik ausdehnen will und dies zu erreichen versucht durch die Schwächung oder gar die Zerstörung des atlantischen Bündnisses, durch die Verdrängung der amerikanischen Truppen vom europäischen Kontinent und durch die Verhinderung der westeuropäischen wirtschaftlichen und politischen Einigung. Ich glaube nicht, daß irgend jemand in diesem Haus, der einen klaren Blick für die Realitäten in Europa hat, diese Zielsetzungen der Sowjetunion leugnen kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Deswegen wiederhole ich, daß es dieselben Zielsetzungen sind, die die Sowjetunion auch bei den Verhandlungen mit Ihrer Regierung in Moskau verfolgt, Herr Bundeskanzler.
    Deswegen kann man uns nicht entgegenhalten: Ihr dürft die Stunde nicht verpassen! Was ist das für eine Stunde, die wir verpassen könnten? Sie reden davon, daß sich die westliche Welt anschicke, ihre Beziehungen mit dem Osten zu ordnen, zu normalisieren, oder daß sie diese Beziehungen normalisiert habe. Herr Bundeskanzler, diese westliche Welt ist in einer anderen Situation als wir. Ich wiederhole, was mein Freund von Guttenberg von dieser Stelle aus gesagt hat: Die westliche Welt hat die großen Probleme nicht, die zwischen uns und der Sowjetunion stehen: die deutsche Teilung. Von einer Normalisierung unserer Beziehungen, von
    einem Beginn der Normalisierung unserer Beziehungen mit der Sowjetunion kann doch wahrlich erst die Rede sein, wenn es ein Zeichen dafür gibt, daß sie bereit ist, mit uns gemeinsam einen Weg zu bahnen, der eine gerechte Lösung der deutschen Frage herbeiführt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Dafür haben wir bis jetzt leider nicht das geringste Anzeichen. Ich fürchte, Sie selber werden nicht mit allzugroßen Hoffnungen in diese Verhandlungen gehen können.
    Es ist nun einmal eine Binsenwahrheit, die ich kürzlich mit einem Bismarck-Wort zitiert habe, daß man in der Politik seine Uhren nicht vorstellen könne, um die Zeit herbeizuzaubern, in der Handeln möglich ist. 20 Jahre sind eine lange Zeit. Wir haben in diesen 20 Jahren immer wieder hören müssen, wir seien nicht weitergekommen. Meine Damen und Herren, es geht gar nicht so sehr darum, daß wir in diesem Augenblick weiterkommen, es geht vielmehr darum, daß wir nicht durch eine falsche Politik weiter zurückfallen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    In meiner Rede zum 17. Juni habe ich gesagt, eine rein defensive Politik genüge nicht. Ich stehe heute noch zu diesem Satz wie zu jedem Satz in jener Rede.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Ich war damals glücklich, mich in der Koalition
    einig zu wissen, daß dies die Grundlage unserer
    gemeinsamen Politik sei. Aber ich verstehe unter
    einem nichtdefensiven Verhalten eben auch kein resignierendes Verhalten, keinen Willen zum„ Sichirgendwie-Arrangieren”, wie es heute Herr Kollege Borm ausgedrückt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Im übrigen, wenn wir geschichtliche Überlegungen anstellen: ich bezweifle ganz einfach, Herr Bundeskanzler, daß man feststellen kann, es sei alles immer schlimmer, immer härter geworden. Meine Grundüberzeugung ist es seit langem, daß dort, wo der sowjetrussische Soldat in Europa haltgemacht hat — und bedenken wir, das ist nicht nur in Osteuropa und nicht nur in Mitteleuropa, sondern in Westeuropa; denn die Wartburg liegt in Westeuropa , von Anfang an nach dem Willen der sowjetrussischen Machthaber auch die neuen Grenzen ihres Imperiums liegen sollten. Das ist eine These, die man natürlich aus allen möglichen Konferenzverhandlungen bestreiten könnte. Aber einem tiefer dringenden Blick in die geschichtliche Wirklichkeit, in die Realitäten, die Krieg und Nachkrieg geschaffen haben, kann sich dieser sowjetrussische imperale Wille, der von Anfang an vorhanden war, nicht entziehen.
    Herr Bundeskanzler, Sie sagen: Schon andere Regierungen mußten Grenzen respektieren, schon andere Regierungen haben erklärt, daß sie keine Gebietsansprüche erhöben. Bitte reden wir doch klar und deutlich miteinander! Wollen Sie damit sagen, daß Sie mit uns wie früher der Meinung sind, daß der Ausdruck „Grenzen respektieren" eine fundamental andere Bedeutung hat als der Ausdruck „Grenzen anerkennen"?

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Wenn Sie sagen wollen, „Grenzen respektieren" oder „Respektierung der territorialen Integrität", das sei der Gewaltverzicht, das bedeutet nur, daß wir bei der Verfolgung unserer nationalen Ziele auf Gewalt verzichten, — Sie brauchen nur dieses erlösende Wort zu sprechen, Herr Bundeskanzler, und Sie haben dafür die Zustimmung der Opposition in diesem Hause.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Warum sprechen Sie dieses erlösende Wort nicht? Deswegen, weil Sie glauben, daß man dann in Moskau mimosenhaft zurückzucken wird und nicht mehr bereit sein wird, einen Text zu vereinbaren? Diesen schillernden Text habe ich nicht veröffentlicht, Herr Bundeskanzler, und auch seine Veröffentlichung nicht veranlaßt, --- um es Ihnen bei dieser Gelegenheit deutlich zu sagen. Aber er ist uns inzwischen durch den Sprecher der Bundesregierung als im großen und ganzen richtig bestätigt worden. Das sei kein Entwurf, sagt der Herr Außenminister. Was ist es denn? 40 Stunden lang hat Herr Egon Bahr mit einem der höchsten Verantwortungsträger der Sowjetunion verhandelt. Glauben Sie denn wirklich, daß die Sowjetunion das als ein bloß provisorisches Stückchen Papier ansehen wird? Sie wissen selbst, daß es anders ist. Sie wissen, daß die Sowjetunion auf diesem Text insistiert, wenn es überhaupt zu einer Abmachung kommen soll. Oder ist es nicht so? Wenn es nicht so ist, wenn Sie glauben,

    Dr. h. c. Kiesinger
    daß die Sowjetunion bereit ist, sich zu einer Änderung dieses Textes in unserem Sinne bereit zu finden, dann allerdings wäre auch das wieder ein erlösendes Wort.
    Der Außenminister hat hier die Zustimmung der Verbündeten im Schlußkommuniqué von Rom vorgelesen. Sie können diese Zustimmung Wort für Wort von uns haben, Herr Bundeskanzler. Denn selbstverständlich sind wir für Gespräche mit dem Osten zur Herbeiführung einer Besserung der Lage in Europa. Die Frage ist: Zu welchen konkreten Maßnahmen, zu welcher konkreten Politik haben diese Verbündeten ihre Zustimmung erteilt?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Was wissen sie im einzelnen von den Verhandlungen, die Herr Egon Bahr in Moskau geführt hat? Haben Sie ihnen das gesagt? Was haben Sie dazu gesagt? Wir haben ia auch Ohren in den Hauptstädten der Welt, und manches spricht sich herum, ohne das man Schnüffelei betreiben muß.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Es hätte dem Herrn Bundesaußenminister wohl angestanden, wenn er auch Ziffer 4 des Schlußkommuniqués der NATO-Ministerkonferenz vorgelesen hätte; denn sie ist untrennbar verbunden mit jener Ziffer 8, in der die allgemeine Zustimmung zu solchen, auf den Frieden und auf Entspannung zielenden Gesprächen ausgedrückt wird. Dort steht nämlich der lapidare Satz:
    Die Minister bekräftigten, daß der Friede, um dauerhaft zu sein, ... auf der Respektierung des Rechts der europäischen Völker beruhen muß, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, ohne daß sie von außen mit Intervention, Zwang oder Nötigung bedroht werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Bundeskanzler, Sie wollen die Realitäten — das war Ihr Wort -- nicht nur erkennen, sondern anerkennen; Sie wollen zugleich das Unrecht nicht anerkennen. Erklären Sie mir den Widerspruch in diesen beiden Aussagen!
    Die Sowjetunion fordert von uns ohne jeden Zweifel die Anerkennung, jetzt und in Zukunft, der in Europa bestehenden Lage und der bestehenden Grenzen, auch der zwischen uns und der DDR sowie der Oder-Neiße-Linie. Die Sowjetunion vertritt die Breschnew-Doktrin — wie oft müssen wir es sagen? —, eine Doktrin, die die Bevölkerungen des kommunistischen Imperiums dort in ewiger Gefangenschaft hält, die ausdrücklich das Selbstbestimmungsrecht im Sinne eines eigenen sowjetischimperialen Völkerrechts einengt.
    Wie wollen Sie sich mit dieser Theorie, mit diesem Handlungsprinzip der Sowjetunion auseinandersetzen, das sie ja in der Tschechoslowakei so eindrucksvoll praktiziert hat? Wie wollen Sie Ihr allgemeines Credo zum Selbstbestimmungsrecht gegenüber dieser glasklaren Haltung eines Partners aufrechterhalten, dessen Ziele wir kennen und über dessen Ziele auch Sie sich keine Illusionen machen können und dürfen?
    Nun zur angeblichen Schwächung der Verhandlungsposition. Sie haben gesagt, die Regierung sei verpflichtet, das von ihr als notwendig Erkannte ohne Rücksicht auf die schwache Mehrheit hier im Parlament durchzuführen. Vielleicht haben Sie in Gedanken hinzugesetzt: auch ohne Rücksicht auf das Votum, das die Bevölkerung von drei Ländern der Bundesrepublik am vergangenen Sonntag gefällt hat.

    (Zuruf des Abg. Wehner.)

    Herr Bundeskanzler, wenn in einer so säkularen Frage wie der Lösung des deutschen Problems und der Anbahnung einer europäischen Friedensordnung von irgendeiner Regierung Erfolge erzielt werden sollen — Sie sind sich doch im klaren darüber, daß das auch in Moskau so gedacht wird , dann kann das nur geschehen, wenn sie diese ihre Politik auf eine breite Zustimmung des deutschen Volkes stützen kann. Herr Wehner hat kürzlich — einige andere Ihrer Parteifreunde haben es auch getan —geglaubt sagen zu können, es gebe zwar in diesem Hause nur eine schwache Mehrheit für Ihre Politik, inzwischen habe sich aber im deutschen Volk eine viel breitere Zustimmung zu dieser Politik gefunden. Herr Bundeskanzler, der vergangene Sonntag hat eindeutig das Gegenteil erwiesen!

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Ihre Hetze hat Ihnen nicht viel eingebracht! — Weitere Zurufe.)

    Ich will jetzt nicht sagen, was angesichts der Anschuldigungen notwendig wäre, die auch Sie, Herr Bundeskanzler, gegen uns erhoben haben.

    (Abg. Wehner: Ihre Hetze hat Ihnen nicht viel eingebracht!)

    Was uns politische nationale,

    (Abg. Wehner: Ja, ja!)

    nicht nationalistische Sorge ist, wird uns diffamierend als „Nationalismus" vorgeworfen.

    (Erneuter Zuruf des Abg. Wehner. — Weitere Zurufe von der SPD. — Gegenrufe von der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, ich spreche für jeden einzelnen meiner Parteifreunde hier in diesem Hause

    (Abg. Wehner: Ach! — Weitere Zurufe von der SPD)

    und in unserem ganzen Lande, wenn ich sage: Die CDU/CSU hat sich in diesen vergangenen Jahren und Jahrzehnten, seit der Gründung der Bundesrepublik, von niemandem, aber auch von gar niemandem darin übertreffen lassen, die Verantwortung für den Frieden und die Freiheit in Europa voll und ganz wahrzunehmen. Wir wissen, es gibt für dieses deutsche Volk keine Zukunft, es sei denn, eine europäische. Das war der Inhalt der ersten Rede, die ich Ende 1949 von diesem Platze aus gehalten habe, und ich habe daran kein Wort zu ändern.
    Nun zu dem, was von draußen in der Welt —ich meine jetzt nicht das NATO-Schlußkommuniqué, das wir völlig billigen — Ihnen an Zustimmung



    Dr. h. c. Kiesinger
    entgegenklingen mag: herr Bundeskanzler, Sie selber wissen, daß eine lästige und schwere Frage, die irgendein Volk in die Gemeinschaft der freien Völker einbringt, natürlich oft von den anderen -- und da schlagen wir bitte auch an unsere eingene Brust — beiseite geschoben wird und oft ein skandalon ist, etwas, was man gerne loswerden möchte.
    Eine große englische Zeitung hat dieser Tage geschrieben, nun werde Bundeskanzler Brandt daran gehindert, die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges zu besiegeln. So werden Sie draußen vielfach verstanden und ich hoffe: mißverstanden —, Herr Bundeskanzler. Sie gewinnen die Zustimmung manches Leitartiklers, manches Kommentators draußen. Das war in den vergangenen Jahren nicht anders. Lassen Sie mich an eine interessante Begebenheit erinnern. Nach dem Wahlsieg der CDU 1953 hatten wir eine große Debatte in der Beratenden Versammlung des Europarats. Da brach es noch einmal auf: das Mißtrauen, der Verdacht, der Argwohn, die Feindschaft. Alles richtete sich gegen Konrad Adenauer, den Bundeskanzler.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Gesteuert!)

    Er wurde damals als der Vertreter alter, restaura-liver nationalistischer Kräfte angeklagt und angeprangert. Ich hatte die Ehre, darauf zu antworten. -- Das muß man auch einmal vorübergehend aushalten: mißverstanden zu werden.
    Uns kommt es auf zwei Dinge an, erstens, daß wir
    B) eine Politik treiben, die wirklich im Interesse unseres Volkes liegt, und zweitens darauf, daß wir zeigen, wo die möglichen Lösungen liegen. Entgegen Ihrem Pessimismus sind wir der Meinung, daß die große Lösung in Europa liegt und daß nicht — wie der Herr Außenminister heute wieder gesagt hat und wie auch Sie meinten — im nächsten Jahrzehnt die wirtschaftliche Einigung komme und dann irgendwann einmal in ferner Zukunft die politische. Der Zeiger steht auf fünf Minuten vor zwölf, Herr Bundeskanzler.

    (Lachen und Zurufe von der SPD.) Fünf Minuten vor zwölf, meine Herren!


    (Beifall bei der CDU/CSU. — Erneute Zurufe von der SPD.)

    Ich hoffe nicht, Sie in wenigen Jahren an diesen Satz erinnern zu müssen.

    (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Ja, Sie denken, daß wir in fünf Minuten machen können, was Sie in 20 Jahren nicht schaffen!)

    Nicht erst spätere Generationen haben die Aufgabe, ein politisches Europa — nicht nur zweimalige Konsultationen der Außenminister im Jahr — zu schaffen. Jetzt müssen wir anfangen, Institutionen einzurichten!

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Sie sagen, das sei nicht möglich. Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, das ist sehr wohl möglich! Man braucht nur bescheiden anzufangen. Man kann sehr wohl

    (anhaltende Zurufe von der SPD)

    einen gemeinsamen Rat von hochrangigen Experten der europäischen Staaten zusammenbringen, der in Permanenz tagt und berät und der die Verhandlungen der Außenminister gründlich vorbereitet. Das allein schon wäre ein hoffnungsvoller Schritt.
    Wie anders wollen Sie denn die Mahnung des amerikanischen Präsidenten verstehen, der uns erst vor kurzem sagte: Dieser Gemeinsame Markt schafft für Amerika schwere Probleme, und je größer er wird, desto schwerer. Wir sind bereit, sagte er, diesen Preis zu zahlen, aber dann doch mit der Erwartung, daß es den Europäern gelingt, eine politische Union zu begründen. Der amerikanische Präsident hat sicher nicht gehofft, daß uns das in etwa zwanzig Jahren gelinge; er hat sicher wie wir gemeint, daß wir jetzt und hier damit beginnen.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU.)



Rede von Dr. Hermann Schmitt
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, was es mit den Landtagswahlen auf sich hat.

    (Lachen und Zurufe von der CDU, CSU.)

    Herr Kollege Kiesinger, wollen Sie bestreiten, daß die Parteien, die diese Regierung tragen, mehr Stimmen bekommen haben als Ihre Partei?

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

    Da können Sie sagen, was Sie wollen, ich habe nichts abzustreichen von dem Satz, daß das, worum diese Regierung sich zumal in der Außenpolitik bemüht, Zustimmung über den Kreis derjenigen hinaus findet, die diese Parteien wählen. Viele Ihrer Wähler werden Ihnen auf dem Weg, vor dem hier heute von Ihnen die Rede ist, in den kommenden Jahren nicht folgen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Im Gegenteil! Wir sprechen uns im Winter wieder! Abg. Haase [Kassel] : Mut der Verzweiflung! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    Ich hatte schon bei Herrn Marx den Eindruck, daß wir heute nicht weit kommen würden.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Neuwahlen!)

    Denn, meine Damen und Herren, was hat es für einen Sinn, wenn die Opposition sich nach dem Motto jenes Berliners verhält, der sagt: „nicht mal ingnorieren!" Die Opposition nimmt einfach nicht zur Kenntnis, was der Bundeskanzler, was der Bundesaußenminister hier heute vormittag vorgetragen haben.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    Außerdem, verehrter Herr Kiesinger, wie soll man sich mit jemand verständigen, der in bezug auf

    Bundeskanzler Brandt
    den innenpolitischen Partner, den Nachfolger, die demokratische Regierung dieses Landes, suggerieren will, er könne sich zum Befehlsempfänger anderer machen wollen? Ich muß das mit Empörung zurückweisen.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Einzelne Pfui-Rufe bei der SPD. — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Wenn man sich mißverstehen will, muß man es so machen!)

    Damit wir uns hier klar verstehen: es gibt keine Gemeinsamkeit mit denjenigen, die offen oder versteckt Volksverrat und Landesverrat rufen lassen, wo Leute sich um den Frieden und um eine gute Zukunft für Deutschland bemühen.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)