Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Empfindlichste im Verhältnis zwischen Staat und Bürger liegt dort, wo der Staat strafdrohend und strafend dem Bürger gegenüber in Erscheinung tritt. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einerseits und die Zustimmung der Bürger zu diesem Staat als solchem andererseits sollen in den konkreten Straftatbeständen und Strafbestimmungen und auch im Prozeßrecht einen zeitgemäßen Ausdruck finden und finden ihn dort weitgehend. Daß dieses empfindliche Zuordnungsverhältnis eines besonderen Schutzes durch die parlamentarische Behandlung von Strafrechtsänderungen bedarf, war deshalb bisher allgemeine Vorstellung, und wir haben uns immer bemüht, im strafrechtlichen Bereich möglichst einen breiten Konsens in diesem Hause herbeizuführen. Der Versuch, diesen Konsens herbeizuführen, sollte auch jetzt weiterhin unternommen werden, auch wenn die regierungstragenden Fraktionen von sich aus einen sehr weitgehenden Vorschlag unterbreitet haben.
Ganz sicher unterliegt es keinem Zweifel, daß die Strafvorschriften zum Schutze des Gemeinschaftsfriedens in verschiedener Hinsicht, nicht allgemein, als unbefriedigend angesehen werden, sei es wegen der Strafrahmen, sei es wegen gewisser widersprüchlicher Strafhöhen und Strafandrohungen oder sei es wegen gewisser Formulierungen. Vorschläge zur Reform dieser Straftatbestände sind bereits im Entwurf 1962, den wir in der vorigen Periode wieder behandelt haben und über den der Strafrechtssonderausschuß in der vorigen Periode eingehend beraten hat, vorgelegt worden. Die Beratungen im Strafrechtssonderausschuß konnten, wie bekannt ist, nicht abgeschlossen werden, weil eben auf diesem Gebiet keine Übereinstimmung zu erzielen war.
Bei dieser Sachlage und den von der CDU/CSU- Fraktion in Zusammenhang mit der Aussprache über die Regierungserklärung gemachten Aussagen über die Zweckmäßigkeit und über eine gewisse Notwendigkeit, die einschlägigen Bestimmungen zu ändern, ist es besonders verwunderlich, daß die beiden regierungstragenden Fraktionen diesen Entwurf hier ohne echten Versuch der Abstimmung mit der CDU/CSU-Fraktion eingebracht haben. Hatten Sie, meine Damen und Herren, zunächst noch durch Sie, Herr Hirsch, an uns das Ansinnen herangetragen, die sogenannten Garmischer Beschlüsse als gemeinsamen Antrag vorzulegen, so wurde, bevor wir überhaupt über dieses Ansinnen beraten konnten, bereits der jetzt vorliegende Entwurf unterbreitet und dann auch eingereicht. Wir sind trotz dieser Vorgänge und trotz dieser schnellen Behandlung der Materie durch Sie
bereit, uns ernsthaft über die neuen Lösungen zu unterhalten und mit Ihnen zu beraten. Wir wundern uns aber, daß diese schnelle Einbringung offensichtlich an der Regierung vorbei und damit auch am Bundesrat vorbei und damit ohne die Möglichkeit einer Stellungnahme durch den Bundesrat vorgenommen worden ist. Daß wir darüber unsere Ge-
danken haben und uns Gedanken machen, nachdem wir aus den Zeitungen und dem „Spiegel" die Stellungnahme offenbar der Mehrheit in der Regierung zur Kenntnis bekommen haben, werden Sie uns nicht verargen.
— Ich glaube nicht alles, was im „Spiegel" steht, Herr Kollege Hirsch. Aber daß die Regierung keinen Entwurf vorgelegt hat,
ist doch wohl unbestreitbar. Oder wollen Sie mir
mit Ihrem Zwischenruf sagen und klarmachen, die
Regierung habe sich mit dem Problem nicht befaßt?
— Nein, keine Motivforschung!
Obwohl die Bereitschaft, die Dinge mit Ihnen zusammen zu beraten und zu einem guten Ende zu führen, etwas strapaziert ist, erklären wir ausdrücklich, daß wir mit aller Entschlossenheit, mit aller Bereitschaft gewillt sind, an diesem Entwurf und den anstehenden Problemen auch mit großer Offenheit für alle angesprochenen Fragen mitzuarbeiten, und zwar zum Schutz des Gemeinschaftsfriedens. Wir sind bereit, jeden Tatbestand zu überprüfen, bei jedem Strafrahmen die notwendige Flexibilität, d. h. den ausreichend breiten Spielraum für die Rechtsprechung zu einer gerechten Einzelstrafe, zu suchen und mitzubestimmen. Diese Bereitschaft enthält aber auch unseren ganz klaren Willen — und das soll am Anfang stehen —, daß die gebotenen Grenzen eindeutig, verständlich, praktikabel und sicher gezogen werden.
Bei dem strafrechtlichen Schutz des Gemeinschaftsfriedens ist zu einem erheblichen Teil der Staat in seiner verfassungsmäßigen inneren Gestalt in nicht geringem Umfang selbst das Schutzobjekt. Es wird nicht verkannt, daß es sich dabei im wesentlichen um die Abgrenzung der verschiedenen Grundrechte zueinander einerseits und die Gewährung dieser Grundrechte durch den Staat andererseits handelt. Auf diese Zuordnung der Grundrechte hat der Herr Kollege Benda soeben schon sehr eindeutig aufmerksam gemacht. Die CDU/CSU-Fraktion mißt der Grundrechtsregelung des Grundgesetzes eine für unsere Gesetzgebung absolut bindende Bedeutung bei. Insofern bejahen wir im Rahmen des Grundgesetzes ausdrücklich das Recht auf Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, d. h. das Recht zur legalen und auch zur spontanen Versammlung und Demonstration. Das ist also gänzlich unbestritten.
Daß aber diesem Recht die anderen Grundrechte wie die Freizügigkeit jedes Bürgers, die körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Eigentum sowie das Recht, an einer Versammlung nicht teilnehmen zu müssen, entgegenstehen, ist wohl ebenfalls unver-
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kennbar. Wir finden keinerlei Anhaltspunkte in der Verfassung, daß das Recht zur friedlichen Demonstration, zur friedlichen Versammlung oder auch zur spontanen Versammlung diesen anderen Rechten irgendwie vorgehen könnte. Ist der Staat aber Garant der Grundrechte, dann muß er die Möglichkeit haben, gegen die unfriedliche Versammlung oder die unfriedliche Demonstration einzuschreiten, um die anderen Grundrechte wirksam zu schützen. Zu diesem Zweck bedarf es sicher auch der strafrechtlichen Bewehrung, also eines funktionsgerechten Strafrechts.
Unsere Beratungen im Ausschuß sollten zügig vorangehen, aber unter allen Umständen mit der erforderlichen Sorgfalt durchgeführt werden. Ein Mangel an Gründlichkeit zugunsten der Schnelligkeit wird von uns weder gebilligt, noch werden wir uns dem anschließen können.
— Um so besser. Wenn wir uns unter diesen skizzenhaften, bildhaften Rahmenvorstellungen mit ihrem konkreten Gesetzentwurf beschäftigen, dann wollen wir das nicht in der Form von strikten Gegenpositionen tun, sondern wir wollen den Weg zueinander finden und es in der From der Fragestellung tun. Mit der Fragestellung sollen die Probleme aufgerissen werden.
Unsere Frage heißt: Die von Ihnen hier vorgelegte Antwort erscheint uns nicht als ausreichende Antwort.
— Es gibt eine ganze Reihe besserer Vorstellungen. Sie wissen ganz genau, daß auch Ihre eigene Regierung Ihnen Formulierungsvorschläge gemacht hat, die Sie zum großen Teil in den Papierkorb gesteckt haben.
— Merkwürdig, was ich alles weiß und was Sie nicht wahrhaben wollen.
— Es braucht ja nicht der Papierkorb zu sein, es kann auch eine abgelegte Akte sein. „Nicht in den Gesetzentwurf übernommen", Herr Kollege Schäfer!
Es fällt uns auf, daß in Ihrem Gesetzentwurf einiges für wenig sorgfältige Vorbereitung spricht. Das fällt uns deshalb wiederum auf, weil wir der Meinung sind, daß die regierungstragenden Fraktionen mit der Formulierungsunterstützung des Justizministeriums eigentlich etwas sorgfältiger arbeiten sollten, mindestens — das will ich einschränken — bei so weittragenden Strafbestimmungsvorschlägen.
Nehmen Sie z. B. den Art. 1 Nr. 5 Ihrer Vorlage: Dort schlagen Sie uns vor, den § 119 StGB — das ist die Bestimmung über den gemeinschaftlichen Forstwiderstand — aufzuheben. Wir haben ihn erst am 25. Juni 1969, unter diesem Datum im Bundesgesetzblatt veröffentlicht, aufgehoben.
Warum wollen Sie ihn noch einmal aufheben?
Oder wenn Sie in § 113 StGB, abweichend von der Systematik des Entwurfs 1962, abweichend von der Systematik und dem Inhalt der Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform und abweichend von den Formulierungsvorstellungen des Justizministerium, den tätlichen Angriff gegen einen Beamten im Rahmen des Widerstandsrechts straffrei machen wollen und dazu in der Begründung Ihres Entwurfs sagen, der nötige Strafschutz sei ja durch den § 223 StGB, durch die Vorschrift, daß die Körperverletzung bestraft wird, gegeben, dann frage ich Sie: Seit wann sind denn Angriff und Körperverletzung dasselbe? Als ob der Beamte, der nur angegriffen wird und dem Angriff, z. B. dem Faustschlag, ausweichen kann, sich auf einmal nicht mehr unter dem strafrechtlichen Schutz befinden dürfte, als ob derjenige, der in sonstiger Weise als Beamter in seinem Vollstreckungsdienst angegriffen wird, aber der echten Körperverletzung ausweichen kann, nunmehr nicht mehr sagen könnte, daß derjenige, der ihn angegriffen hat, dafür eigentlich zur Rechenschaft gezogen werden sollte! Wer soll denn künftig noch Gerichtsvollzieher, wer soll denn nächstens noch Vollstreckungsbeamter sein, wenn Sie ihn in dieser Weise freistellen wollen!
Oder wollen Sie, daß auf diesem Gebiet das Erfolgsstrafrecht fröhliche Urständ feiert?
Nehmen Sie also bitte diese Bestimmung noch einmal unter die Lupe.
Zweiter Punkt: Auch das, was in dem Entwurf nicht steht, in früheren Vorschlägen aber zu finden ist, können wir nicht übersehen. Darf ich fragen: Warum haben Sie auf eine Strafandrohung für die Verletzung der ungestörten Rechtsprechung verzichtet? Warum haben sie keine Vorschrift über die Richternötigung?
Warum fehlt die noch vom Justizministerium für notwendig gehaltene Bestimmung über die Einrichtung und den strafrechtlichen Schutz einer Gerichtsbannmeile? Genügen die Erfahrungen der letzten zwei Jahre immer noch nicht? Und warum hat man im Strafrechtssonderausschuß schon einmal ähnliche Bestimmungen, in diesem Falle mit den Stimmen der sozialdemokratischen Mitglieder, beschlossen?
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Warum hält das Justizministerium sie nach wie vor für richtig, und warum haben Sie sie weggelassen?