Ihr Eindruck täuscht Sie, Herr Kollege Benda.
Ich wäre längst bei der Sache, wenn Sie nicht ein so großes Vergnügen daran hätten, sich über die formelle Seite hier mit so vielen Zwischenfragen zu verbreiten.
Ich glaube, wir können das Thema jetzt wirklich beenden; denn Sie wissen so gut wie ich: ein Streit darüber, daß eine Regelung dieser Frage dringlich ist, kann eigentlich ernsthaft nicht geführt werden. Jedenfalls ist nach Auffassung der Bundesregierung - und deshalb begrüßt sie die Vorlage dieses Entwurfs - die Reform dieser Strafvorschriften vordringlich, und zwar weil sie sieht, daß im geltenden Recht entscheidende und schwerwiegende Mängel vorliegen, und sie es für notwendig hält, daß hier Abhilfe geschaffen wird.
Der erste Umstand, auf den ich noch einmal nachdrücklich hinweisen muß, ist die Tatsache, daß die Fassung der Tatbestände in der heutigen Form unbestimmt und in wesentlichen Punkten nicht mit dem Grundgesetz abgestimmt ist.
Der zweite Umstand ist, daß für eine Reihe von Delikten die Höhe der Mindeststrafen viel zu groß bemessen ist nach dem, was wir heute nach der Anlage der Reform des Strafgesetzbuches für sinnvoll und vernünftig halten. Die Tatsache, daß die Mindeststrafe für Aufruhr in der Regel sechs Monate ist, die Tatsache, daß für Landfriedensbruch bei Personen, die selbst Gewalttätigkeit gegen Personen begehen oder Rädelsführer sind, ein Jahr Zuchthaus, im Falle mildernder Umstände sechs Monate Gefängnis angedroht werden, macht das, so meine ich, hinreichend deutlich.
Die Folge dieser Mängel, die allseitig empfunden werden, ist eine unterschiedliche Spruchpraxis der Gerichte im Hinblick auf die Auslegung der Tatbestände und auch auf die Strafzumessung.
Ich glaube nicht, daß wir auf die Dauer hinnehmen können, daß in der öffentlichen Debatte immer wieder anklingt, die Gerichte seien für diese Mißstände und für manche unverständlichen Urteile verantwortlich zu machen. Für eine verfassungskonforme Auslegung läßt die Fassung der Tatbestände in der Form, wie sie heute vorliegen, oft keinen Spielraum. Immerhin ist es dem BGH zu danken, daß er mit dem Urteil vom 8. August dieses Jahres im Falle Laepple die Auslegung des § 125 StGB in einem restriktiven, einengenden Sinne geklärt hat und verbreiteten Tendenzen zu einer extensiven Auslegung entgegengetreten ist.
Aber dies ist nur ein Punkt in der Gesamtproblematik. Soweit die Gerichte in Einzelfällen - und auch hier wird die Problematik noch einmal deutlich — besonders hoch erscheinende oder tatsächlich hohe Freiheitsstrafen verhängt haben, lag das daran, daß die Voraussetzungen der §§ 115 und 125 Abs. 2 StGB bejaht werden mußten. Hier waren eben solche hohen Strafen infolge der hoch angesetzten gesetzlichen Mindeststrafen einfach nicht zu umgehen.
Meine Damen und Herren, die Behandlung dieses Sachverhaltes ist dringlich, weil es eine Aufgabe ist, der sich der Gesetzgeber nach Lage der Dinge sehr bald annehmen muß. Nur er kann hier zu einer Lösung beitragen. Er alleine ist befugt, die politischen Aspekte der Unruhe in unserem Lande zu berücksichtigen und bei der Neugestaltung dieser Tatbestände auch in angemessener Form zur Geltung kommen zu lassen. Er alleine ist in der Lage, den notwendigen rechtspolitischen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu schaffen. Lassen Sie mich in aller gedrängter Kürze für diesen Interessensausgleich einige, wie mir scheint, wesentliche Gesichtspunkte nennen.
Für das Funktionieren des demokratischen Prozesses politischer Willensbildung ist das Grundrecht der Versammlungsfreiheit des Art. 8 des Grundgesetzes von fundamentaler, von grundsätzlicher Bedeutung. Die Belebung des Demonstrationsrechtes in den letzten Jahren muß auch richtig verstanden werden als ein Beitrag zur stärkeren Demokratisierung unserer Gesellschaft. Die Frage, der wir uns zu stellen haben, ist: daß das Strafgesetz nicht dazu führen, auch nicht dazu verführen darf, daß der fried-
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Bundesminister Jahn
liche Demonstrant entmutigt wird, sondern im Gegenteil: es muß ihm deutlichgemacht werden, welches und wo seine Rechte sind, auch wo die Grenzen dieser Rechte liegen.
Der Gesetzesvorbehalt, den Art. 8 macht und
damit komme ich auf eine der Fragen zu sprechen, die hier im Laufe der Debatte angeschnitten worden sind —, ist im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen, wonach der Umfang der gesetzlichen Einschränkung an der Bedeutung des Grundrechtes, um das es geht, oder der Grundrechte, die miteinander in Konkurrenz treten, gemessen werden muß. Jedenfalls darf es in der gesetzlichen Regelung nicht das schien mir bei der einen oder anderen Bemerkung anzuklingen — zu einer generellen Hintansetzung des Versammlungsrechtes hinter andere Interessen der Bürger kommen.
— Ich entnehme Ihrem Nicken bzw. Kopfschütteln — je nachdem an welcher Stelle meiner Ausführungen es erfolgt ist —, daß wir in diesem Punkte erfreulicherweise übereinstimmen.
Wir dürfen uns in der Debatte auch nicht von der Vorstellung beeinflussen lassen - ich sage bewußt „beeinflussen" und nicht „leiten" —, daß die Verwirklichung des Demonstrationsrechts in der Tat für den einzelnen Bürger Unbequemlichkeiten mit sich bringen kann, die wir von der Verfassung her nicht falsch interpretieren dürfen. In bestimmtem Umfang müssen vom einzelnen Bürger Einschränkungen, Behinderungen hingenommen werden, die mit dem Gebrauch der Freiheit durch andere nun einmal verbunden sind.
Andererseits - das möchte ich gerade im Hinblick auf die Bemerkungen des Herrn Kollegen Benda hier sehr deutlich unterstreichen — muß berücksichtigt werden, daß die Versammlungsfreiheit in ihrer politischen Funktion auf die Überzeugungs-
und Meinungsbildung abzielt. Das heißt, Art. 8 des Grundgesetzes ist kein Freibrief für Versuche, sich gewaltsam Gehör zu verschaften; mit anderen Worten: Art. 8 schützt ausdrücklich nur friedliche Versammlungen. Das heißt schließlich, daß die Friedensfunktion, die Befriedungs- und Friedensgewährleistungsfunktion des Rechts eine unaufhebbare Schranke für das Demonstrationsrecht setzt.
Wir dürfen im übrigen die Straftatbestände nicht nur aus der Perspektive von Studentendemonstrationen sehen.
Nach den Erfahrungen der Rechtsprechung betreffen sie auch ganz unpolitische Ausschreitungen, den Bandenvandalismus, Gewalttätigkeiten gegen mißliebige Nachbarn; das eine oder andere sonstige Beispiel ist hier in der Debatte ausgeführt worden. Wir dürfen auch nicht übersehen, daß hier rechtsradikale Aktionen durchaus mit erfaßt werden können; das wird
die Abwägung nicht leichter machen. Aber dies muß gesehen werden. Immerhin darf ich und muß ich daran erinnern, daß der wichtigste Anwendungsfall — rechtshistorisch - des § 125 die Serie von Progromen des November 1938 gewesen ist.
Für die Ausgestaltung der neuen Tatbestände ergeben sich einige Konsequenzen. Wir müssen, so meine ich, zu einem Abbau der überhöhten Strafandrohungen kommen. Wir müssen Folgerungen aus dem veränderten und gewachsenen Verständnis des Verhältnisses von Staat und einzelnem kommen. Dem wird durch den Entwurf, wie wir meinen, in sinnvoller Weise Rechnung getragen, indem er den Ungehorsamstatbestand des Auflaufs nur noch als Ordnungswidrigkeit ansieht.
Wir müssen im Rahmen des § 113 des Strafgesetzbuches bei dem Widerstand den zu entschuldigenden Verbotsirrtum bei Tätern anerkennen, die über die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung irren. Damit ist nicht — das möchte ich gerade im Anschluß an die Debatte noch einmal deutlich herausstellen — eine unzuträgliche Behinderung der Polizei verbunden. Denn die Auflösung einer die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdenden Versammlung bleibt nach öffentlichem Recht zulässig, und die Entschuldigung des irrenden Täters ändert nichts daran, daß der Widerstand rechtswidrig ist und von der Polizei nach dem Polizeirecht gebrochen werden kann. Damit trägt der Entwurf dem Bedürfnis hinreichend klaren Abgrenzungen Rechnung.
Für eine nüchterne Überprüfung der Massendelikte ergeben sich zwei Fragen.
Erste Frage: Wird es der Bedeutung der Versammlungsfreiheit gerecht, daß der Teilnehmer an einer zunächst friedlichen, später aber unfriedlich werdenden Versammlung auch dann wegen Landfriedensbruch strafbar ist, wenn er die Gewalttätigkeit des anderen mißbilligt und nur die Demonstration mit friedlichen Mitteln fortsetzt? Das ist ein Problem aus der Erfahrung der letzten Zeit, auf das man eine Antwort zu finden versuchen muß.
Die zweite Frage ist: Trägt ein Massentatbestand nach Art der geltenden §§ 115 und 125 des Strafgesetzbuches zum Rechtsfrieden bei, wenn zwangsläufig nur ein kleiner Teil der Täter ermittelt werden kann, während die Mehrzahl, und oft gerade der harte Kern der unfriedlichen Menge, frei ausgeht? Auch hierauf müssen wir eine rechtspolitisch überzeugende Antwort zu finden versuchen.
Insgesamt, so meine ich, ist eine klare und der Verfassung besser entsprechende Tatbestandsfassung geeignet, bei allen Beteiligten das Gefühl der Rechtssicherheit zu stärken. Durch eine einengende Regelung dieser Straftatbestände wird keineswegs zu neuen Gewalttätigkeiten ermuntert, sondern im Gegenteil, es wird die Abwehr gewaltsamer Exzesse erleichtert. Die Polizei kann sich auf wirklich gefährliche Täter konzentrieren. Die Richter und die Strafverfolgungsorgane würden solche Vorschriften, wie sie zur Verfügung gestellt werden sollen, entschiedener anwenden, weil sie durch ihre kriminalpolitische Notwendigkeit und durch ihre verfas-
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Bundesminister Jahn sungspolitische Legitimation eindeutiger ausgewiesen sind.
Eine Bereinigung der bestehenden strafrechtlichen Rechtsunsicherheit würde — und darin liegt der eigentliche politische Sinn dieser Anträge der Koalitionsfraktionen, jedenfalls wie er von mir gesehen wird — ein wichtiges Hindernis für den Dialog mit der jungen Generation beseitigen und würde, darauf ist bei der Begründung des Entwurfs schon hingewiesen worden, die notwendigen Überlegungen zu einer Amnestie in diesem Bereich auf eine zuverlässige und, wie ich hoffe, für uns alle diskutable Grundlage stellen.
Deswegen bitte ich ungeachtet aller am Anfang meiner Ausführungen lautgewordenen formalen Einwendungen sehr darum, daß die schnelle Initiative, die hier ergriffen worden ist, auch — mit der Zustimmung des ganzen Hauses — in den Arbeiten des Ausschusses ihren Ausdruck findet. Dieses Hohe Haus sollte — darf ich dieses mahnende Wort hier sagen — Jusitz, Gerichte, Strafverfolgungsbehörden und Polizei so schnell wie möglich in den Stand versetzen, ihrer Aufgabe nach besten Kräften — und das heißt: nach besseren Kräften, als ihnen heute möglich ist — gerecht zu werden.