Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es erscheint mir problematisch, die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im Strafverfahren mehr als ein Sachverständiger für die gutachtliche Äußerung zu einer bestimmten Beweisfrage gehört werden soll, davon abhängig zu machen, ob es sich um eine Hauptverhandlung in einer sogenannten Kapitalsache — eine Abgrenzung unter diesem Gesichtspunkt wäre ohnehin nicht leicht zu finden — oder in einer anderen Strafsache handelt. Gutachtensfragen können im Einzelfall in Kapitalsachen von verhältnismäßig untergeordneter Bedeutung, sie können in anderen für den Beschuldigten nicht minder gewichtigen Sachen von ganz ausschlaggebender Bedeutung sein.
Ob man im Rahmen einer Reform der Hauptverhandlung des Beweisaufnahmerechtes dazu kommen kann, die Voraussetzungen, unter denen nach § 244 der Strafprozeßordnung ein zweiter Gutachter für eine bestimmte Frage beigezogen werden muß, allgemein zu erweitern, wird man sorgfältig prüfen müssen.
Der für die Beweisaufnahme wichtigste Grundsatz der geltenden Strafprozeßordnung besagt, daß das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Beweismittel zu erstrecken hat, die für die Entscheidung von Bedeutung sind, d. h. daß das Gericht bereits heute von sich aus prüfen muß, ob ein in der Hauptverhandlung erstattetes Gutachten ihm die Sicherheit für die Beurteilung einer Beweisfrage vermittelt, die für ein Urteil unerläßlich ist. Dabei hat es Einwände der Verteidigung gegen ein bereits erstattetes Gutachten, insbesondere Zweifel an der Sachkunde des Gutachters, an den vom Gutachter angewandten wissenschaftlichen Methoden, an der Überzeugungskraft seiner Schlußfolgerungen oder daran, ob er die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse ausgewertet habe, von Amts wegen zu berücksichtigen.
Schon diese nach dem geltenden Recht bestehende gesetzliche Verpflichtung zur bestmöglichen Erforschung der Wahrheit kann das Gericht im Einzelfall dazu zwingen, einen zweiten oder mehrere Sachverständige zu bestellen und anzuhören. Nach der für Beweisanträge auf Vernehmung von Sachverständigen geltenden besonderen Bestimmung des § 244 Abs. 4 der Strafprozeßordnung darf bereits heute ein Antrag auf Vernehmung eines weiteren Sachverständigen nicht abgelehnt werden, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen. Damit ist also schon jetzt eine weitgehende gesetzliche Sicherung gegeben, daß das Gericht sein Urteil nicht auf unvollkommene Grundlagen stützt. Dem Beschuldigten und seinem Verteidiger ist es danach schon heute möglich, auf die Bestellung weiterer Sachverständiger hinzuwirken.
Eine Verletzung dieser gesetzlichen Vorschrift begründet die Revision und führt zur Aufhebung des Urteils. Dabei legt die höchstrichterliche Rechtsprechung zunehmend besonders strenge Maßstäbe an. Mit einer gesetzlichen Verpflichtung des Gerichts, auf Antrag des Beschuldigten bestimmte weitere Sachverständige auf Kosten der Staatskasse zu bestellen, würde ein Stück Parteiverfahren in das in seiner Grundstruktur anders angelegte deutsche Strafverfahrensrecht eingeführt werden. Nach den Grundsätzen des Parteiverfahrens steht es, allgemein gesprochen, jeder Partei frei, Beweismittel beizubringen, und zwar ohne Rücksicht auf den Aufwand, der damit verbunden ist, jedoch mit der Maßgabe, daß die Partei — jedenfalls zunächst — auch die Kosten und damit auch das Risiko dieses Aufwands zu tragen hat. Dieses Risiko — das sollte man nicht übersehen — ist durchaus geeignet, Mißbräuchen bei der Ausübung solcher Parteibefugnisse, die auch zur Verfahrensverschleppung verwendet werden können, entgegenzuwirken.
Würde man allgemein das Recht auf Bestellung eines vom Beschuldigten zu bestimmenden zweiten Sachverständigen einführen und den Beschuldigten zugleich von jedem Kostenrisiko befreien, so wäre die Gefahr einer risikofreien Prozeßverschleppung gegeben. Welche Schwierigkeiten für das Verfahren erwachsen würden, wenn es möglich wäre, einen Prozeß dadurch zu blockieren, daß etwa ein bekanntermaßen auf Monate oder länger völlig ausgelasteter Sachverständiger, der ja auch im Ausland wohnen kann, von dem Beschuldigten ausgewählt oder daß der besondere Sachverstand wissenschaftlicher oder technischer Außenseiter behauptet und das Gericht gezwungen wird, solche Personen zu Gutachtern zu bestellen, läßt sich leicht ermessen.
Ungeachtet dieser Probleme, die man sehen muß, um zu einer abgewogenen Beurteilung zu kommen, wird aber im Rahmen der Arbeiten an einer Justiz-und Prozeßrecht geprüft, ob Mängeln der Beweisaufnahme, die in einigen Verfahren — und das hat ja zu berechtigter Sorge Anlaß gegeben — aufgetreten sind, dadurch entgegengewirkt werden kann, daß dem Beschuldigten ein größerer Einfluß auf die Bestellung von Sachverständigen eingeräumt wird. Sicher ist, daß mit jeder Verstärkung solcher Einflußmöglichkeiten die Gefahr von Verfahrensverzögerungen verbunden ist.
Wenn es gelingt, im Zusammenhang mit der Schaffung eines dreistufigen Gerichtsaufbaus und mit anderen Maßnahmen der Justizreform den schon heute
618 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 17. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Dezember 1969
Bundesminister Jahn
oft recht schleppenden Verfahrensgang zu beschleunigen und die Justiz insgesamt zu entlasten, wird es leichter möglich sein, Verfahrensverzögerungen bei der Beweisaufnahme in Kauf zu nehmen.
Die Frage, ob die von Ihnen erwähnten Regelungen in dieser oder ähnlicher Form eingefügt werden könnten, kann ich angesichts der laufenden Überlegungen zur Strafprozeßreform im einzelnen heute noch nicht beantworten. Bei dem engen Zusammenhang aller das Strafverfahren regelnden Vorschriften erschiene es mir noch verfrüht, im Hinblick auf Einzelheiten jetzt schon bündige Antworten geben zu wollen..