Rede:
ID0605902200

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 38
    1. die: 3
    2. der: 3
    3. von: 2
    4. Meine: 1
    5. Damen: 1
    6. und: 1
    7. Herren,: 1
    8. Fraktion: 1
    9. CDU/: 1
    10. CSU: 1
    11. hat: 1
    12. gebeten,: 1
    13. für: 1
    14. Beantwortung: 1
    15. Erklärung: 1
    16. des: 1
    17. Herrn: 1
    18. Bundesaußenministers: 1
    19. ihr: 1
    20. angemeldete: 1
    21. Redezeit: 1
    22. 60: 1
    23. Minuten: 1
    24. auf: 1
    25. zwei: 1
    26. gleiche: 1
    27. Beiträge: 1
    28. zur: 1
    29. Debatte: 1
    30. aufteilen: 1
    31. zu: 1
    32. dürfen.: 1
    33. Zunächst: 1
    34. spricht: 1
    35. Herr: 1
    36. Abgeordnete: 1
    37. Dr.: 1
    38. Kiesinger.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 59. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 Inhalt: Begrüßung des Präsidenten des indischen Unterhauses . . . 3215 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . 3215 A Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschland-, Ost- und Europapolitik (Drucksachen VI /691, VI /757) in Verbindung mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Beschluß des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (Drucksache VI /880) — Erste Beratung — und mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. Arpil 1970 zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrags zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Drucksache VI /879) — Erste Beratung — Brandt, Bundeskanzler . 3215 C, 3244 C Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 3219 B Wienand (SPD) 3226 C Borm (FDP) 3230 D Scheel, Bundesminister . 3235 D, 3268 A Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . . 3240 B, 3248 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 3245 A, 3275 D Dr. Apel (SPD) 3248 D Dr. Ehmke, Bundesminister 3250 A, 3272 B Dr. Rutschke (FDP) 3252 B Baron von Wrangel (CDU/CSU) 3254 D Behrendt (SPD) . . . . . . . 3256 C Strauß (CDU/CSU) 3261 B Mischnick (FDP) 3273 D Nächste Sitzung 3276 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 3277 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3215 59. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1970 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3277 Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Bartsch 19. 6. Breidbach 19. 6. Frau Dr. Focke 17. 6. Heyen 19. 6. Katzer 17. 6. Freiherr von Kühlmann-Stumm 17. 6. Dr. Lohmar 30. 6. Müller (Remscheid) 17.6.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Walter Scheel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Lassen Sie mich ein Wort dazu sagen. Ich glaube, wir sollten uns doch in diesem Kreise über den Stil der Debatten einig werden können. Eine Regierungserklärung, die abgegeben wird, nachdem die Fraktionen zu dem Problem gesprochen haben, würde ja nun in diesem Kreise wirklich steril wirken, wenn sie nicht die Gedanken aufgriffe, die von den Fraktionen zum Ausdruck gebracht worden sind.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Soll ich denn hier etwa völlig sterile Weisheiten bringen und nicht zu dem etwas sagen, was an interessantem Stoff schon vorgetragen worden ist? Sie können sich bei mir immer darauf verlassen, daß ich das in einer Form tue, die dann trotzdem noch die Bezeichnung „Regierungserklärung" verdient. Darauf können Sie sich verlassen.

    (Beifall bei Abgeordneten der Regierungsparteien. — Abg. Mick: Dann muß man Fragen stellen können!)




    Bundesminister Scheel
    — Ja, Herr Kollege, ich habe nicht abgelehnt, eine Frage zu beantworten, sondern auch ich habe mich nur der Geschäftsordnung gebeugt. Hier liegt ein Konflikt vor, den wir vielleicht später einmal in irgendeiner Form geschäftsordnungsmäßig diskutieren müssen. Ich habe Verständnis für die Schwierigkeit und werde sie jetzt dadurch zu überwinden versuchen, daß ich meine Erwägungen zu dem, was Herr Marx gesagt hat, sehr kurz halten werden. Es wäre noch eine Anzahl von Bemerkungen dazu zu machen; ich will mir das aufsparen, denn vielleicht wird nachher die Debatte Gelegenheit geben, das noch zu tun.
    Ich darf abschließend sagen, daß ich an diesem Tage, an dem ich doch das Gefühl habe, daß auf beiden Seiten Bereitschaft zur Zusammenarbeit besteht, ganz generell darum bitte, daß man auch an das, was der andere will, nicht mit übertriebenem Mißtrauen herangeht, sondern wirklich auch das, was er erklärt, zu akzeptieren sich bereitfindet. Damit will ich das einmal bewenden lassen.

    (Beifall bei Abgeordneten der Regierungsparteien. — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Auch dies gilt für beide Seiten!)

    Meine Damen und Herren, wir sind uns darüber im klaren, daß aus Gründen, die ich hier nicht näher zu erläutern brauche, der Abschluß von Vereinbarungen politischen Inhalts mit dem Osten schwieriger ist als der Abschluß von Verträgen mit unseren westlichen Partnern.

    (Abg. Dr. Barzel: Art. 79 GG!)

    Aber das entbidet uns nicht von der Verpflichtung, auf dem schmalen Grat der Möglichkeit nach einer Verständigungsbasis zu suchen und diese auch verbindlich zu definieren.
    Wie steht es nun um diese Bemühung? Wir sind zur Zeit im Begriff, eine Definition im Hinblick auf einen möglichen Gewaltverzichtsvertrag mit der Sowjetunion vorzunehmen. Der Gedanke eines Gewaltsverzichts ist nicht neu. Schon frühere Bundesregierungen haben diesen Gedanken aufgegriffen. Was man damals angestrebt hat, war ein — lassen Sie mich das einmal so ausdrücken — abstrakter Gewaltverzicht.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nein, ein konkreter! Das ist der Unterschied!)

    Die bereits in der UNO-Charta ausgeprochenen Grundsätze der Nichtanwendung und der Nichtandrohung von Gewalt sollten in einem Vertrag wiederholt werden. Ein solcher Gewaltverzicht wäre sicherlich nicht ohne Wert gewesen. Niemand hat das je bestritten. Es haben ja viele Kollegen hier daran mitgearbeitet. Aber die politische Substanz, nämlich das Verhältnis der Länder zueinander zu verändern, hätte ihm gefehlt.
    Das Ziel dieser Bundesregierung ist es, einen qualifizierten Gewaltverzicht zu erreichen. Er geht aus von der Lage, wie sie ist. Er schreibt sie aber nicht fest. Er ist mit anderen Worten die verbindliche Definition eines Modus vivendi. Das bedeutet, beide Seiten gehen davon aus, daß der Gerwaltverzicht einen Friedensvertrag weder vorwegnimmt noch ersetzt. Die Frage, ob wir einen solcherart definierten Modus vivendi mit der Sowjetunion vereinbaren sollen, hat wesentlich damit zu tun, ob wir unsere Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern, allen voran zur Sowjetunion, konstruktiv gestalten wollen, ob wir etwas nachholen wollen, was seit 1955, seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, nicht gelungen ist, ob wir eine neue Basis legen wollen für ein in die Zukunft weisendes Verhältnis zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik. Das ist die Frage. Wir halten dieses Ziel und seine Verwirklichung für eine realistische Politik, und diese Einschätzung findet ihre Rechtfertigung in der internationalen Lage, aber auch in Verlauf und Ergebnis unserer bisherigen Sondierungsgespräche in Moskau.
    Ich verrate hier kein Geheimnis, wenn ich sage, daß die sowjetische Seite zu Beginn der Gespräche mit kategorischer Härte immer wieder das Wort von der Anerkennung ins Spiel gebracht hat. Wir haben demgegenüber klarmachen müssen, aus welchen Gründen wir uns auf diesen Boden nicht stellen können. Die Tatsache, daß die sowjetische Regierung im Laufe der mehr als dreißigstündigen Aussprache Verständnis für die Grenzen unserer Möglichkeiten aufgebracht hat, beweist ihr Interesse an dem Abschluß eines Gewaltverzichtsvertrages mit uns.
    Durch de Veröffentlichung eines angeblichen Vertragstextentwurfs in der Presse ist nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit Unruhe geschaffen, sondern es sind auch unsere Bemühungen um eine Verständigungsbasis mit der Sowjetunion erschwert worden. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen.

    (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Wer hat das denn herausgegeben?)

    — Ich komme dazu. Eine Macht wie die Sowjetunion verhandelt verständlicherweise lieber mit Partnern, die die in solchen schwierigen Verhandlungen notwendige Diskretion zu wahren wissen.

    (Abg. Dr. Barzel: Deshalb macht man sichtbare Geheimdiplomatie?!)

    — Herr Kollege Barzel, wir haben uns schon Mühe gegeben, herauszufinden, wo hier eine undichte Stelle gewesen sein kann. Ich darf sagen, es ist schwer, das genau herauszufinden. Eines kann ich sagen: die Kollegen der Opposition, die von uns informiert worden sind, können es nicht gewesen sein nach der Natur der Dinge. Das will ich einmal ganz offen sagen.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) Aber es ist sehr schwer, das herauszufinden.

    Ich will nur sagen, diejenigen aber, die ihre Informationen in Form von Vertragsartikeln veröffentlicht haben, was sie nicht sind, die sollten nicht übersehen, daß sie eine große Verantwortung tragen. Denn es unterliegt ja keinem Zweifel, daß solche Veröffentlichungen, die erstens nicht vollständig sind, zweitens nicht die begleitenden Umstände kennen oder erwähnen können oder wollen, zu einem unvollständigen, falschen, ja, zu einem verzerrten Bild führen müssen, vor allem dann, wenn sie auch



    Bundesminister Scheel
    noch in die aufgeheizte Atmosphäre eines Wahlkampfes hineingebracht werden.

    (Abg. Blumenfeld: Dann wäre mehr Klarheit von Ihrer Seite besser gewesen!)

    Ich wünsche mir eigentlich — ich will das einmal ganz offen sagen —, daß in einem solchen Fall die Verantwortlichen ein Gespräch führen über das, was sie tun wollen, tun müssen oder tun zu müssen glauben. Das ist ein Problem, über das wir in einer Phase, in der wir genau wie in den frühen fünfziger Jahren schwierige Verträge zu verhandeln, zu Ende zu führen haben, eine gemeinsame Auffassung entwickeln müssen und bei dem wir uns als Parlamentarier, die in der Veranwortung für das ganze Volk stehen, gegenseitig unterstützen müssen.
    Im Verlauf der Diskussion im Parlament und in der Öffentlichkeit sind eine Reihe von Einwänden gegenüber dieser Politik vorgebracht worden. Die Bundesregierung hat sie sorgfältig geprüft, auch die Leitsätze, die Herr Bahr in Moskau besprochen hat. Die Bundesregierung ist zu dem Ergebnis gelangt, daß der Aufnahme von Verhandlungen mit der Sowjetunion auf der Grundlage der Moskauer Sondierungen keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenstehen.
    Herr Marx hat heute morgen eine ganze Anzahl von Fragen zu den Vertragstexten, so wie er sie aus Veröffentlichungen sieht, gestellt. Ich darf ihm sagen, daß diese Fragen, die er heute gestellt hat, in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses behandet werden können, wie wir das auch mit anderen Komplexen getan haben. Die Kollegen werden Verständnis dafür haben, daß ich mich hier noch nicht einmal zu der Richtigkeit der Veröffentlichungen äußern kann, die in irgendwelchen Zeitungen erschienen sind. Ich kann mich nicht dazu äußern, ich will das auch nicht tun.

    (Abg. Dr. Barzel: Aber vor der Presse haben Sie sich geäußert; Sie können doch hier nicht weniger tun als vor der Presse, Herr Scheel!— Zurufe des Abg. Kiep.)

    — Ich habe mich vor der Presse in genau dem gleichen Sinn geäußert wie jetzt, ganz präzis, Herr Dr. Barzel.

    (Abg. Blumfeld: Wozu dann diese Geheimnistuerei!)

    — Es handelt sich hier nicht um Geheimnistuerei, es handelt sich einfach um eine Verhaltensweise in dem normalen diplomatischen Verkehr bei der Vorbereitung von Verträgen, wie sie in der ganzen tATelt üblich ist.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich will Herrn Marx nur diese Ankündigung machen, weil er die Fragen gestellt hat und weil nicht der Eindruck entstehen soll, wir wollten diese Fragen nicht beantworten.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ich habe auch vorgeschlagen: im Ausschuß! — Abg. Kiep: Sie können doch hier sagen, ob ein Vertragsentwurf vorliegt oder nicht!)

    — Das kann ich sehr gern sagen, die Regierung hat das immer gesagt: Dies ist kein Vertragsentwurf.

    (Abg. Kiep: Aber wieso ist er dann laut Regierungssprecher nicht mehr abzuändern?)

    — Habe ich das jemals gesagt?

    (Abg. Kiep: Der Regierungssprecher hat es gesagt!)

    — Meine verehrten Kollegen, es handelt sich — ich will das noch einmal sagen — bei dem, was Herr Bahr in Moskau besprochen hat, um das Ergebnis dreißigstündiger Gespräche über eine Fülle von Fragen, in denen man sich bemüht hat, zu einzelnen Fragen — nicht nur zu dem, was dort in der Zeitung gestanden hat — gemeinsame Auffassungen zu entwickeln, die man zur Grundlage von Vereinbarungen machen könnte. Einige dieser gemeinsamen Auffassungen, allerdings nicht unbedingt in der veröffentlichten Textform, würden Gegenstand und Grundlage eines Gewaltverzichtsvertrages sein können, der aber nur abgeschlossen werden kann, wenn darumherum noch eine ganze Menge anderes entsteht. Genau das ist die augenblickliche Situation, und nichts anderes ist jemals gesagt worden.

    (Abg. Kiep: Der Regierungssprecher hat doch gesagt, dieser Entwurf sei nicht mehr wesentlich zu verändern!)

    — Aber es ist gar kein Vertragsentwurf, es sind einige Punkte diskutiert worden.

    (Abg. Kiep: Der Regierungssprecher!)

    — Herr Kollege, wenn in einer langen Arbeit in einzelnen Punkten, und zwar in wichtigen Punkten — —

    (Abg. Dr. Barzel: Ich bin sehr erfreut, zu hören, daß es nicht einmal ein Entwurf sei!)

    — Es ist kein Vertragsentwurf und kann es ja nicht sein, weil die Entwicklung eines Vertrages sich nur auf einige Punkte der erarbeiteten Formulierung beziehen wird.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Auf diese Punkte kommt es an!)

    Aber ich will das jetzt nicht vertiefen,

    (Abg. Rasner: Der Nebel bleibt, Herr Scheel!)

    sondern ich will das in den Ausschuß hineinbringen, was ich soeben angekündigt habe.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rasner: Nebelwerfer!)

    — Herr Kollege Rasner, ich weiß ja, daß Sie den Nebel aufrechterhalten wollen; wenn Sie ihn nicht aufrechterhalten, wer denn sonst? Aber wir wollen schon mit Ihnen diskutieren. Allerdings muß dazu bei Ihnen die Bereitschaft vorhanden sein.
    Zusammenfassend möchte ich sagen: Wer aus dem einen oder anderen Grunde den politischen Auftrag der Stunde versäumt, der muß natürlich auch den Mut haben, die Folgen einer solchen Politik zu verantworten. Die wahrscheinliche Folge,



    Bundesminister Scheel
    jetzt nicht zu handeln, wäre, daß die Entwicklung über uns hinweggeht und daß wir in die Isolierung gegenüber West und Ost geraten. Das kann niemand von uns wollen. Wenn ich sage: jetzt handeln, dann meine ich: handeln nach sorgfältiger und solider Überlegung. Das versteht sich von selbst; das dürfen Sie im übrigen bei einer Regierung voraussetzen, die ja nicht etwa ohne die üblichen Sorgfaltspflichten, die Regierungen haben, in diesem Punkte ihr Handeln vorbereitet.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Wir betreiben keine Alleingänge. Unser Vorgehen ist sorgfältig mit unseren Partnern und unseren Verbündeten abgestimmt. Bei der NATO-Konferenz in Rom im Mai haben unsere Freunde und Partner in der Allianz im Abschlußkommuniqué erklärt, daß sie mit unserer Ostpolitik übereinstimmen. Dort heißt es -- ich will es wörtlich zitieren, damit nicht wieder gesagt wird, das stimme aber nicht —:
    Mit Unterstützung und Verständnis ihrer Verbündeten hat die Bundesrepublik Deutschland Gespräche mit der Sowjetunion, Polen und der DDR aufgenommen, um die Lage in Mitteleuropa zu verbessern. Die Bündnispartner erachten dies als ermutigend. Sie geben der Hoffnung Ausdruck, daß diese Gespräche zu Ergebnissen führen und nicht durch unannehmbare Forderungen beeinträchtigt werden.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ein sehr wichtiger Satz!)

    3) — Unannehmbare Forderungen von allen Seiten. —
    Die Bemühungen um die Lösung offener Probleme und um einen Modus vivendi in Deutschland, der den besonderen Verhältnissen der deutschen Lage Rechnung tragen würde, stellen einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit und zur Zusammenarbeit in Europa dar.
    Soweit das Zitat.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ziffer 4 bitte noch hinzusetzen!)

    Herr Kollege Marx — wenn ich das hier einschalten darf — hat soeben erklärt, das Verhalten der Sowjetunion zu den Problemen der ausgewogenen beiderseitigen Truppenreduzierungen im Anschluß an die Sitzung der NATO in Rom habe bewiesen, daß die Sowjetunion diese Politik, so wie sie von der NATO definiert worden sei, nicht mitzumachen bereit sei.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist unrichtig, Herr Außenminister! Lesen Sie das Protokoll!)

    — Kein Entgegenkommen in diesem Punkt gezeigt habe.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ich habe gefragt, oh Sie uns sagen können, ob die Sowjetunion uns nur ein Quant entgegenkommt!)

    -- So ist es, gut. -- Ich will das so beantworten. Sie
    haben gefragt, und Sie haben durch diese Frage,
    Herr Kollege Marx, eben den Eindruck erwecken wollen, als sei das nicht so. Meine Antwort lautet folgendermaßen: Sie werden doch nicht erwarten, daß die Sowjetunion nach der Veröffentlichung der NATO sich den schwierigsten Punkt, der im Kommuniqué enthalten ist, herausgreift, um dort Entgegenkommen zu deklarieren, bevor sie den Gesamtkomplex behandelt, der auch in ihrem Interesse gewisse positive Ansatzpunkte zeigt.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sie meinen die Sicherheitskonferenz!)

    Ich meine jetzt die Konferenz über europäische Sicherheit.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Lesen Sie die „Prawda" !)

    Aber die Tatsache, daß die Sowjetunion auch bereit ist, über Fragen der Truppenreduktion und damit auch der Rüstungsreduktion zu verhandeln, ist doch dadurch bewiesen, daß sie im Bereich der nuklearen Rüstung mit den Vereinigten Staaten seit Wochen und Monaten Gespräche führt und Verhandlungen eingeleitet hat, die von den Vereinigten Staaten als befriedigend bezeichnet werden, von denen die Vereinigten Staaten sagen, daß Fortschritte allmählich sichtbar werden.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Meinen Sie die Wiener Gespräche?)

    Ich meine die SALT-Gespräche.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Das ist doch nicht Truppenreduktion in Europa!)

    — Aber das ist der gleiche Komplex, Herr Kollege. -- Man muß die Geduld aufbringen, in diesen schwierigen Fragen einmal die Eröffnung von Verhandlungen abzuwarten, und man muß sie mit Härte und Festigkeit und mit Zähigkeit immer wieder vertreten und fordern.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. Zuruf des Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern].)

    Lassen Sie mich zu diesem Komplex, der hier nur angereichert wurde durch die Verwertung der von Herrn Marx vorgetragenen Gesichtspunkte, abschließend folgendes sagen: Es hat bisher keine deutsche Regierung für ihre Ostpolitik eine so klare und einhellige Unterstützung im Westen gefunden. Daß dies so ist, erklärt sich aus der seit Bestehen der Bundesrepublik kontinuierlich verfolgten Europa- und Bündnispolitik, die von dieser Regierung energisch fortgesetzt wird; das ist ja die Kontinuität unserer Politik. Dieser Zusammenhang zwischen Osteuropapolitik und Bündnis- und Europapolitik wird von denen nicht gesehen, die meinen, unsere Ostpolitik gehe zu Lasten unserer Westpolitik. Genau das Gegenteil ist der Fall.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Diese Bundesregierung hat in der europäischen Einigung von Anfang an eine vordringliche Aufgabe gesehen und nie Zweifel daran gelassen, daß der Fortschritt auf diesem Wege zugleich eine Voraussetzung für eine aktive Politik gegenüber unseren östlichen Nachbarn ist. Sie hat in ihrer Europa-

    Bundesminister Scheel
    politik Erfolge erzielt, die man sich noch vor einem Jahr nicht hätte träumen lassen. Dabei will ich hier einschalten — der intellektuellen Redlichkeit halber ---, daß diese Erfolge nicht nur auf die Aktivität der Bundesregierung zurückzuführen sind, sondern auch darauf, daß bei unseren Partnern Veränderungen vor sich gegangen sind. Wer in diesem Hohen Hause hatte damals zu hoffen gewagt, daß wir uns heute mitten in konkreten Beratungen über den Aufbau einer Wirtschafts- und Währungsunion befinden würden und daß am 30. Juni dieses Jahres, d. h. in zwei Wochen, die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Irland eröffnet würden. Das ist aber noch nicht alles. Wir haben auch auf dem so wichtigen Gebiet der politischen Zusammenarbeit einen neuen Beginn gesetzt und substantielle Fortschritte gemacht.
    Welche sind nun unsere Ziele und welche sind unsere Methoden? Das Ziel ist die Politische Union Europas.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Die wirtschaftliche Einigung allein — diese Auffassung ist von allen Bundesregierungen bisher kontinuierlich vertreten worden — ist für eine dauerhafte Einigung Europas nicht ausreichend. Sie bedarf der Ergänzung im politischen Bereich, und zwar aus einem doppelten Grund. Einmal ist das Ziel, das wir mit der europäischen Integration anstreben, nicht etwa ein wirtschaftlicher Intressenverband, sondern die politische Einheit Europas. Zum anderen ist es kaum vorstellbar, daß die wirtschaftliche Integration, wenn sie, wie wir hoffen, an Intensität zunimmt, ohne zukunftsweisende und langfristig angelegte politische Entscheidungen der Regierungen auskommt. Aus diesen Gründen duldet der Beginn der politischen Zusammenarbeit keinen Aufschub. Wir dürfen jedoch die Augen auch nicht vor der Wirklichkeit verschließen. Aus den enttäuschenden Erfahrungen der Vergangenheit haben wir lernen müssen, daß wir die Probleme Europas der siebziger Jahre nüchtern und realistisch anfassen müssen, wenn wir die von uns allen gleichermaßen angestrebten Fortschritte im europäischen Einigungswerk erreichen wollen.
    In den zurückliegenden Jahren haben wir eine Reihe von Plänen und Projekten erlebt, die an den europäischen Realitäten gescheitert sind. Ich nenne vor allem die Projekte der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, der Europäischen Politischen Gemeinschaft und der Europäischen Union, d. h. des sogenannten Fouchet-Plans. Heute läßt sich wohl objektiv feststellen, daß diese Pläne zu ihrer Zeit sehr ehrgeizig waren. So wünschenswert ihre Verwirklichung auch war: Europa war damals, wie uns die Erfahrung gelehrt hat, dafür einfach noch nicht reif. Die erforderliche Einstimmigkeit für die Verwirklichung all dieser Pläne war nicht zu haben. Ein Insistieren auf idealen Lösungen war und ist zum Scheitern veurteilt. Jeder dieser Fehlschläge aber war zugleich ein Rückschlag für Europa und kostete einen hohen Preis an verlorener Dynamik, Zuversicht und vor allem Zeit.
    Es hat sich also gezeigt, daß man den Erfolg des europäischen Einigungswerks gefährdet, wenn man das Unerreichbare zum Projekt macht. Dessen muß man sich gerade jetzt bewußt sein, in einer Zeit, in der sich die Europapolitik endlich wieder anschickt, sich von den Rückschlägen der letzten fünfziger und der ersten sechziger Jahre zu erholen. Diese Tatsache berücksichtigend, sind wir gemeinsam mit unseren Partnern den Weg des Pragmatismus und des Realismus gegangen, den Weg des Ausgleichs, der zum Teil sehr unterschiedlichen Interessen, mit dem festen Willen, das Ziel eines geeinten Europas mit Geduld, aber unbeirrbar weiterzuverfolgen, in jedem Augenblick das jeweils Mögliche anzupacken und es energisch vorwärtszutreiben.
    Bei den Arbeiten, die gegenwärtig unter den Sechs im Gange sind, handelt es sich darum, zunächst einen wirkungsvollen Mechanismus für qualifizierte Konsultationen zu erarbeiten, die über die gegenseitige Berücksichtigung, Abstimmung und Annäherung der Standpunkte bis zur Formulierung gemeinsamer Auffassungen und schließlich zum gemeinsamen Handeln führen. Diese politische Zusammenarbeit soll entwicklungsfähig sein im Sinne einer sich stufenweise verdichtenden Einigung. Bei dem Verfahren, das wir im Auge haben, wird bewußt darauf verzichtet, die weiteren Etappen heute schon im einzelnen festzulegen. Wir sehen die europäische Einigung als einen dynamischen Entwicklungsprozeß, der ein ständiger Gegenstand des politischen Gesprächs unter den Beteiligten sein muß. Das politische Europa wird damit, um den Außenminister eines benachbarten Landes einmal zu zitieren, zur „création continue, zum Gegenstand einer ständigen schöpferischen Aktion.
    Meine Damen und Herren, ich will hier nicht vortragen, was in der Beantwortung der Großen Anfrage schon gesagt ist. Ich will nur noch ein paar Bemerkungen zur Westeuropapolitik machen und sie in folgende Thesen fassen.
    Erstens. Was wir in Europa bis jetzt geschaffen haben, ist viel, ist sogar einzigartig. Nirgends sonst. in der Welt gibt es ein solches Ausmaß an Zusammenarbeit und Integration. Die Wirtschafts- und Währungsunion wird die Gemeinschaftsstaaten noch enger zusammenwachsen lassen. Im gesamten Wirtschaftsbereich werden dann Entscheidungen Sache der Gemeinschaft sein, auch auf Gebieten, auf denen uns allen heute noch die nationale Zuständigkeit als selbstverständlich erscheint.
    Zweitens. Auch die Wirtschafts- und Währungsunion ist kein Ziel für sich. Darüber hinausgreifend müssen wir ein umfassendes Programm des inneren Aufbaus der Gemeinschaft entwickeln und verwirklichen, durch das Europa zu einer vorbildlichen Zone des Fortschritts wird.
    Drittens. Europa darf aber nicht nur im Innern, es muß auch nach außen wachsen. Gerade in der heutigen unruhigen und friedlosen Zeit muß es mit einer Stimme sprechen, und dazu bedarf es der Mitwirkung Großbritanniens und der anderen beitrittswilligen Staaten am Werk der europäischen Einigung.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)




    Bundesminister Scheel
    Viertens. Die Entwicklung politischer Solidarität
    ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Weiterführung des europäischen Einigungswerkes und dafür, daß Europa in der Welt den ihm zukommenden Platz einnehmen und seiner Verantwortung gerecht werden kann.
    Fünftens. Unsere Europapolitik folgt dem Prinzip demokratischer Willensbildung und ist ohne parlamentarische Mitwirkung nicht denkbar. Die institutionelle Stellung des Europäischen Parlaments muß sorgfältig auf den jeweiligen Stand der entwickelten Zusammenarbeit abgestimmt werden. In diesen Rahmen gehören auch allgemeine, direkte Wahlen zum Europäischen Parlament, für welche sich die Bundesregierung wie bisher einsetzen wird.
    Sechstens. Europa ist nicht zuletzt eine Herausforderung an die Jugend. Was wir jetzt erarbeiten, soll sie fortführen. Diese Jugend ist vielleicht nüchterner, sie ist jedenfalls kritischer, als wir es gewesen sind. Sie wird Europa nur akzeptieren und seine Einheit vollenden, wenn es mehr wird als ein technokratisches Unternehmen.

    (Abg. Dr. Barzel: Ein guter Satz!)

    Sie fordert -- und wir mit ihr — eine breit angelegte Demokratisierung, die sich nicht in der Übertragung größerer Befugnisse auf das Europäische Parlament allein erschöpft. Wir müssen deshalb an einem Europa, das über unsere Generationen hinausweist, bauen, an einem Europa, in dem gerade auch die Jugend ihre Hoffnungen und Erwartungen verwirklichen und mit dem sie sich identifizieren
    kann.
    Lassen Sie mich zum Abschluß folgendes sagen. Die Europäische Gemeinschaft versteht sich als eine Ordnung in diesem Teil Europas und zugleich als Baustein einer neuen friedlichen und stabilen Ordnung Gesamteuropas. In diesem Sinne sind die nach Osten und Westen gerichteten Bemühungen der Bundesregierung Elemente einer einzigen, in sich geschlossenen deutschen Außenpolitik. Sie strebt ein befriedetes Europa an, in dem auch Deutschland seinen Platz finden wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Hermann Schmitt
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/ CSU hat gebeten, die für die Beantwortung der Erklärung des Herrn Bundesaußenministers von ihr angemeldete Redezeit von 60 Minuten auf zwei gleiche Beiträge zur Debatte aufteilen zu dürfen. Zunächst spricht der Herr Abgeordnete Dr. Kiesinger.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Kurt Georg Kiesinger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in dieser Debatte von verschiedenen Rednern auf meine eigene Politik in der Zeit der Großen Koalition und insbesondere auf die in der Tat präziseste Formulierung dieser Politik, dieser Deutschland- und Ostpolitik während der Zeit der Großen Koalition in meiner Rede vom 17. Juni 1967 angesprochen worden. Ich bin daher gezwungen, in einer kurzen Intervention darauf einzugehen. In diesen Zitaten wurden Sätze aus jener Rede herausgeholt, die den Irrtum erwecken könnten, als ob die gegenwärtige Politik in der Tat nur eine Fortsetzung dessen sei, was wir damals gemeinsam getragen haben. Lassen Sie mich deswegen, ohne daß ich mich im weiteren dabei aufhalten will, mich selbst zu zitieren, wenigstens zwei Kernsätze aus jener Rede des 17. Juni in die Erinnerung rufen, die deutlich machen, wo die Unterschiede liegen.
    Der eine Satz heißt:
    Entspannung darf nicht auf eine resignierende Hinnahme oder gar auf eine Besiegelung des Status quo hinauslaufen.

    (Abg. Baron von Wrangel: Sehr richtig!)

    Wo immer in der Welt bei widerstreitenden Lebensinteressen der betroffenen Völker der Status quo als dauerhafte Befriedung mißverstanden würde, schafft man einen Krankheitsherd, der jeden Augenblick epidemisch werden kann.

    (Abg. Baron von Wrangel: Sehr richtig!)

    Und weiter:
    Ich wiederhole, daß wir uns auf Scheinverhandlungen nicht einlassen werden, die nur der bisher von der freien Welt verweigerten internationalen Anerkennung Ostberlins dienen sollen.
    Herr Bundeskanzler, ich wäre der letzte, der gerade an diesem Tag, am 17. Juni, das zarte Pflänzchen, das allenfalls noch vorhanden sein könnte, einer größeren Übereinstimmung in Sachen der Außenpolitik zertreten würde. Aber es geht einfach nicht an — und die Rede des Herrn Außenministers soeben hat es mir wieder ganz deutlich gezeigt —, daß wir aneinander vorbeireden. Aber, Herr Außenminister, wir reden nicht an Ihnen, sondern Sie reden an uns vorbei.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ein Satz des Herrn Kollegen Borm heute vormittag hat mich geradezu erschreckt. Da hieß es, die Lage sei nun einmal so, daß man sich „irgendwie arrangieren" müsse. Herr Bundeskanzler, ich hoffe, daß Sie nicht bereit sind, diesen Satz als die Parole Ihrer Ost- und Deutschlandpolitik zu akzeptieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Irgendwie arrangieren, meine Damen und Herren, mußten und müssen sich leider unsere Landsleute drüben. Wie sollten sie denn sonst leben können? Wir aber sind freie Menschen, freie Deutsche, und als solche verantwortlich für das Schicksal drüben. Wir müssen uns nicht „irgendwie arrangieren", sondern wir haben das Recht und die Pflicht, nach einer gerechten und dauernden Lösung des Friedens in Europa zu suchen,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    die auch die Lösung der deutschen Frage einschließt.
    Das war auch der Grundtenor meiner damaligen Rede zum 17. Juni, und ich wünschte, wir stünden noch auf derselben gemeinsamen Grundlage wie damals;

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)




    Dr. h. c. Kiesinger
    denn, Herr Bundeskanzler, nicht wir, sondern Sie sind ja von der gemeinsamen Grundlage abgesprungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich will nicht weitschweifig sein. Unsere Bevölkerung versteht ja vielfach die juristischen Auseinandersetzungen nicht, die wir leider zu führen gezwungen sind; aber juristische Auseinandersetzungen, Herr Bundeskanzler, sind kein Formelkram. Vor allem werden sie nicht als Formelkram von jener Macht behandelt und behandelt werden, die damit souverän umzugehen versteht, wenn es gilt, juristische Formulierungen in ihrem Sinne in politische Praxis umzusetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Lassen Sie mich einen Aspekt aufnehmen, in dem ich Ihnen im Prinzip zustimme. Sie haben gesagt, was auch mich als Bundeskanzler umgetrieben hat: Was ist der von uns für den europäischen Frieden zu leistende Beitrag, und zwar unser eigener und, wie Sie sagten, unersetzbarer Beitrag. Jawohl, darum geht es, das ist die Kernfrage der Deutschland- und Ostpolitik, und das ist auch die Kernfrage, zwischen uns.
    Welches ist dieser unser eigener, dieser unersetzliche, durch keine andere Nation, durch kein anderes Land zu ersetzende Beitrag, den wir leisten können? Hier fängt es an, zwischen uns wolkig zu werden. Wann immer wir versuchen, Sie zu einer präzisen Aussage zu bringen, weichen Sie in das Abstrakte aus. Wir sagen Ihnen: Wir wollen auch — und wir haben ja damit begonnen, es zu wollen — einen Gewaltverzicht mit der Sowjetunion. Sie nennen aber ganz offenbar einen Vertrag mit der Sowjetunion einen Gewaltverzichtsvertrag, dessen eigentliche Substanz, dessen eigentlicher Inhalt etwas ganz anderes ist, nämlich, wie wir fürchten müssen, die Annahme aller wesentlichen Bedingungen der Sowjetunion, die wir seit Jahren kennen.

    (Beifall bei der CDU/ CSU.)

    Sie sagten und das klingt schön : Gewaltverzichtsverträge dürften die Lösung unserer nationalen Frage nicht verbauen. Und Sie fügten hinzu, die Sowjetunion habe andere Vorstellungen als wir. Gut, das wissen wir gemeinsam. Dann aber kommt der gefährliche Satz: Die Sowjetunion kennt auch diesen Teil unserer Geschäftsgrundlage. Herr Bundeskanzler, für jeden Juristen ist klar, was „Geschäftsgrundlage" heißt. Geschäftsgrundlage ist nicht ein einseitiger Vorbehalt eines der beiden Partner eines Vertrages, sondern ist der zwar im Vertragstext nicht enthaltene, aber als Fundament genommene Teil der Verhandlungen, von dem beide Partner übereinstimmend ausgehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir haben bei allen Ihren Formulierungen die schwere Sorge, daß Sie genau das tun, was Ihr Außenminister in sehr deutlichen Worten abgelehnt hat: daß Sie bereit sein könnten, Vertragstexte, Entwürfe für Vertragstexte zu akzeptieren, in denen beide Parteien jeweils von ihrer einseitigen Voraussetzung ausgehen. Das aber wäre in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion geradezu selbstmörderisch.
    Und warum diese verschleiernde Sprache? Soll sie dazu dienen, den übermächtigen Partner, mit dem wir es zu tun haben, bereit zu machen, sich auf . irgendeinen Vertragstext einzulassen? Sie sprechen von den „Realitäten" und übernehmen unbesehen die Forderung der Sowjetunion, daß man diese Realitäten anerkennen soll. Der Herr Außenminister hat soeben gesagt, die Sowjetunion habe darauf bestanden, daß man das Wort „Anerkennung" akzeptiere. Sie selber sagen, daß man die reale Lage „anerkennen" müsse. Nein, Herr Bundeskanzler: Wir haben die reale Lage zwar zu erkennen, sie aber nicht rechtlich und politisch anzuerkennen, sondern, von der realen Lage ausgehend, diese im Interesse des deutschen Volkes zu verbessern.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie mögen mir einwenden: Wie wollen Sie das tun, wie wollen Sie das zustande bringen? Heute früh war hier in einem Beitrag die Rede davon, daß man eben Millimeter um Millimeter vorwärtskommen müsse. Meine Damen und Herren, wir haben viel mehr die Sorge, daß die Sowjetunion es ist, die nicht nur Millimeter um Millimeter, sondern Meter um Meter in solchen Verhandlungen vorwärtskommen würde.

    (Erneuter lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU.)

    Ich habe mit großem Interesse das Weißbuch des Herrn Verteidigungsministers gelesen. Darin stehen sehr beherzigenswerte Sätze über die wirkliche Lage Europas. Der Herr Verteidigungsminister hat Belaubt, sich an mir reiben zu müssen, weil ich im Saarland angeblich unverantwortliches Zeug geredet hätte.

    (Zuruf von der SPD: Wie immer!)

    Meine Damen und Herren, ich wiederhole klipp und klar das, was ich dort gesagt habe: Mein Ziel als Bundeskanzler ist es gewesen, zu wirklichen Verhandlungen mit dem Osten zu kommen, sowohl mit der Sowjetunion als auch mit den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands, als auch mit Polen. Verhandeln aber heißt, sich entgegenkommen, verhandeln heißt, daß nicht der eine Teil vom anderen, wie dies bisher ganz offensichtlich geschieht, verlangt, daß er sich den Bedingungen beugt. Deswegen habe ich gesagt — und ich sage es wieder hart und klar —: Ich wollte verhandeln, aber ich wollte nicht zum Befehlsempfang erscheinen,

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Sie sprachen davon, Herr Bundeskanzler, daß man die Realitäten erkennen und anerkennen müsse, die Bemäntelung der Realitäten dagegen sei kleinlich. Wir fragen uns: Wer bemäntelt die Realitäten? Ich habe bei anderer Gelegenheit in diesem Hause gesagt — und im übrigen stelle ich fest, daß auch der Herr Verteidigungsminister ähnlicher Auffassung ist --, daß die wirkliche Realität in Europa die ist, daß die Sowjetunion erstens festhalten will, was sie

    Dr. h. c. Kiesinger
    hat, daß sie das, was sie hat, durch unsere Unterschrift und die Zustimmung vieler anderer besiegeln will, daß sie darüber hinaus ihren Einfluß auf Westeuropa bis zur Küste des Atlantik ausdehnen will und dies zu erreichen versucht durch die Schwächung oder gar die Zerstörung des atlantischen Bündnisses, durch die Verdrängung der amerikanischen Truppen vom europäischen Kontinent und durch die Verhinderung der westeuropäischen wirtschaftlichen und politischen Einigung. Ich glaube nicht, daß irgend jemand in diesem Haus, der einen klaren Blick für die Realitäten in Europa hat, diese Zielsetzungen der Sowjetunion leugnen kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Deswegen wiederhole ich, daß es dieselben Zielsetzungen sind, die die Sowjetunion auch bei den Verhandlungen mit Ihrer Regierung in Moskau verfolgt, Herr Bundeskanzler.
    Deswegen kann man uns nicht entgegenhalten: Ihr dürft die Stunde nicht verpassen! Was ist das für eine Stunde, die wir verpassen könnten? Sie reden davon, daß sich die westliche Welt anschicke, ihre Beziehungen mit dem Osten zu ordnen, zu normalisieren, oder daß sie diese Beziehungen normalisiert habe. Herr Bundeskanzler, diese westliche Welt ist in einer anderen Situation als wir. Ich wiederhole, was mein Freund von Guttenberg von dieser Stelle aus gesagt hat: Die westliche Welt hat die großen Probleme nicht, die zwischen uns und der Sowjetunion stehen: die deutsche Teilung. Von einer Normalisierung unserer Beziehungen, von
    einem Beginn der Normalisierung unserer Beziehungen mit der Sowjetunion kann doch wahrlich erst die Rede sein, wenn es ein Zeichen dafür gibt, daß sie bereit ist, mit uns gemeinsam einen Weg zu bahnen, der eine gerechte Lösung der deutschen Frage herbeiführt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Dafür haben wir bis jetzt leider nicht das geringste Anzeichen. Ich fürchte, Sie selber werden nicht mit allzugroßen Hoffnungen in diese Verhandlungen gehen können.
    Es ist nun einmal eine Binsenwahrheit, die ich kürzlich mit einem Bismarck-Wort zitiert habe, daß man in der Politik seine Uhren nicht vorstellen könne, um die Zeit herbeizuzaubern, in der Handeln möglich ist. 20 Jahre sind eine lange Zeit. Wir haben in diesen 20 Jahren immer wieder hören müssen, wir seien nicht weitergekommen. Meine Damen und Herren, es geht gar nicht so sehr darum, daß wir in diesem Augenblick weiterkommen, es geht vielmehr darum, daß wir nicht durch eine falsche Politik weiter zurückfallen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    In meiner Rede zum 17. Juni habe ich gesagt, eine rein defensive Politik genüge nicht. Ich stehe heute noch zu diesem Satz wie zu jedem Satz in jener Rede.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Ich war damals glücklich, mich in der Koalition
    einig zu wissen, daß dies die Grundlage unserer
    gemeinsamen Politik sei. Aber ich verstehe unter
    einem nichtdefensiven Verhalten eben auch kein resignierendes Verhalten, keinen Willen zum„ Sichirgendwie-Arrangieren”, wie es heute Herr Kollege Borm ausgedrückt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Im übrigen, wenn wir geschichtliche Überlegungen anstellen: ich bezweifle ganz einfach, Herr Bundeskanzler, daß man feststellen kann, es sei alles immer schlimmer, immer härter geworden. Meine Grundüberzeugung ist es seit langem, daß dort, wo der sowjetrussische Soldat in Europa haltgemacht hat — und bedenken wir, das ist nicht nur in Osteuropa und nicht nur in Mitteleuropa, sondern in Westeuropa; denn die Wartburg liegt in Westeuropa , von Anfang an nach dem Willen der sowjetrussischen Machthaber auch die neuen Grenzen ihres Imperiums liegen sollten. Das ist eine These, die man natürlich aus allen möglichen Konferenzverhandlungen bestreiten könnte. Aber einem tiefer dringenden Blick in die geschichtliche Wirklichkeit, in die Realitäten, die Krieg und Nachkrieg geschaffen haben, kann sich dieser sowjetrussische imperale Wille, der von Anfang an vorhanden war, nicht entziehen.
    Herr Bundeskanzler, Sie sagen: Schon andere Regierungen mußten Grenzen respektieren, schon andere Regierungen haben erklärt, daß sie keine Gebietsansprüche erhöben. Bitte reden wir doch klar und deutlich miteinander! Wollen Sie damit sagen, daß Sie mit uns wie früher der Meinung sind, daß der Ausdruck „Grenzen respektieren" eine fundamental andere Bedeutung hat als der Ausdruck „Grenzen anerkennen"?

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Wenn Sie sagen wollen, „Grenzen respektieren" oder „Respektierung der territorialen Integrität", das sei der Gewaltverzicht, das bedeutet nur, daß wir bei der Verfolgung unserer nationalen Ziele auf Gewalt verzichten, — Sie brauchen nur dieses erlösende Wort zu sprechen, Herr Bundeskanzler, und Sie haben dafür die Zustimmung der Opposition in diesem Hause.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Warum sprechen Sie dieses erlösende Wort nicht? Deswegen, weil Sie glauben, daß man dann in Moskau mimosenhaft zurückzucken wird und nicht mehr bereit sein wird, einen Text zu vereinbaren? Diesen schillernden Text habe ich nicht veröffentlicht, Herr Bundeskanzler, und auch seine Veröffentlichung nicht veranlaßt, --- um es Ihnen bei dieser Gelegenheit deutlich zu sagen. Aber er ist uns inzwischen durch den Sprecher der Bundesregierung als im großen und ganzen richtig bestätigt worden. Das sei kein Entwurf, sagt der Herr Außenminister. Was ist es denn? 40 Stunden lang hat Herr Egon Bahr mit einem der höchsten Verantwortungsträger der Sowjetunion verhandelt. Glauben Sie denn wirklich, daß die Sowjetunion das als ein bloß provisorisches Stückchen Papier ansehen wird? Sie wissen selbst, daß es anders ist. Sie wissen, daß die Sowjetunion auf diesem Text insistiert, wenn es überhaupt zu einer Abmachung kommen soll. Oder ist es nicht so? Wenn es nicht so ist, wenn Sie glauben,

    Dr. h. c. Kiesinger
    daß die Sowjetunion bereit ist, sich zu einer Änderung dieses Textes in unserem Sinne bereit zu finden, dann allerdings wäre auch das wieder ein erlösendes Wort.
    Der Außenminister hat hier die Zustimmung der Verbündeten im Schlußkommuniqué von Rom vorgelesen. Sie können diese Zustimmung Wort für Wort von uns haben, Herr Bundeskanzler. Denn selbstverständlich sind wir für Gespräche mit dem Osten zur Herbeiführung einer Besserung der Lage in Europa. Die Frage ist: Zu welchen konkreten Maßnahmen, zu welcher konkreten Politik haben diese Verbündeten ihre Zustimmung erteilt?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Was wissen sie im einzelnen von den Verhandlungen, die Herr Egon Bahr in Moskau geführt hat? Haben Sie ihnen das gesagt? Was haben Sie dazu gesagt? Wir haben ia auch Ohren in den Hauptstädten der Welt, und manches spricht sich herum, ohne das man Schnüffelei betreiben muß.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Es hätte dem Herrn Bundesaußenminister wohl angestanden, wenn er auch Ziffer 4 des Schlußkommuniqués der NATO-Ministerkonferenz vorgelesen hätte; denn sie ist untrennbar verbunden mit jener Ziffer 8, in der die allgemeine Zustimmung zu solchen, auf den Frieden und auf Entspannung zielenden Gesprächen ausgedrückt wird. Dort steht nämlich der lapidare Satz:
    Die Minister bekräftigten, daß der Friede, um dauerhaft zu sein, ... auf der Respektierung des Rechts der europäischen Völker beruhen muß, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, ohne daß sie von außen mit Intervention, Zwang oder Nötigung bedroht werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Bundeskanzler, Sie wollen die Realitäten — das war Ihr Wort -- nicht nur erkennen, sondern anerkennen; Sie wollen zugleich das Unrecht nicht anerkennen. Erklären Sie mir den Widerspruch in diesen beiden Aussagen!
    Die Sowjetunion fordert von uns ohne jeden Zweifel die Anerkennung, jetzt und in Zukunft, der in Europa bestehenden Lage und der bestehenden Grenzen, auch der zwischen uns und der DDR sowie der Oder-Neiße-Linie. Die Sowjetunion vertritt die Breschnew-Doktrin — wie oft müssen wir es sagen? —, eine Doktrin, die die Bevölkerungen des kommunistischen Imperiums dort in ewiger Gefangenschaft hält, die ausdrücklich das Selbstbestimmungsrecht im Sinne eines eigenen sowjetischimperialen Völkerrechts einengt.
    Wie wollen Sie sich mit dieser Theorie, mit diesem Handlungsprinzip der Sowjetunion auseinandersetzen, das sie ja in der Tschechoslowakei so eindrucksvoll praktiziert hat? Wie wollen Sie Ihr allgemeines Credo zum Selbstbestimmungsrecht gegenüber dieser glasklaren Haltung eines Partners aufrechterhalten, dessen Ziele wir kennen und über dessen Ziele auch Sie sich keine Illusionen machen können und dürfen?
    Nun zur angeblichen Schwächung der Verhandlungsposition. Sie haben gesagt, die Regierung sei verpflichtet, das von ihr als notwendig Erkannte ohne Rücksicht auf die schwache Mehrheit hier im Parlament durchzuführen. Vielleicht haben Sie in Gedanken hinzugesetzt: auch ohne Rücksicht auf das Votum, das die Bevölkerung von drei Ländern der Bundesrepublik am vergangenen Sonntag gefällt hat.

    (Zuruf des Abg. Wehner.)

    Herr Bundeskanzler, wenn in einer so säkularen Frage wie der Lösung des deutschen Problems und der Anbahnung einer europäischen Friedensordnung von irgendeiner Regierung Erfolge erzielt werden sollen — Sie sind sich doch im klaren darüber, daß das auch in Moskau so gedacht wird , dann kann das nur geschehen, wenn sie diese ihre Politik auf eine breite Zustimmung des deutschen Volkes stützen kann. Herr Wehner hat kürzlich — einige andere Ihrer Parteifreunde haben es auch getan —geglaubt sagen zu können, es gebe zwar in diesem Hause nur eine schwache Mehrheit für Ihre Politik, inzwischen habe sich aber im deutschen Volk eine viel breitere Zustimmung zu dieser Politik gefunden. Herr Bundeskanzler, der vergangene Sonntag hat eindeutig das Gegenteil erwiesen!

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Ihre Hetze hat Ihnen nicht viel eingebracht! — Weitere Zurufe.)

    Ich will jetzt nicht sagen, was angesichts der Anschuldigungen notwendig wäre, die auch Sie, Herr Bundeskanzler, gegen uns erhoben haben.

    (Abg. Wehner: Ihre Hetze hat Ihnen nicht viel eingebracht!)

    Was uns politische nationale,

    (Abg. Wehner: Ja, ja!)

    nicht nationalistische Sorge ist, wird uns diffamierend als „Nationalismus" vorgeworfen.

    (Erneuter Zuruf des Abg. Wehner. — Weitere Zurufe von der SPD. — Gegenrufe von der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, ich spreche für jeden einzelnen meiner Parteifreunde hier in diesem Hause

    (Abg. Wehner: Ach! — Weitere Zurufe von der SPD)

    und in unserem ganzen Lande, wenn ich sage: Die CDU/CSU hat sich in diesen vergangenen Jahren und Jahrzehnten, seit der Gründung der Bundesrepublik, von niemandem, aber auch von gar niemandem darin übertreffen lassen, die Verantwortung für den Frieden und die Freiheit in Europa voll und ganz wahrzunehmen. Wir wissen, es gibt für dieses deutsche Volk keine Zukunft, es sei denn, eine europäische. Das war der Inhalt der ersten Rede, die ich Ende 1949 von diesem Platze aus gehalten habe, und ich habe daran kein Wort zu ändern.
    Nun zu dem, was von draußen in der Welt —ich meine jetzt nicht das NATO-Schlußkommuniqué, das wir völlig billigen — Ihnen an Zustimmung



    Dr. h. c. Kiesinger
    entgegenklingen mag: herr Bundeskanzler, Sie selber wissen, daß eine lästige und schwere Frage, die irgendein Volk in die Gemeinschaft der freien Völker einbringt, natürlich oft von den anderen -- und da schlagen wir bitte auch an unsere eingene Brust — beiseite geschoben wird und oft ein skandalon ist, etwas, was man gerne loswerden möchte.
    Eine große englische Zeitung hat dieser Tage geschrieben, nun werde Bundeskanzler Brandt daran gehindert, die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges zu besiegeln. So werden Sie draußen vielfach verstanden und ich hoffe: mißverstanden —, Herr Bundeskanzler. Sie gewinnen die Zustimmung manches Leitartiklers, manches Kommentators draußen. Das war in den vergangenen Jahren nicht anders. Lassen Sie mich an eine interessante Begebenheit erinnern. Nach dem Wahlsieg der CDU 1953 hatten wir eine große Debatte in der Beratenden Versammlung des Europarats. Da brach es noch einmal auf: das Mißtrauen, der Verdacht, der Argwohn, die Feindschaft. Alles richtete sich gegen Konrad Adenauer, den Bundeskanzler.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Gesteuert!)

    Er wurde damals als der Vertreter alter, restaura-liver nationalistischer Kräfte angeklagt und angeprangert. Ich hatte die Ehre, darauf zu antworten. -- Das muß man auch einmal vorübergehend aushalten: mißverstanden zu werden.
    Uns kommt es auf zwei Dinge an, erstens, daß wir
    B) eine Politik treiben, die wirklich im Interesse unseres Volkes liegt, und zweitens darauf, daß wir zeigen, wo die möglichen Lösungen liegen. Entgegen Ihrem Pessimismus sind wir der Meinung, daß die große Lösung in Europa liegt und daß nicht — wie der Herr Außenminister heute wieder gesagt hat und wie auch Sie meinten — im nächsten Jahrzehnt die wirtschaftliche Einigung komme und dann irgendwann einmal in ferner Zukunft die politische. Der Zeiger steht auf fünf Minuten vor zwölf, Herr Bundeskanzler.

    (Lachen und Zurufe von der SPD.) Fünf Minuten vor zwölf, meine Herren!


    (Beifall bei der CDU/CSU. — Erneute Zurufe von der SPD.)

    Ich hoffe nicht, Sie in wenigen Jahren an diesen Satz erinnern zu müssen.

    (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Ja, Sie denken, daß wir in fünf Minuten machen können, was Sie in 20 Jahren nicht schaffen!)

    Nicht erst spätere Generationen haben die Aufgabe, ein politisches Europa — nicht nur zweimalige Konsultationen der Außenminister im Jahr — zu schaffen. Jetzt müssen wir anfangen, Institutionen einzurichten!

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Sie sagen, das sei nicht möglich. Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, das ist sehr wohl möglich! Man braucht nur bescheiden anzufangen. Man kann sehr wohl

    (anhaltende Zurufe von der SPD)

    einen gemeinsamen Rat von hochrangigen Experten der europäischen Staaten zusammenbringen, der in Permanenz tagt und berät und der die Verhandlungen der Außenminister gründlich vorbereitet. Das allein schon wäre ein hoffnungsvoller Schritt.
    Wie anders wollen Sie denn die Mahnung des amerikanischen Präsidenten verstehen, der uns erst vor kurzem sagte: Dieser Gemeinsame Markt schafft für Amerika schwere Probleme, und je größer er wird, desto schwerer. Wir sind bereit, sagte er, diesen Preis zu zahlen, aber dann doch mit der Erwartung, daß es den Europäern gelingt, eine politische Union zu begründen. Der amerikanische Präsident hat sicher nicht gehofft, daß uns das in etwa zwanzig Jahren gelinge; er hat sicher wie wir gemeint, daß wir jetzt und hier damit beginnen.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU.)