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ID0605901600

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 59. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 Inhalt: Begrüßung des Präsidenten des indischen Unterhauses . . . 3215 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . 3215 A Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschland-, Ost- und Europapolitik (Drucksachen VI /691, VI /757) in Verbindung mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Beschluß des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (Drucksache VI /880) — Erste Beratung — und mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. Arpil 1970 zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrags zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Drucksache VI /879) — Erste Beratung — Brandt, Bundeskanzler . 3215 C, 3244 C Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 3219 B Wienand (SPD) 3226 C Borm (FDP) 3230 D Scheel, Bundesminister . 3235 D, 3268 A Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . . 3240 B, 3248 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 3245 A, 3275 D Dr. Apel (SPD) 3248 D Dr. Ehmke, Bundesminister 3250 A, 3272 B Dr. Rutschke (FDP) 3252 B Baron von Wrangel (CDU/CSU) 3254 D Behrendt (SPD) . . . . . . . 3256 C Strauß (CDU/CSU) 3261 B Mischnick (FDP) 3273 D Nächste Sitzung 3276 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 3277 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3215 59. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1970 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3277 Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Bartsch 19. 6. Breidbach 19. 6. Frau Dr. Focke 17. 6. Heyen 19. 6. Katzer 17. 6. Freiherr von Kühlmann-Stumm 17. 6. Dr. Lohmar 30. 6. Müller (Remscheid) 17.6.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. William Borm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zu begrüßen, daß der Bundestag mit gutem Beispiel vorangeht und diesen Tag der deutschen Trauer als Arbeitstag begeht. Es ist in der Tat kein Grund zum Feiern, und ich glaube, wir werden uns der Aufgabe unterziehen müssen, auch für unser gesamtes Volk einen anderen Stil dieses tragischen Tages zu finden. Aber es ist ein Tag des Gedenkens, ein Tag des Gedenkens an die Opfer der Gewalt, wo immer Diktatur und Gewalt angewendet wird, überall auf der Welt, und nicht nur ein Tag des Gedenkens an jene 21 Todesopfer des 17. Juni 1953, die unserem Herzen naturgemäß am nächsten liegen.
    Es ist aber auch ein Tag des Nachdenkens über unsere Pflicht, über die Pflicht, die einem Vertreter des deutschen Volkes jetzt, 17 Jahre nachher, ob-



    Borm
    liegt. Ich habe den 17. Juni 1953 unter anderen Umständen erlebt als jeder von Ihnen.

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)

    Ich habe die Opfer dieses Tages vier Wochen später hinter den Mauern erlebt, welche mich seinerzeit umschlossen haben. Ich habe den unmittelbaren Eindruck, und aus dieser Erinnerung heraus, meine Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir doch einige Bemerkungen.
    Wir sollten diesen Tag der deutschen Trauer und der deutschen Schmach als das sehen, was er ist. Wir sollten ihn nicht glorifizieren. Das würde seine Bedeutung herabmindern. Es war kein organisiertes Aufbegehren. Es war ein spontaner Aufstand,

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Sehr wahr!)

    weil das Maß voll war. Was war geschehen? Die Verantwortlichen drüben, die die Macht in Händen haben, haben die Lage verkannt. Sie glaubten, daß sie mit den Menschen umspringen könnten, wie es die jeweilige ökonomische oder politische Ratio eines Diktatursystems ihnen gerade gut erscheinen ließ. Sie versuchten, die Arbeitsnormen heraufzusetzen. Sie versuchten, die arbeitenden Menschen zu erhöhter Leistung und damit zu relativ geringerem Lohn anzuspornen. Das wäre an sich, wenn so etwas bei uns möglich wäre, natürlich ein Anlaß, dagegen auf der Straße zu protestieren. Diese Protestmärsche haben auch stattgefunden. Sie haben auch dort stattgefunden, worum das deutsche Schicksal am intensivsten gerungen wurde und gerungen wird: in Berlin; denn dort ist der Brennpunkt des deutschen Geschehens. Aber diese an sich erklärliche Auseinandersetzung über Arbeitsbedingungen stieß auf eine geistige Bereitschaft - das ist das Aktivum dieses Tages — zum offenen Protest. Das deutsche Volk in der DDR war nicht länger gewillt, die Faust in der Tasche zu ballen. Die Bevölkerung hatte die Diskrepanz zwischen der Propaganda, dem Versprechen einer nebelhaften glücklichen Zukunft und der rauhen, der realen Wirklichkeit erkannt. Das Volk sah täglich die sichtliche ökonomische Überlegenheit unseres Wirtschaftssystems, und es gab, was das Wichtigste ist, ein lebendiges Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in beiden deutschen Staaten, das zum Ausdruck kommen ließ, daß alles, was bei uns geschieht und geschah, deren Schicksal war, wie ebenfalls bei uns dieses Zusammengehörigkeitsgefühl festzustellen war. Es war eine Auflehnung des Freiheitswillens gegen den manipulierten totalen Zwang.
    Das, meine Damen und Herren, waren die Gründe, und das waren die Erscheinungsformen. Ich selbst kann Ihnen die unmittelbare Wirkung an jenem Tage nennen: eine Ratlosigkeit beim Aufsichtspersonal, eine Ratlosigkeit bei den unteren Rängen der dortigen Hierarchie. Und was war das Ende: Das gewohnte Mittel der Gewalt, wie wir sie in Polen, in Ungarn, in der DDR und in der Tschechoslowakei erlebt haben. Das, meine Damen und Herren, ist das Resümee eines Systems, das vorgibt, dem Menschen dienen zu wollen, dessen Mittel aber der Unterdrückung des Menschen dienen.
    Die Niederschlagung dieses spontanen Aufstandes hatte Rückwirkungen in der Bevölkerung, und diese wirken nach in der Resignation. Man hatte aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl heraus natürlich erwartet, daß wir uns und der gesamte Westen, sich des Schicksals der Menschen in der DDR annehmen würden. Man hatte natürlich nicht bedacht, daß das Krieg bedeutet hätte. Das führte zunächst zur Enttäuschung und dann nach einigem Nachdenken zur Ernüchterung bei der Einschätzung der wirklichen Situation. Wer sich in den Klauen eines totalen Regimes befindet, lebt unter anderen Bedingungen als Menschen, deren Lebensstil Demokratie und Freiheit sind,

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sehr wahr!)

    und er muß sich mit dieser seiner Situation auseinandersetzen.
    Heute, meine Damen und Herren, dürfen wir feststellen — wir müssen dies sogar feststellen, wenn wir uns keinen Trugschlüssen hingeben wollen —, daß es eine Wiederholung des 17. Juni 1953 in der damaligen Form nicht geben wird. Die Methoden sind verfeinert; sie sind raffinierter und nicht un-bewährt. Bei der Anwendung der Methoden arbeitet man zwar ohne sichtbar eingesetzte Gewalt. Sie basieren aber nach wir vor nicht darauf, daß man sich des freien Willens der Unterdrückten versichern will, sondern nur darauf, daß die Gewalt verdeckt ist, obwohl sie immer vorhanden bleibt. Meine Damen und Herren, dessen sind sich die Menschen drüben bewußt.
    Ferner ist nicht abzuleugnen — auch das müssen wir in Rechnung setzen --, daß unzweifelhaft ein ökonomischer Erfolg gegenüber der Zeit von 1953 eingetreten ist. Das hat zur Folge, daß die Menschen, welche diesen Erfolg unter wesentlich schwereren Bedingungen als wir und trotz aller ihnen auferlegten Hemmnisse errungen haben, einen gewissen berechtigten Stolz auf diese ihre Leistung zur Schau tragen. Wir sollten sehr wohl bedenken, daß so manche unserer Äußerungen dort drüben als überheblich angesehen wird und von unserer Seite aus keinen guten Beitrag zu dem Werk des — zunächst — gegenseitigen Verständnisses der beiden Teile Deutschlands darstellt.
    Meine Damen und Herren, schließlich ist noch der Faktor der Gewöhnung zu nennen. Er ist nicht gering zu veranschlagen. 25 Jahre gehen an einem Volk nicht ohne Spuren vorüber. Die nachwachsende Jugend hat keine Vergleichsmöglichkeiten. Sie tritt unter anderen Voraussetzungen in das politische Leben ein, als wir sie hier erlebt haben. Ich glaube, dieses Beispiel wird auch uns selbst oft genug vor Augen geführt. Über die Erfahrungen, die wir in zwei Weltkriegen, in einem Weltkrieg oder in der Zeit nach dem Weltkrieg gesammelt haben, verfügt unsere Jugend nicht. Dasselbe ist drüben festzustellen. Diesen Faktor müssen wir ständig im Auge haben, wenn wir uns des richtigen Mittels bedienen wollen, um glaubwürdige Einwirkungsmöglichkeiten ohne List und Hinterlist auf den anderen Teil Deutschlands zu finden. Man kann eben nicht 25 Jahre in einer inneren Emigration
    3232 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970
    Borm
    leben. Man kann nicht lebenslang ohne Hoffnungsschimmer im Gegensatz zu einem nicht erwünschten System, dessen Wirkung man täglich ablehnt, leben. Man muß sich irgendwie arrangieren, besonders dann, wenn man weiß, daß wirkliche Hilfe, wenn sie in der Art gegeben werden sollte, wie man drüben vielleicht hoffte, kriegerische Verwicklungen nicht ausschließen könnte. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Menschen ihren Frieden mit dem System gemacht haben. Aber das Denken ist nicht mehr nur ein Schwarzweißdenken; es ist differenziert und nuanciert. Wir würden uns täuschen, wenn wir glaubten, daß alles das, was 1953 Selbstverständlichkeit war, heute noch vorausgesetzt werden könnte. Ebenso ist in der Stadt, aus der ich komme, in Berlin, heute ein anderes Denken festzustellen als zur Zeit der äußeren Bedrückung, zur Zeit der Blockade. Die Gefahr ist die gleiche geblieben. Die Mittel, deren sich die andere Seite bedient, haben sich geändert und infolgedessen auch die Bewußtseinlage.
    Ein Letztes. Unsere Propaganda, die wir nach drüben leiten, ist nicht immer zweckentsprechend. Sie ist nicht immer überzeugend. Sie ist auch deswegen nicht überzeugend, weil sie die berechtigte Kritik, die an den Zuständen bei uns geübt werden kann und muß, unterdrückt und sich scheut, bestehende Fehler zuzugeben. Wir haben unbestritten den besseren Lebensstandard. Wir haben einen freiheitlichen Lebensstil. Wer aber glaubt, die Überlegenheit unseres Systems allein auf die ökonomische Überlegenheit des Lebensstandards gründen zu können, verkennt die Vielfalt des Lebens und die geistigen Elemente, die diesem Leben zugeordnet sind.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Meine Damen und Herren, was ist nun objektiv geblieben, und was ist die Ausgangsposition, die wir stets im Auge behalten müssen, wenn wir die notwendige Auseinandersetzung mit dem System drüben und dabei meine ich mit „drüben" nicht nur die DDR —, mit dem totalen kommunistischen System suchen, weil wir sie suchen müssen? Es ist geblieben die eingeschränkte Freiheit, es ist geblieben für die DDR die menschliche Belastung durch die zerrissenen Bande der Familie und der Freundschaft, es ist geblieben die Unvereinbarkeit der Systeme, die Unvereinbarkeit politisch, ökonomisch und gesellschaftlich. Es ist bei uns geblieben — und das ist der erfreuliche Ansatz, der hoffentlich einmal jene schädlichen und unnützen Polemiken um der Polemik willen beendet — die gemeinsame Zielsetzung, über eine Milderung der Spaltung zu deren Überwindung zu gelangen.
    Der Grund, der die Regierung und die Regierungsparteien veranlaßt, die mühselige gefährliche Arbeit zu verrichten, nach 20 Jahren den Versuch eines anderen Weges zu machen, nachdem der — sicherlich individuell redlich gemeinte — frühere Weg nicht zum Erfolg geführt hat, ist zunächst ein menschlicher, individueller, denn dieses menschliche Leid zu beenden ist die Aufgabe eines jeden, der sich über die Ökonomie hinaus den menschlichen Dingen zuwendet. Er ist aber auch ein nationaler, und wir scheuen uns nicht, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Nur Heloten nehmen eine Spaltung ihres Landes widerspruchslos in Kauf.

    (Beifall bei allen Fraktionen.)

    Der Weg ist aber auch — und das unterscheidet unsere jetzige Position von der Position des deutschen Bismarckschen Reiches und auch des Reiches von Weimar — international begründet. Erstmalig in der Geschichte sind unsere nationalen Interessen gleichlaufend mit den internationalen Interessen des Friedens, der Verständigung, der Aussöhnung, weil die Welt unteilbar geworden ist und weil unsere Position imperialistische —

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Die Welt ist geteilt!)

    — Unteilbar geworden ist, Herr Kollege Dr. Kiesinger! Sie ist sicherlich noch geteilt, und trotzdem ist sie unteilbar, oder sie geht zugrunde.

    (Zustimmung bei den Regierungsparteien. — Erneuter Zuruf des Abg. Dr. h. c. Kiesinger. — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das sind populär-philosophische Umdeutungen von Teilhard de Chardin! Mehr ist das nicht!)

    — Gut, aber ich glaube, Herr Kollege Marx, daß Sie ohne Erkenntnis der wirklichen grundlegenden Zusammenhänge sicherlich nicht immer den richtigen Kompaß haben; wenn man sich nur von Tagesereignissen bestimmen läßt, wohl nicht.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Aber Herr Borm, das quält uns doch, daß die eine Welt so tief geteilt ist!)

    — Ich freue mich, Sie so verstehen zu dürfen. Diese Qual tragen wir gemeinsam.
    Deutschland hat eine besondere Verantwortung. Es liegt geographisch inmitten desjenigen Erdteiles, der noch immer eine entscheidende Rolle in den Geschicken der Welt spielt. Gerade die Bundesrepublik, aber auch die DDR, trägt wegen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eine weitere zusätzliche Verantwortung. Sie haben, beide zusammen und jeder für sich, die Schlüsselstellung für Europa, so wie Berlin die Schlüsselstellung für Deutschland hat. Deswegen gibt es sicherlich keinen Zweifel im ganzen Haus: Wer Berlin aufgibt oder aufgeben will, versündigt sich an Deutschland, und wer Deutschland und seine Zukunft aufgeben will, versündigt sich an Europa.

    (Beifall bei allen Fraktionen.)

    Das, meine Damen und Herren, ist das, was uns verbindet.
    Nun zu den Methoden! Ich habe sehr aufmerksam heute die Einlassungen unseres Kollegen Marx gehört. Sie waren nicht ermutigend. Das kann ein persönlicher Eindruck sein. Ich vergleiche mit diesen Ausführungen ein Papier mit neun Thesen, das gestern bei der Präsidiumssitzung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland von unserem Kollegen Dr. Gradl überreicht worden ist. Ich habe diese Thesen



    Borm
    mehrmals gelesen. Ich würde Ihnen, meine Kollegen von der CDU/CSU, empfehlen, sich diese Thesen einmal anzusehen. In ihnen ist so vieles an Gemeinsamkeiten enthalten sicherlich auch noch an Zweifelsfragen —, daß auf einer solchen Basis sehr wohl jene notwendige — da folge ich Ihnen sehr -- und erstrebenswerte größtmögliche Breite in der Vertretung unserer deutschen Interessen gegenüber den östlichen totalitären Systemen zu finden ist.
    Jene Feststellung, die Sie zitiert haben — auch der Herr Bundeskanzler hat sie zitiert, Herr Kollege Wienand hat sie zitiert — aus der Rede des früheren Bundeskanzlers Dr. Kiesinger, jene Feststellung, daß die Zeit nicht für uns arbeitet — und wenn sie nicht für uns arbeitet, muß sie natürlich gegen uns arbeiten —, wird auch von uns geteilt. Sie ist ein Motiv gewesen, endlich daraus die nach unserer Meinung richtigen Konsequenzen zu ziehen. Wir werden Gelegenheit haben, Herr Kollege Marx — wir kennen uns ja nicht erst seit heute —, Ihre Rede sehr aufmerksam zu lesen. Aber mein erster Eindruck ist nicht so ermutigend wie der Eindruck, den mir die Lektüre des Papiers von Herrn Di. Gradl gegeben hat.
    Wir sind nach 20 Jahren — wenn ich nun sagte: Mißerfolg, würden Sie das als eine Wertung ansehen —, wir sind nach 20 Jahren Mühen, welche ohne Erfolg geblieben sind, sehr realistisch geworden. Wir haben den Mut gehabt, auf vier Ebenen gleichzeitig anzupacken, und wir hörten heute aus dem Munde des Herrn Bundeskanzlers, daß eine fünfte Ebene — die der Gespräche mit der Tschechoslowakei — in Aussicht genommen ist. Wir gehen also das Problem in der Gesamtheit an. Es ist mühselig. Wir suchen noch nicht — so weit sind wir noch nicht — nach der Möglichkeit eines Do ut des, sondern wir suchen zunächst einmal, insonderheit in unserer Unterhaltung mit den Machthabern in der DDR, alle jene Punkte, in denen im deutschen, im internationalen Interesse wenigstens noch ein Funke von Gemeinsamkeit festzustellen sein sollte, wenn auch nur in Dingen wie Verkehr, Kultur oder sonst etwas.
    Wir haben uns daran erinnert, daß es einmal eine Zeit gab, in welcher die Sowjetunion ständig erklärte, Deutsche müßten sich an einen Tisch setzen, und sie müßten und sollten miteinander reden, weil das die einzige Möglichkeit sei, zur Lösung der deutschen Probleme zu kommen. Wir werden die Sowjetunion daran erinnern, auch wenn ihre Interessenlage heute eine andere ist. Sie möge uns dazu helfen durch Einwirkung auf die DDR, daß diese ihren erkennbaren Widerstand — ihre Gründe brauchen hier nicht untersucht zu werden — endlich aufgibt und auf das offene, ehrliche Gespräch eingeht, das wir ihr angeboten haben. Wenn die Sowjetunion das tut, so dient sie zunächst ihren eigenen Interessen, wenigstens so, wie sie sie in ihrer Propaganda darstellt. Sie dient aber auch dem Frieden und damit Europa.
    Nun, meine Damen und Herren, wir wären versucht, heute über viele Einzelheiten zu reden. Es ist nicht die erste, es wird nicht die letzte Unterhaltung, die letzte Debatte sein, die wir über die deutschen Schicksalsfragen miteinander zu führen haben. Aber wir sollten zum Schluß feststellen, welche Lehren wir Freie Demokraten aus dem 17. Juni 1953 ziehen und — ich möchte noch etwas einschieben — welche Lehren wir glauben ziehen zu müssen aus dem wenig ermutigenden Stil des Wahlkampfes, den hier fortzusetzen wir uns scheuen sollten, weil das der sicherste Weg wäre, nicht zueinander-, sondern auseinanderzukommen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Herr Kollege Marx hat einige Beispiele angeführt, die ihn verletzt haben, die ihm Schwierigkeiten bereiten. Gestatten Sie mir, nur eines zu sagen. Wir glauben nicht, daß es dem Verständnis der Fraktionen untereinander dienlich ist, wenn vor 14 Tagen in Niedersachsen in einer Tagung der Landespolitiker der CDU meine Partei, die Freien Demokraten, als „Krebsgeschwür der deutschen Demokratie" bezeichnet worden ist.

    (Pfui!-Rufe bei den Regierungsparteien.)

    Meine Damen und Herren, solche Töne sollte man unterlassen. Ich glaube, ich brauche nichts weiter hinzuzusetzen; das wird wohl die Billigung keines der Kollegen, die in diesem Saale sind, finden. Wir werden uns bemühen, solche Töne herauszuhalten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Barzel: Wie ist das mit dem Krieg, Herr Borm?)

    — Auf das mit dem Krieg habe ich Ihnen geantwortet. Lesen Sie es bitte nach. Ich glaube, meine Antwort ist klar. Lesen Sie die FDK!
    Unsere Lehren aus dem 17. Juni! Wir können es uns, da die Zeit gegen uns arbeitet, nicht mehr leisten, abseits zu stehen. Wir müssen uns in den weltweiten Kampf um Ausgleich und Frieden einreihen, und haben uns darin eingereiht. Dazu gibt es nur eine Alternative: die gegenseitige Vernichtung. Der Schwerpunkt unserer Bemühungen ist, auch wenn wir jetzt auf vier, später auf fünf Ebenen verhandeln, unsere eigene, unsere deutsche Nation. Wir haben glücklicherweise festzustellen — ich sagte es bereits —, daß wir uns im Gleichlauf befinden mit den europäischen Interessen, die auf Frieden gerichtet sind, ebenfalls weil es eine andere Alternative nicht gibt.
    Der heutige 17. Juni sollte uns und wird uns Freien Demokraten ein Anlaß sein, diese unsere nationale, unsere menschliche und unsere europäische Pflicht noch zielbewußter zu verfolgen als bisher.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Hermann Schmitt
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Walter Scheel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Gestatten Sie mir, daß ich, bevor ich zu dem Thema der heutigen Aussprache komme, ein Wort zu dem uns allen beglückenden Ereignis sage, daß



    Borm
    der seit Tagen von Entführern festgehaltene Botschafter der Bundesrepublik Deutschland Ehrenfried von Holleben wieder bei seiner Familie ist.

    (Beifall bei allen Fraktionen.)

    Meine Damen und Herren, ich möchte der brasilianischen Regierung für die Zusammenarbeit in diesem Fall danken.

    (Beifall bei allen Fraktionen.)

    Sie hat Gesichtspunkte der Innenpolitik gegenüber der Sorge um das Leben eines Diplomaten zurückgestellt. Sie hat das Völkerrecht vor das nationale Recht gestellt. Ich glaube, dafür sollten wir der brasilianischen Regierung danken.

    (Beifall bei allen Fraktionen.)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ehe ich zur Großen Anfrage der Opposition zur Europapolitik der Bundesregierung Stellung nehme, möchte ich, wie das der Bundeskanzler heute morgen auch getan hat, noch einmal auf die Osteuropapolitik eingehen, einmal weil heute der 17. Juni ist, aber auch weil ich die Stellungnahmen der Opposition zu unseren Entspannungsbemühungen, die in den letzten Wochen bekanntgeworden sind, nicht unbeantwortet lassen möchte.
    In der innenpolitischen Diskussion außenpolitischer Fragen ist eine Zuspitzung entstanden, die vom Wahlkampf her begreiflich, aber in ihren Auswirkungen und in ihrem Ausmaß im Interesse der Sache unnötig, bedauerlich und auch schädlich ist. Ich
    ) hoffe, daß es gelingt, meine Damen und Herren, zu einer sachlichen Behandlung der Probleme im Parlament und in der Öffentlichkeit zurückzufinden. Die Bundesregierung wird hierzu ihren Beitrag leisten.
    Nun hat heute morgen Herr Kollege Marx von sich aus gesagt, daß auch die Opposition den Wunsch nach Gemeinsamkeiten immer zum Ausdruck gebracht habe, daß aber keine Antwort erfolgt sei, daß vor allein die Art der Zusammenarbeit mit der Opposition unbefriedigend geblieben sei. Herr Kollege Marx, Sie werden mir nicht widersprechen, wenn ich hier behaupte, daß die Information der Abgeordneten der Opposition, die dafür verantwortlich in ihren Fraktionen arbeiten, sehr dicht ist. Sie werden mir nicht widersprechen, daß die Diskussion in dem dafür zuständigen Ausschuß unter Beteiligung der Opposition außerordentlich umfangreich ist.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Aber nicht sehr gehaltvoll!)

    Sie werden mir auch nicht widersprechen, wenn ich behaupte, daß aus dieser Diskussion die Bundesregierung für ihre eigene außenpolitischen Definition Nutzen zieht. Das soll ja wohl der Sinn solcher Zusammenarbeit sein.
    Was nicht sein kann, das wäre etwa, daß wir unsere Außenpolitik, die in unserer Regierungserklärung definiert ist, aus Rücksichtnahme auf eine Opposition, die anderer Meinung in der Zielsetzung sein könnte, aufgeben. Das beabsichtigen wir nicht. Wir wollen nicht zurück, sondern wir wollen die Außenpolitik vorwärtsentwickeln, so wie wir das in der Regierungserklärung versprochen haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Auch das werden Sie mir nicht bestreiten, Herr Kollege Marx: daß es einer Regierung schwerfällt, ein noch stärkeres Maß an Zusammenarbeit mit der Opposition zu entwickeln, wenn sie feststellen muß, daß ein großer Teil der Information aus diesem so heiklen Bereich Gegenstand polemischer Wahlkampfäußerungen geworden ist.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Marx [Kaiserslautern] : Das gilt dann sicher, Herr Bundesaußenminister, für alle Seiten! Würden Sie das bitte hinzufügen!)

    Natürlich gilt das für alle Seiten. Ich habe mich jetzt auf dieses Thema beschränkt und gesagt: Wir sind aber nach wie vor bereit. Ich habe diese Zusammenarbeit immer gesucht, nicht nur im Plenum, sondern auch in den Ausschüssen und in anderen Kreisen. Das bleibt auch so. Ich bin sogar der Meinung: wir müssen unsere Methoden noch etwas verfeinern; das werden wir möglicherweise heute nachmittag noch besprechen.

    (Zuruf des Abg. Dr. Burgbacher.)

    — Ich wende mich doch immer an die Kollegen des Hauses.
    Ich möchte noch eine allgemeine Bemerkung zu dem machen, was Herr Marx heute morgen hier zu den Wahlen ausführte. Er ist ja, wie ich sagen muß, rhetorisch außergewöhnlich gekonnt vom 17. Juni nahezu ohne Übergang auf die Landtagswahlen zu sprechen gekommen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Er hat sich beklagt, daß der Bundeskanzler aus den Landtagswahlen den Schluß gezogen hat, die Regierungspolitik fortzusetzen. Ich habe im Zusammenhang mit den Landtagswahlen vorher und auch nachher gesagt, daß Landtagswahlen keine Testwahlen für die Bundespolitik sind.

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    — Warten Sie doch ab! Ich habe aber immer hinzugefügt, daß das Ergebnis von Landtagswahlen ganz ohne Zweifel einen Einfluß auf das Verhalten der Parteien in der Bundespolitik haben wird. Ich kann Ihnen sagen, daß der Einfluß, den das Ergebnis der letzten Landtagswahlen hat, der ist, daß wir das Regierungsprogramm, das wir der deutschen Öffentlichkeit unterbreitet und das zu erfüllen wir zugesagt haben, mit verstärkter Energie erfüllen werden.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Herr Marx hat in seinen Darlegungen heute morgen eine ganze Anzahl von Unterstellungen gebracht. Dies geschah in Weiterführung einer Praxis, die auch die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik ungewöhnlich erschwert, nämlich der Praxis, der Regierung Ziele und Methoden zu unterstellen, die die Regierung hier zum wieder-



    Borm
    holten Male bestritten und korrigiert hat. Aber Sie kommen immer wieder mit denselben Unterstellungen!

    (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Welche Unterstellungen?)

    Das eben erschwert die Zusammenarbeit.
    Man muß sich auch einmal darüber einigen können, daß das, was man gemeinsam will, in der Tat gemeinsam geschehen kann. Man kann nicht immer aus Gründen parteipolitischer Vorteile die Gemeinsamkeiten, deren Bestehen sich erwiesen hat, wieder in Frage stellen. Das will ich damit sagen. Ich komme gleich mit einigen Beispielen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Herr Marx hat gesagt — ich wiederhole das jetzt dem Sinn nach, weil ich das Protokoll noch nicht vorliegen habe —, es sei die CDU, die nicht zulassen werde, daß Verträge abgeschlossen würden, die die endgültige Spaltung Deutschlands zuließen. Damit insinuiert er doch, daß die Regierung das zulassen wollte oder zulassen würde. Das wird die Regierung genauso wenig zulassen wie Sie, meine Damen und Herren!

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Herr Marx hat eben festgestellt, er wolle für die CDU zum Ausdruck bringen, daß ein Frieden, den wir mit der Friedenspolitik erreichen wollen, mehr sei als Schweigen der Waffen. Damit will er doch den Eindruck erwecken, als sei die Regierung anderer Meinung.

    (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ich habe gesagt: Fragen Sie die Bevölkerung in der Zone; die wird Ihnen zu antworten haben!)

    — Herr Marx, hier ist eine der Gemeinsamkeiten. Wir sollten auch einmal anerkennen und feststellen, daß wir hier völlig einer Meinung sind.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Herr Marx hat ausgeführt, er habe den Verdacht, daß die Bundesregierung, wenn sie mit der UdSSR verhandele, dem Gedanken Vorschub leisten könnte, sie täte das, weil sie sozusagen die UdSSR als Treuhänder anderer osteuropäischer Staaten betrachte.

    (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Das hat er doch gar nicht gesagt! Zuhören, Herr Scheel!)

    — Er hat gesagt, die Methode der Verhandlungen — so war es — läßt diesen Verdacht aufkommen.

    (Zurufe von der SPD: Jawohl! — Genau das hat er gesagt! — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)