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    Deutscher Bundestag 59. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 Inhalt: Begrüßung des Präsidenten des indischen Unterhauses . . . 3215 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . 3215 A Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschland-, Ost- und Europapolitik (Drucksachen VI /691, VI /757) in Verbindung mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Beschluß des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (Drucksache VI /880) — Erste Beratung — und mit Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. Arpil 1970 zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrags zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Drucksache VI /879) — Erste Beratung — Brandt, Bundeskanzler . 3215 C, 3244 C Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 3219 B Wienand (SPD) 3226 C Borm (FDP) 3230 D Scheel, Bundesminister . 3235 D, 3268 A Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . . 3240 B, 3248 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 3245 A, 3275 D Dr. Apel (SPD) 3248 D Dr. Ehmke, Bundesminister 3250 A, 3272 B Dr. Rutschke (FDP) 3252 B Baron von Wrangel (CDU/CSU) 3254 D Behrendt (SPD) . . . . . . . 3256 C Strauß (CDU/CSU) 3261 B Mischnick (FDP) 3273 D Nächste Sitzung 3276 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 3277 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3215 59. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1970 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3277 Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Bartsch 19. 6. Breidbach 19. 6. Frau Dr. Focke 17. 6. Heyen 19. 6. Katzer 17. 6. Freiherr von Kühlmann-Stumm 17. 6. Dr. Lohmar 30. 6. Müller (Remscheid) 17.6.
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    Rede von Dr. Werner Marx


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Tag ist kein Tag wie jeder andere. Er erinnert uns daran, daß am 17. Juni 1953 Widerstand und Empörung gegen die Gewaltpolitik einer fremden Macht und ihrer deutschen Handlanger sich spontan und elementar Ausdruck verschafften. Dieser Tag fordert von uns, daß das Opfer, das damals Arbeiter, Jugendliche und Deutsche aller Stände brachten, nicht nur als geschichtliche und daher vergangene Tatsache gesehen wird, sondern als eine Verpflichtung, den Wunsch und den Willen nach Freiheit der Deutschen in Mitteldeutschland lebendig zu halten.
    „Das Geschehen um den 17. Juni — das kann heute und hier nicht stark genug unterstrichen werden -- hat den unerschütterlichen Willen der breiten, tragenden Schichten unseres Volkes zum Ausdruck gebracht, sich nicht auf die Dauer mit der willkürlichen Spaltung unseres Landes und unseres Volkes abzufinden."

    (Beifall bei der CDU CSU.)

    So haben Sie, Herr Bundeskanzler, — und die Fraktion der CDU/CSU gibt dazu Beifall -- sich als Abgeordneter dieses Hauses am 1. Juli 1953 bekannt. Und Sie haben hinzugefügt: „Sie sind gewiß nicht für die Einheit unter bolschewistischem Vorzeichen, aber mit ganzer Leidenschaft und mit letzter Hingabe für die Einheit unter freiheitlichem Vorzeichen." Dies, Herr Bundeskanzler, aus Ihrem Munde am 1. Juli 1953.
    Jetzt, meine Damen und Herren, etwa um diese Stunde am Vormittag, vor 17 Jahren, lief der Aufrut zum Streik und dann zum Generalstreik durch ganz Ostberlin. Er sprang über auf tausend Orte in der Sowjetzone. Zehntausende von Arbeitern marschierten eben um diese Zeit von den Außenbezirken in strömendem Regen in die noch weithin zertrümmerte Innenstadt.
    Wir sollten heute nicht vergessen, daß sie damals blumengeschückte schwarzrotgoldene Fahnen mit sich trugen. Und wir sollten nicht vergessen, daß sich damals im alten Lustgarten dem jetzigen Marx-Engels-Platz — weit über 50 000 Deutsche trafen, die menschenwürdige Arbeitsbedingungen verlangten und dann nach Freiheit riefen. Weil ihnen beides genommen war!
    Zwei Stunden später, etwa um die Mittagszeit, griffen die Panzer zweier eilig zusammengezogener sowjetischer Divisionen ein. Der Ausnahmezustand wurde verkündet; die brutale Gewalt der Sowjets entschied gegen die deutsche Freiheit. Die SED- Prominenz flüchtete — zum Teil in verschlossenen Panzerspähwagen --- in die sichere Obhut ihrer sowjetischen Auftraggeber.
    Man muß auch daran erinnern, daß damals junge Arbeiter vom Brandenburger Tor die rote Fahne herunterrissen,

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)

    daß von ihnen die Berliner Fahne mit. dem Bären unter Maschinengewehrfeuer, vom Dache des Hotels „Adlon" gegen das Brandenburger Tor gerichtet, aufgezogen wurde; aber in diesem Maschinengewehrfeuer blieb sie auf Halbmast hängen. Heute, Herr Bundeskanzler, gibt Ihre Regierung dem Justizminister den Auftrag, drei junge Männer, die in Kassel die Spalterfahne abgeschnitten haben, zu verfolgen. Am 1. Juli 1953 aber haben Sie, Herr Bundeskanzler, von diesel Steile Hier das Herunterholen der roten Fahne in Berlin mit folgenden Worten kommentiert -- ich zitiere—:
    Die Arbeiter haben vorn Brandenburger Tor nicht die rote Fahne, sie haben d i e rote Fahne als d a s Symbol der Unterdrückung heruntergeholt.
    Wir stimmten und stimmen dieser Wertung der Vorgänge zu.
    Wir sehen, daß nach immer nur kurzen Perioden taktischen Tauwetters die sowjetische Politik sich immer neu im Innern und nach außen verhärtet und



    Dr. Marx (Kaiserslautern)

    daß der feste Griff, den sie um Ostmitteleuropa legt, sich niemals wirklich und auf Dauer gelockert hat. Gegenüber jenem ungerechten und geschichtswidrigen Wort, wonach es die Politik der bisherigen Bundesregierung gewesen sei, die die Spaltung Europas immer weiter vertieft habe, sage ich: es führt nach dem Willen Moskaus ein gerader Weg von diesem 17. Juni 1953, von den Schüssen bei der ersten internationalen Messe in Posen im Juni 1956 zum Frühling im polnischen Oktober, zur Zerstampfung des ungarischen Aufstandes und zur Liquidation des „Sozialismus mit menschlichem Angesicht" in der CSSR.

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)

    Die Sowjetunion setzt ihre imperiale Macht rücksichtslos dort ein, wo Menschen ein Stück mehr Freiheit und ein Stück mehr Recht verlangen.
    Wir haben, meine Damen und Herren, in den Monaten seit der Regierungserklärung eine große Anzahl von Debatten zur Ost- und Deutschlandpolitik in diesem Hause geführt. Unsere Argumente sind deutlich, jedermann kennt sie. Die Ergebnisse bei den Wahlen am 14. Juni zeigten, daß unsere tiefen Sorgen gegenüber dem Kurs Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, von der Bevölkerung verstanden und von der Mehrheit geteilt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Man hat, Herr Bundeskanzler, diese Wahl eine Testwahl genannt. Man schaue sich das Ergebnis nach siebeneinhalb Monaten Ihrer Koalition an, und man prüfe das Ergebnis, aus dem keinerlei fingerfertige Propaganda einen Erfolg für Regierung und Ostpolitik hinaufstilisieren kann!

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Man prüfe, Herr Bundeskanzler, die Richtigkeit Ihrer Behauptung, daß ,die Zustimmung zu Ihrer Politik in der Bevölkerung breiter sei als in diesem Deutschen Bundestag!

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich glaube, von dieser spezifischen Form psychologischer Verfremdung politischer Tatsachen ist nichts mehr übrig.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Bundeskanzler, nach dem, was Sie gestern in Ihrer Fraktion ausführten: rechnen Sie bitte einmal die Ergebnisse der drei Landtagswahlen hoch! Rechnen Sie sie einmal auf das ganze Bundesgebiet!

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Wir fügen hinzu, Herr Bundeskanzler, daß wir sehr hoffen, daß Sie Wahlentscheidungen ernst nehmen und nicht auf Ihrer dem Wählerwillen entgegenstehenden Stellungnahme beharren, die Sie noch in der Wahlnacht abgaben und nach der Sie das Ergebnis in den drei Landtagswahlen „nicht beirren" werde und Sie diese Politik fortsetzen wollten. Es sollte Ihnen eigentlich, Herr Bundeskanzler, in den Ohren klingen, was Sie selbst in Ihrer vorhin auch hier zitierten Regierungserklärung vom 28. Oktober vorgetragen haben. Sie sagten: „Wir sind keine Erwählten, wir sind Gewählte." Und was soll im Lichte dieser Ihrer jüngsten Anmerkungen wohl jener andere Satz in der Regierungserklärung bedeuten, der lautet:
    Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger.
    Wir fragen: Zeigen diese Wahlergebnisse kein demokratisches Engagement? Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben doch einmal unsere Frage, was sich denn bei Ihnen geändert habe, mit der damals wenig angebrachten, heute aber wohl nachdenkenswerten Bemerkung beantwortet, mittlerweile seien Wahlen gewesen. Ja, Herr Bundeskanzler, mittlerweile, am Sonntag, waren Wahlen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, ich sagte, wir haben hier viele Debatten zur Ost- und Deutschlandpolitik gehabt. Wir legen nachdrücklichen Wert auf eine Diskussion der großen europäischen Fragen am heutigen Tage, und so verzichte ich darauf, noch einmal auf die vielen Argumente und Probleme, die mit der Ostpolitik dieser Regierung verbunden sind, erneut im Detail einzugehen. Aber einige Anmerkungen sind wohl vonnöten, um manches klarzustellen und zurechtzurücken, um manche Behauptung und Unterstellung zurückzuweisen.
    Da ist z. B. die etwas stupide und stereotype Behauptung, die CDU/CSU appelliere an nationalistische Instinkte.

    (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD.) Dieser Vorwurf ist Gift, Herr Bundeskanzler!


    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Dieser Vorwurf ist, so scheint uns, ein gezielter Versuch, den politischen Gegner, nämlich uns, im Inland und — meine Damen und Herren, man merkt es schon — im Ausland zu verketzern.

    (Abg. Rasner: Natürlich! — Beifall bei der CDU/CSU.)

    Eine solche Behauptung schafft Moskau und Ostberlin die dort sehr willkommene Möglichkeit, der seit Jahren laufenden absurden Agitation gegen das, was man dort die nationalistischen Kräfte in der Bundesrepublik nennt, durch Urteile, die Demokraten über Demokraten gefällt haben, demokratischen Nährstoff zuzuführen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Bundeskanzler, Sie sollten Ihren Versuch, uns des Schulterschlusses mit der radikalen, nationalistischen und faschistischen Ecke zu zeihen, wenn Sie — und manches in Ihrem Ton schien mir eben darauf hinzudeuten — Wert auf die Rückkehr zu einer sachgerechten Auseinandersetzung legen, zurücknehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Denn, Herr Bundeskanzler, wir wissen, daß im Wahlkampf mitunter härtere Worte fallen. Wir werden auf die Frage Bielefeld ohnehin noch zurückkommen.
    Aber wir haben Anzeigen von Ihrer Partei gelesen, für die, wie ich annehme, Sie als Parteivorsit-



    Dr. Marx (Kaiserslautern)

    zender und der verehrte Kollege Wischnewski, der sich offenbar als Nachrichtendienstfunktionär seiner Partei besonders bewährt hat,

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    verantwortlich waren.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen, daß solche Anzeigen — ich werde jetzt zwei Sätze zitieren — auch das Maß dessen, was in einem Wahlkampf als verständlich angesehen werden mag, bei weitem überschreiten.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD und der FDP.)

    Dort steht, daß die Regierung für Verhandlungen mit der Sowjetunion, mit Polen und für Gespräche mit der DDR sei; sie brauche dazu die „Rückendeckung". Und dann heißt es weiter — Herr Ollesch, das werden Sie nicht decken können —: „Denn die CDU/CSU-Opposition ist abgesprungen. Sie geht auf Gegenkurs, um Rechtswähler einzufangen."

    (Zuruf von der SPD: Genau! — Weitere Zurufe und Beifall hei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, daß Sie trotz der Belehrungen — auch Sie, Herr Apel; denn Sie haben ja eine „Rückendeckung" verlangt —, die Sie daraufhin am vergangenen Sonntag bekommen haben, immer noch klatschen, macht deutlich, daß Sie offenbar nicht in der Lage sind, die Konsequenzen aus ) den entsprechenden politischen Vorgängen zu ziehen.

    (Abg. Dr. Apel: Niedersachsen! — Weitere Zurufe von der SPD.)

    — Und wenn „Niedersachsen" dazwischengerufen wird, dann sollten Sie sich doch die Ergebnisse so ansehen, wie sie wirklich sind,

    (weitere Zurufe von der SPD)

    z. B. den Zuwachs, den die Christlich-Demokratische Union — und darauf sind wir stolz —

    (erneute Zurufe von der SPD — Gegenruf des Abg. Kiep)

    in Niedersachsen erhalten hat.
    Wer sagt, wir seien auf Gegenkurs gegangen — Herr Kollege Kiep, es rentiert sich manches hier nicht, beantwortet zu werden —, der versucht die unbestreitbare Tatsache zu verhüllen, daß seit einer Reihe von Erklärungen des Herrn Kollegen Wehner, die ich noch zitieren werde, die Sozialdemokratische Partei die in der Regierung der Großen Koalition gemeinsam vereinbarten und getragenen Grundlagen verlassen hat und nicht die CDU.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die CDU/CSU hat, seit sie als neue, moderne und alle Volksschichten umfassende politische Kraft angetreten ist, ihr bedingungsloses Nein zu allen Feinden der Demokratie gesagt,

    (Abg. Windelen: Zu allen!)

    zu Kommunisten und Faschisten, in gleicher Weise.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Irregeleitete versuchen wir — und dies ist eine politische Pflicht — zu überzeugen. Wir bekämpfen den Kommunismus, obwohl dies auch Rechtsradikale tun. Wir bekämpfen Rechtsradikale, obwohl dies auch Kommunisten tun. Wir bekämpfen Kommunnisten und Faschisten, weil wir für die Freiheit sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren von der Koalition, auch Sie sind doch gegen Kommunisten und Faschisten, weil auch Sie für die Freiheit sind. Dies streitet niemand ab. Aber warum reklamieren Sie dann für sich einen Maßstab, den Sie bei uns anzulegen sich weigern?

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Wer für die Einheit seines Volkes steht, wer für die Freiheit aller Deutschen eintritt, wer für die Selbstbestimmung seiner Mitbürger haftet, wer sich dagegen verwahrt, Unterdrückung auf deutschem Boden respektieren zu sollen, der ist ein deutscher Patriot und kein Nationalist.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wer sich dagegen wehrt, daß die durch sowjetischen Willen geschaffene Teilung unseres Landes festgeschrieben wird, wer nicht bereit ist, unter dem wohlklingenden Etikett eines Gewaltverzichtvertrages endgültig die deutsche Spaltung zuzulassen, der ist kein Nationalist, sondern ein deutscher Demokrat.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Bundeskanzler, ich habe mit Freude gehört, daß Sie dem, was ich jetzt im nächsten Satz sage, eigentlich völlig zustimmen; denn: wer Unrecht Unrecht nennt und nicht vor jenen zurückweicht, die 17 Millionen Deutschen ihre Freiheitsrechte vorenthalten, der ist und da sind wir hoffentlich alle einig — kein Nationalist. Er steht für das Menschenrecht, auch in Deutschland.
    Wer, wie wir, die CDU/CSU, seit Bestehen der Bundesrepublik es getan haben, Vertrauen in der Welt für die deutsche Demokratie, wer Freunde und Verbündete geschaffen hat, wer wirkliche Friedenspolitik betreibt, indem er das Lager der Freiheit und die Kräfte für die Freiheit gestärkt hat, wer alle seine Kräfte auf das schwierige Werk konzentriert, Europa aus nationalstaatlicher Zersplitterung zu einer handlungsfähigen politischen Einheit hinzuführen, den kann und darf niemand — schon gar nicht solche, die zunächst geglaubt haben, unseren europäischen Kurs als Verrat an der Nation bezeichnen zu müssen — einen Nationalisten schimpfen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Unsere Vorstellungen von einer verantwortbaren Friedens- und Ostpolitik hat man — wie oft! — herabgesetzt und dabei die Motive unseres Handelns verdreht und verbogen.
    Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren der Koalition, Sie wissen genau, daß wir für Gespräche, Kontakte, Verhandlungen und Vereinbarungen mit den politischen Führern des europäischen Ostens und für Verständigung und Friedenssicherung mit den dortigen Völkern sind. Sie wissen auch, daß wir diese Kontakte trotz aller Schwierig-



    Dr. Marx (Kaiserslautern)

    keiten und Belastungen angeknüpft, ausgebaut und erweitert haben. Ich gehöre selbst zu denen, die sich in den letzten Jahren immer wieder in Ost- und Südosteuropa darum bemüht haben, Verständnis für die Lage unseres Volkes zu wecken, und immer ein offenes Ohr für die Argumente der anderen Seite gehabt haben. Viele Kollegen aus meiner Fraktion haben dort Gespräche geführt, Gedanken und Meinungen ausgetauscht. Aber wir haben dabei nie geglaubt, daß durch bloße Gespräche mit Kommunisten und schon gar nicht durch einseitiges Eingehen auf ihre Forderungen der Frieden befestigt und kurzfristig Lösungen zur Überwindung der schlimmen Spaltung gefunden werden könnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Was unsere Politik von der Ihrigen, Herr Bundeskanzler, unterscheidet, sind vor allem zwei Dinge: erstens haben wir uns gehütet, voreilige Hoffnungen zu wecken, und wir haben zweitens nie geglaubt, daß sich Vorauszahlungen oder Vorausleistungen dem Osten gegenüber lohnen könnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir haben das Parallelogramm der Kräfte nie nach Hoffnungen, sondern nach den harten Tatsachen gezeichnet. Wir wehren uns dagegen — insoweit bin ich dankbar, Herr Bundeskanzler, daß Sie soeben in Ihrer Darlegung eine Klarstellung angebracht haben; trotzdem gehe ich darauf ein, weil es bis zum heutigen Morgen immer so schien —, wir wehren uns dagegen, daß die Politik dieser Regierung pole- t misch als eine Friedenspolitik bezeichnet wird und man in der Art, in der man das vorträgt, den Eindruck erweckt, als sei unsere Politik weniger von dem Wunsch nach Frieden getragen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Bitte, Herr Bundeskanzler, nehmen Sie ein für allemal zur Kenntnis: wir, die Union, nehmen den Frieden genauso ernst wie Sie. Aber mir scheint, daß wir über den Inhalt dessen, was der Begriff „Friede" aussagt, nicht in allem einig sind.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Fragen Sie doch, Herr Bundeskanzler, gerade heute, da der 17. Juni uns gemahnt, die Menschen in Mitteldeuschland! Die werden Ihnen sagen, daß Frieden mehr ist als das Schweigen der Waffen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir wollen die Freiheit unseres Landes bewahren und seine rechtsstaatliche Ordnung ausbauen. Wir wollen alles in unserer Macht Stehende tun, um im anderen Teil unseres gequälten Landes mehr Menschlichkeit zu erreichen. Wir werden nie an einer Politik mitwirken, die uns schuldig macht, praktisch — praktisch! — die Selbstbestimmung drüben zu verbauen. Wir sind deshalb nicht bereit - ich sage: wir können es nicht —, eine sogenannte Grenze quer durch Deutschland vertraglich zu respektieren, die in Wahrheit — und, Herr Bundeskanzler, ich nehme wieder einen Satz von Ihnen auf, cien Sie soeben sagten — Mauer, Minenfelder und Maschinengewehrtürme heißt. Keine deutsche Regierung hat ein Recht, mit der Sowjetunion in einer
    Weise zu verhandeln — ich spreche gewisse Methoden an, die man in Verhandlungen gepflogen hat —, die direkt oder idirekt als eine Bestätigung der völkerrechtswidrigen Breschnew-Doktrin bei den betroffenen Völkern jenseits der Demarkationslinie verstanden werden kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, wenn wir mit den Verantwortlichen in Moskau sprechen, dann in ihrer Eigenschaft als sowjetische Regierung, nicht aber, um sie sozusagen als Treuhänder der Polen und Tschechen, der Ungarn und Slowaken, der Bulgaren und Rumänen zu bestätigen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    In der kommunistischen Welt, in dem von der Sowjetunion organisierten, im Pferch der ideologischen, ökonomischen und militärischen Zwänge festgehaltenen Osteuropa, wird eine andere Sprache geprochen. Dort herrschen im vollen Sinn des Wortes andere Gesetze. Dort bestimmt eine brutale Macht das Geschick jener Völker, die schweigen und gehorchen müssen.
    Wer, meine Damen und Herren, in Osteuropa Gespräche führt, darf nie das den Völkern dort aufgezwungene Gesetz der sowjetischen Ordnung aus den Augen verlieren. Wer ausgezogen ist, mitzuhelfen, diese heutige Wirklichkeit Osteuropas in eine Friedensordnung zu überführen, der muß diese Wirklichkeit zunächst erkennen. Es ist falsch so zu tun, als handle es sich bei kommunistischen Politikern um Leute, deren Wertvorstellungen, deren ethische und politische Normen, deren Begriffsinhalte den unseren nahe verwandt seien. Es ist irrig, zu glauben, daß dort in adäquaten Denkkategorien argumentiert werde. Meine Damen und Herren, Logik und Ratio, wie wir sie kennen, und leninistische Dialektik sind zwei in der Anlage und im Denkzweck tief verschiedene Methoden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Guter Wille — Herr Bundeskanzler, das ist hier oft gesagt worden: niemand streitet Ihnen guten Willen ab — einer Seite allein genügt nicht. Im Kraftfeld der West-Ost-Politik treffen sich viele Absichten und Vorstellungen. Politik, meine Damen und Herren, die diesen Namen verdient, wird erst dann möglich sein, wenn beide Seiten aufeinander zugehen, vom beiderseitigen Willen zum Ausgleich, zum Geben und Nehmen, erfüllt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Entspannung, Herr Bundeskanzler, wollen wir alle.

    (Zuruf des Abg. Dr. Schäfer [Tübingen].)

    — Herr Schäfer, Entspannung wollen wir alle.

    (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Ja!)

    Das heißt doch, wenn dieses Wort einen politischen Sinn hat, daß wir uns mühen, Spannungen zu mindern,

    (Zuruf von der SPD: Aha!)

    die Ursachen der Spannungen, meine Damen und
    Herren — da liegt offenbar der Konflikt zwischen



    Dr. Marx (Kaiserslautern)

    Ihnen und uns dem Aufspüren der Ursachen der Spannungen —,

    (Abg. Frau Griesinger: Sehr gut! Genau!)

    Stück um Stück zu beseitigen. Entspannung heißt, einen Beitrag zum Frieden leisten. Dazu waren wir und dazu sind wir bereit.
    Aber können Sie uns sagen, ob sich die sowjetische Seite dort, wo es um deutsche Probleme geht, dort auch, wo z. B. von gleichzeitiger und vergleichbarer Abrüstung denken Sie an die Konferenz in Rom: vergleichbare Truppenreduzierungen im Abschnitt Europa Mitte gesprochen wird, bisher auch nur um ein Quant bereit gezeigt hat, ihren Beitrag zu leisten? Entspannung, meine Damen und Herren, ist nur möglich, wenn beide Seiten sie wollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wenn nur die eine Seite entspannt, die andere nicht, entstehen neue Spannungen.

    (Abg. Frau Griesinger: Sehr richtig!)

    Wer glaubt, durch einseitige Aktionen entspannen zu können, der gefährdet in Wahrheit den Frieden. Wo nur die eine Seite, also die unsere, gibt, die andere nur nimmt und ihre Forderungen steigert, dort wird nur ein Zyniker von Entspannung oder gar von Normalisierung reden können.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Schließlich, meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf folgendes hinweisen. Das Bild des Menschen in seiner Würde und in seinen unveräußerlichen Rechten, auch das Bild von Inhalt und Ziel der Geschichte sind drüben und hier tatsächlich grundverschieden. Wer also Gespräche führt, wer sie mit dem Ziel führt, Verträge, die über Schicksal entscheiden, zu formulieren und zu unterzeichnen, muß zuvor prüfen, mit wem er es zu tun hat. Er muß erkennen, wer sein Gegenüber ist. Er muß die Triebkräfte kennen, die diesen leiten, und er muß wissen, was jener will. Herr Bundeskanzler, ich fürchte, daß Ihre Analyse von Denken, Absicht, Organisation und Methode kommunistischer Gesprächspartner nicht der Realität entspricht, von der Sie so gerne reden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Deshalb fragen wir: Sie wollen den Frieden sicherer machen — gut ; aber mit welchen Mitteln? Deshalb fragen wir: Sie wollen etwas bewegen. — Wohin wollen Sie bewegen?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie wollen Spannungen abbauen. Gut, aber mit welchen Methoden, so fragen wir.
    Ich füge noch eines hinzu. Sie und Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, haben sich unserer Auffassung nach ohne Not unter Zugzwang gesetzt. Sie haben zu spektakulär agiert.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)

    Sie haben Hoffnungen erweckt, daß es bald zu guten, einvernehmlichen Übereinkünften mit kommunistischen Staaten kommen könne. Ich frage erneut: Wo, Herr Bundeskanzler, ist die Sowjetunion
    heute bereit, auch nur einen Fußbreit entgegenzukommen? Sagen Sie es uns! Wo ist Ostberlin bereit — ich erinnere an die letzte Debatte —, auch nur „einen Millimeter" einzulenken? Müssen Sie nicht heute zugeben, Herr Bundeskanzler, daß auch Sie die schmerzliche Erfahrung machen mußten, daß sich Vorausleistungen gegenüber totalitären Regimen nicht lohnen?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie haben bei der Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag, bei der Vorbereitung der Begegnungen von Erfurt und Kassel, bei der Einleitung der Gespräche in Moskau und Warschau eine positive Entwicklung mit dem Hinweis vorausgesagt, daß damit der Friede sicherer gemacht werde. Sagen Sie uns nun: Was haben Sie bei der Sowjetunion mit dieser unserer Auffassung nach übereilten Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertag eigentlich bewegt? Was bedeutet die Übernahme eines Begriffes aus der Wetterkunde „Verbesserung des Klimas" in diesen politischen Bereich? Jetzt, nach dem Kasseler Treffen, rufen Sie, Herr Bundeskanzler, aus, man dürfe keine Illusionen haben. Wen meinen Sie? Wen rufen Sie zur Geduld?

    (Beifall bei der CDU/CSU.) Uns, die CDU/CSU?!

    Verehrter Kollege Mischnick, Sie haben nach dem Kasseler Treffen ja auch — ich habe das mit Interesse gelesen — wiederholt in Ihren Einlassungen im Rundfunk gesagt: Keine Illusionen! Ich habe mich damals immer gefragt: Wen mag er nur meinen? Uns sicher nicht.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Bundeskanzler, wir fürchten auch — ich sage das sehr offen —, daß Ihr Emissär in Moskau den Eindruck hinterlassen hat ,man müsse nur unnachgiebig bleiben, dann werde sich die westliche Nervosität auszahlen; anders gesagt, die Bundesregierung werde dann Schritt um Schritt jenen Forderungen entgegenkommen, die wir kennen,

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)

    und dadurch tatsächlich „Wandel durch Annäherung" schaffen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, wir haben in unserer Großen Anfrage die Sorge geäußert, Sie, Herr Bundeskanzler, wollten eine Wende in der Politik herbeiführen. Wir fühlen uns in dieser Sorge durch das, was in den letzten Tagen in den Zeitungen zu lesen war, bestätigt. Wir haben Ihnen von dieser Stelle aus sehr oft angeboten, für die Ost- und Deutschlandpolitik eine breite Mehrheit in diesem Haus und in der Bevölkerung unseres Landes zu schaffen. Wir haben uns angeboten, nicht nur als gelegentliche Gesprächspartner, denen man partielle und ausgewählte Informationen übermittelt, sondern als Mitwirkende und Mitverantwortende, weil wir sehr wohl wissen, daß Vereinbarungen mit den Staaten Osteuropas, Lösungen der bestehenden großen Fragen nur dann dauerhaft sein können, wenn sie von



    Dr. Marx (Kaiserslautern)

    einer großen Mehrheit unseres Volkes und dessen Repräsentanten in diesem Hause gemeinsam getragen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Aber -- wir beklagen das, man hat diese Angebote — ich muß es so sagen, auch heute, an einem Tag, wo man vielleicht sagen sollte: verwende diesen Satz nicht, aber wir sind verpflichtet, die Wahrheit zu sagen —, Herr Bundeskanzler, Sie haben unsere Angebote mit einer Mischung von Selbstüberschätzung und Arroganz behandelt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie haben uns von der Verantwortung willentlich ausgeschlossen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ihre Weigerung, Herr Kollege Wehner, da Sie gerade lachen,

    (Zuruf von der SPD)

    mit uns zusammen die Resolution vom September 1968 zu wiederholen, diese Weigerung war ein Signal. Sie zeigte die Veränderung in Ihrer Politik. Man diskreditierte unseren Wunsch zur Gemeinsamkeit und dieses Motiv ist eben in einem Nebensatz des Bundeskanzlers wieder aufgetaucht; aber, Herr Bundeskanzler, dies ist falsch --, man bezeichnete unseren Wunsch nach Gemeinsamkeit als einen Versuch, der Bundesregierung Fesseln überzuwerfen. Man sprach davon, daß man über die Opposition hinweg, die man ja gar nicht brauche,

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU -Zuruf von der CDU/CSU: Herr Wehner!)

    der Regierung den Weg freikämpfen wolle. Dies alles, Herr Kollege Wehner, sind Sätze aus Ihrem Munde. Sie, Herr Wehner, waren es, der die Emissäre der Bundesregierung mit der — entschuldigen Sie -- leichtfertigen Formulierung in die Verhandlungen schickte, ein Scheitern der Verhandlungen werde es nicht geben.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)

    Wie soll, meine Damen und Herren, wenn man sich so festlegt, noch ein geduldiges Ringen am Verhandlungstisch, ein prüfendes Abwägen möglich sein, wie soll ein vielleicht. notwendiger Rückweg betreten werden können?
    Sollten Sie, Herr Bundeskanzler, sich heute nicht fragen, heute, da die in Moskau ausgehandelten Texte offenbar nicht überall, selbst nicht in den Reihen ihrer eigenen Koalition, auf Zustimmung stoßen, ob Ihr Unterhändler in Moskau zuviel versprochen hat?

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

    Wenn es nun zu negativen sowjetischen Reaktionen kommen sollte, müßten Sie, Herr Bundeskanzler, sich dann nicht sagen, daß dies deshalb geschieht, weil Sie die Lage falsch eingeschätzt haben,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    sicher nicht deshalb, weil wir, die Union, unsere Positionen verändert hätten?
    Ich erinnere daran, daß am 25. Februar dieses Jahres der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Herr Dr. Barzel, auf die ungenutzten Möglichkeiten zur Kooperation mit der Opposition hingewiesen und festgestellt hat: wenn Sie, Herr Bundeskanzler, eines Tages zu der Erkenntnis kommen sollten, daß Sie „eine Chance für die deutsche Politik nicht genügend haben wahrnehmen können, dann würde diese verpaßte Chance im Geschichtsbuch der deutschen Politik mit Ihrem Namen überschrieben sein".
    Kooperation in Lebensfragen unseres Volkes verlangt Information. Herr Kollege Barzel hat auch am 25. Februar — angeboten, weil, wie er sagte, Deutschlandpolitik nicht kurzfristige „klimatische Erfolge", sondern langfristig wirkende und haltbare Lösungen im Interesse der Menschen, der Völker und einer besseren europäischen Ordnung brauche, „ernsthaft, offen und geduldig miteinander" zu sprechen. Wir fordern Sie auf, Herr Bundeskanzler, in allem Ernst, diesen Hinweis nicht wieder in den Wind zu schlagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Heute aber würden wir unsere Pflicht vernachlässigen, wenn wir nicht von der Regierung Auskunft auch über jene Punkte verlangten, die Schicksalsfragen dieser Nation betreffen und die nach Darstellung einiger „Vertragstexte" sind, über die die Herren Bahr und Gromyko übereingekommen sind, die nach der Interpretation des Außenministers lediglich „Protokollnotizen" sind.
    Herr Bundeskanzler, wenn Sie hier nicht antworten wollen, sollten Sie es zumindest im Auswärtigen Ausschuß tun; wir haben heute ja dort noch eine Sitzung. Aber wir bestehen darauf — denn dieses Parlament geht jetzt in die Ferien —, auf die jetzt gestellten Fragen noch vor den Ferien eine klare und eindeutige Antwort zu erhalten.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die Presse, meine Damen und Herren, hat diese Punkte zitiert. Sie sind in der Öffentlichkeit. Sie werden dort diskutiert und kommentiert. Dies hier aber ist das frei gewählte deutsche Parlament. Seine Mitglieder sind ihrem Gewissen verpflichtet. Dieses Gewissen zwingt uns, zu fordern, daß das Parlament voll über das informiert werde, was, Herr Bundeskanzler, Ihr Unterhändler aus Moskau mitgebracht hat. Denn wir wollen keineswegs schlechtergestellt werden als jene Mitglieder kommunistischer Zentralkomitees, die, wie wir verläßlich wissen, seit vielen Wochen ausführlich über die Moskauer Papiere und die in Moskau vorgetragenen Absichten und Interpretationen des Staatssekretärs Bahr debattieren.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

    Wir fragen daher:
    Erstens. Entsprechen die in der Presse wiedergegebenen vier Punkte den Moskauer Vereinbarungen?
    Zweitens. Sind diese Formulierungen mit dem von der sowjetischen Regierung autorisierten Außenministers Gromyko so fixiert, daß sie kaum oder gar nicht mehr geändert werden können?

    Dr. Marx (Kaiserslautern)

    Drittens — und auch das ist wichtig —: Handelt es sich hier um den ganzen Text, oder gibt es noch weitere Übereinkünfte, etwa über eine Aufnahme dessen, was man heute „die zwei Staaten auf deutschem Boden" nennt, in die Vereinten Nationen? Wo sind die Vereinbarungen über die Rolle Westberlins? Wie soll das Selbstbestimmungsrecht zweifelsfrei verankert werden? Oder gibt es da etwa gar keine Vereinbarungen, sondern vielleicht nur ein einseitiges deutsches Papier und demgegenüber eine sowjetische Weigerung in der Sache? Welche Vereinbarung — so fragen wir — ist mit der Sowjetunion über das Münchener Abkommen getroffen worden? Doch nicht etwa die gleiche, welche die Sowjetunion mit der CSSR am 6. Mai in Ziffer 6 ihres Vertrages abgeschlossen hat, nach welcher das Münchener Abkommen von Anfang an mit allen Rechtsfolgen ungültig sei?

    (Abg. Rasner: Was heißt das?)

    Wir fragen viertens: Wie wollen Sie den sowjetischen Gewaltvorbehalt nach den Art. 53 und 107 der UN-Charta wirklich und tatsächlich ausschalten? Glauben Sie wirklich, daß die Betonung — Sie haben es hier wiederholt und haben gesagt, Herr Bundeskanzler, dieser Artikel gilt gegenüber allen; einverstanden des Art. 2 der UN-Satzung in dem Vertragstext ausreicht? Denn ich füge hinzu: Es ist einfach nicht wahr, daß auch die Westmächte uns zu diesen Punkten nicht mehr und nichts anderes erklärt hätten; sie haben vielmehr eindeutig erklärt, daß es kein einseitiges Interventionsrecht gegen die Bundesrepublik Deutschland gebe.

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)

    Wo ist, Herr Bundeskanzler, die eindeutige, zweifelsfreie Erklärung zu dieser Sache von seiten der Sowjetunion?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Außenminister, Sie haben in einer der ersten Ausschußsitzungen, in der wir über diese Frage im Zusammenhang mit der Bahr-Mission diskutiert haben, gesagt, es sei Ihr Ziel, ein Abkommen über Gewaltverzicht ohne Gewaltvorbehalt abzuschließen. Wir fragen: Gilt das noch? Oder hat sich der Staatssekretär im Bundeskanzleramt auch in dieser Sache auf Formeln eingelassen, die von unseren Überzeugungen abweichen? Ich erinnere in diesem Zusamenhang an die Versicherungen, die der Bundeskanzler in der Beantwortung unserer Großen Anfrage zum Atomwaffensperrvertrag am 12. November in diesem Hause abgab. Er sagte — ich zitiere —:
    .. die sich aus den Art. 53 und 107 ergebende Problematik, von der diese Regierung meint ..., daß darüber abschließend im Zusammenhang mit dem Gewaltverzicht und nicht im Zusammenhang mit dieser Materie gesprochen werden sollte."
    Herr Bundeskanzler, Sie sagten „abschließend": Ich frage: was ist abgeschlossen?
    Ich erinnere auch an die an diesem Tage durch den Herrn Außenminister uns gegebene Erklärung. Er sagte wörtlich:
    Ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß der Komplex der Art. 53 und 107 in zukünftige Verhandlungen mit der Sowjetunion hineingeschoben wird, die nicht mit dem NV-Vertrag in Verbindung stehen.
    Das letzte Zitat. Herr Bundeskanzler, Sie haben am 14. Januar im Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland —

    (Glocke des Präsidenten.)

    — Herr Präsident, ich brauche noch drei Minuten.


Rede von Kai-Uwe von Hassel
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Einverstanden, wenn es bei den drei Minuten bleibt.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Werner Marx


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Aber, Herr Bundeskanzler, da muß ich die Gelegenheit doch noch ergreifen und Sie fragen: Wo ist denn nun eigentlich der vorgelegte zweite Teil des Berichts zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland?

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Am 25. Februar sind Sie von unserer Fraktion wiederholt gemahnt worden, ihn endlich auf den Tisch zu legen. Heute, am 17. Juni, war nach meiner Überzeugung der Tag, so lange Versäumtes gut nachzuholen.

    (Beifall bei der CDU/ CSU.)

    Sie hatten damals gesagt — ich zitiere — „Also kann das Ziel der deutschen Politik in diesem Zusammenhang ... was die Sowjetunion angeht, nur sein, uns gegenüber einen ähnlichen Stand zu erreichen, wie wir ihn durch die Interpretationen und Zusicherungen seitens der Westmächte erreicht haben. Sie haben nämlich diese Artikel der Charta der Vereinten Nationen für obsolet erklärt". Wir fragen: Erhalten Sie das noch aufrecht? Wenn ja, in welcher Weise? In welcher für beide Seiten verbindlichen Form? Wenn nein, warum nicht? Was, Herr Bundeskanzler, hat sich geändert?
    Erklärt nun — das ist unsere nächste Frage — auch die Sowjetunion, daß unsere Forderungen nach friedlicher Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts keine Gewaltpolitik seien, gegen die sie mit Gewalt intervenieren können, so wie sie dies bisher immer behauptet hat?

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr wichtig!)

    Und überhaupt, Herr Bundeskanzler — ich komme noch einmal darauf zurück, weil uns dies bedrückt, weil uns dies tiefe Sorge macht —, was verstehen wir zusammen nun eigentlich unter Gewaltverzichtsvertrag? Können wir uns hier nicht auf eine klare Erklärung, Interpretation, Ausdeutung, die für uns alle verbindlich ist, einigen? Bleibt das Etikett „Gewaltverzicht", obwohl es nun doch die Spatzen von allen Dächern pfeifen, daß es sich offenbar um einen sogenannten Gewaltverzicht mit aufrechterhaltenem Gewaltvorbehalt handelt, um die weitestgehende Übernahme jener Formel der sowjetischen Deutschlandpolitik uns gegenüber, die Sie, Herr Kiesinger, als Bundeskanzler immer abgelehnt haben?



    Dr. Marx (Kaiserslautern)

    Fünftens. Ist unsere Befürchtung etwa richtig, daß Sie im Grunde der Sowjetunion ein Angebot machen, den Status quo des geteilten Europa zu akzeptieren, um dafür eine gewisse Sicherung der Wege nach Westberlin zu bekommen, dabei aber die Bundespräsenz in Westberlin zum Handelsobjekt machen? Wir, die CDU/CSU, erklären, daß zu den gewachsenen Beziehungen Berlins zur Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich und ohne Einschränkung die bisherige Präsenz der Bundesorgane gehört.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wer Westberlin sichern will, darf d a rüber nicht handeln.
    Sechstens. Sagen Sie uns bitte eindeutig, was die Sowjetunion darunter versteht, wenn wir „heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich" bezeichnen sollen. Versteht Sie darunter nur den Ausschluß von Gewalt? Hat sie dies so gesagt? Und ist sie bereit, dies auch so in den Vertrag zu schreiben? Sagen sie uns auch, ob die Formel, daß die gegenwärtigen Grenzen uneingeschränkt zu achten seien, von der Sowjetunion etwa als ein Instrument der Intervention in unserer europäischen Integrationspolitik mißbraucht werden kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Siebtens. Von welcher Grenzvorstellung — das wüßten wir gern; denn, Herr Bundeskanzler, Sie vergleichen oft den Ausgleich mit Polen mit dem Ausgleich mit Frankreich — geht Ihre Regierung aus? Von derjenigen, die die sowjetische oder die polnische Seite will, also einer verhärteten, nationalstaatlich verkrusteten, ins 19. Jahrhundert verweisenden, reaktionären Auffassung vom Charakter einer Grenze oder von jenem Verständnis, das uns in Westeuropa während der beiden letzten Jahrzehnte geleitet hat?
    Meine Damen und Herren, ich schließe. Die Union will Freiheit und Sicherheit wahren. Die Union will den Frieden erhalten und festigen. Sie will das gesicherte Bündnis stärken und das politisch geeinte freie Europa mitbauen. Die Union sucht Verständigung mit allen Staaten und Völkern, die dazu partnerschaftlich bereit sind. Sie will eine Politik, in der die Begriffe und deren Inhalte stimmen. Sie ist für Verträge, die klar sind, von beiden Seiten frei und verantwortlich ausgehandelt und tragfähig für friedliche Zukunft. Die Union wird einer Politik der Halbheiten, der verwaschenen Formeln und der Öffnung für neue Pressionen entschieden widerstehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Um dies darzulegen, meine Damen und Herren, und um noch einmal klar und deutlich zu machen, wie die Position der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union ist, haben wir diese Stunde genutzt. Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Erklärung für meine Begriffe — ich sage das jetzt für mich — neue Töne und in manchen Inhalten eine veränderte Position angedeutet. Darauf wird sicher der Vorsitzende unserer Faktion eingehen. Was ich deutlich machen wollte, war jene kontroverse Situation, die wir, wenn wir ehrlich zueinander sind, nicht zukleistern, sondern offen diskutieren müssen mit dem Willen, darüber hinaus dann, wenn es möglich ist und Sie bereit sind, gemeinsame Ufer zu erreichen.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)