Rede von
Walter
Scheel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist zu Beginn von dem Herrn Bundeskanzler von dem Maß des Erfolges gesprochen worden, das man der Konferenz zubilligen kann. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß wir in diese Konferenz nicht mit übertriebenen Erwartungen hineingehen konnten, wenn man die Lage in Europa realistisch einschätzt. Wir sind also mit gezügelten Erwartungen in diese Konferenz hineingegangen. Man darf aber heute feststellen, daß diese Erwartungen erfüllt worden sind. Das Besondere an dem Ergebnis der Konferenz ist, daß wir aus der Periode der Stagnation in Europa herauskommen und in eine neue Periode der Bewegung, der vertieften Zusammenarbeit mit neuen Zielen eintreten können. Das ist nicht zuletzt einer richtigen Anwendung des deutsch-französischen Vertrages zu verdanken; denn die deutsch-französische Zusammenarbeit in Den Haag ist sichtbar Grundlage der Einigung in besonders wichtigen Fragen gewesen.
Noch etwas ist festzustellen. Es wurde von allen Konferenzteilnehmern erkannt und akzeptiert, daß zwischen den so viel diskutierten wichtigen vier Bereichen, nämlich der Finanzordnung, einer neuen Agrarpolitik, dem Ausbau in Richtung auf eine Wirtschaftsunion hin und der Erweiterung des Gemeinsamen Marktes, ein innerer Sachzusammenhang besteht, dem man Rechnung tragen muß. Alle im Kommuniqué zum Ausdruck gebrachten politischen Ziele und die Beschlüsse darüber tragen diesem Sachzusammenhang Rechnung.
Meine Damen und Herren! Das Wichtigste war natürlich — und darüber hat Herr Kollege Dr. Barzel hier eine gewisse Enttäuschung zum Ausdruck gebracht —, wie wir mit dem brennenden Problem der Erweiterung des Gemeinsamen Marktes fertig werden und oh es uns gelingen würde, einen Termin für diese Aufgabe zu setzen. Eines ist, glaube ich, in dem Kommuniqué sehr deutlich zum Ausdruck gekommen, daß nämlich die Staats- und Regierungschefs der Eröffnung der Verhandlungen zugestimmt haben, und zwar zu den Bedingungen, die auch wir als Vorbedingungen setzen müssen,
nämlich unter der Bedingung, daß die beitrittswilligen Länder den Vertrag und das aus dem Vertrag abgeleitete Recht anerkennen und sich auch in den weiteren politischen Zielen mit den Vertragspartnern einig erklären. Das ist Gegenstand des Kommuniqués gewesen.
Die feste Terminsetzung ist nun nur zu erkennen, wenn man das Kommuniqué und die Interpretationen der einzelnen Delegationen miteinander vergleicht, vor allem die am gleichen Tage von der fränzösischen Regierung getroffene Feststellung, daß Frankreich keine Schwierigkeiten haben werde, die Vorbereitungen zur Eröffnung der Verhandlungen innerhalb eines Semesters abzuschließen. Das heißt, daß der Zeitpunkt, zu dem die Verhandlungen eröffnet werden können, dem entspricht, was sich die Bundesregierung selber zum Ziel gesetzt hatte. Es ergibt sich, wenn man ganz genau nachrechnet, noch eine Spanne von neun Tagen, wie mir gestern bei einer Pressekonferenz nachher deutlich geworden ist. Die Bundesregierung hat das Frühjahr 1970 als die Periode, in der die Vorbereitungen abgeschlossen sein müssen, bezeichnet, und das erste Semester endet neun Tage nach Beendigung des Frühjahrs. Ich glaube, diese Differenz in der Zeitplanung können wir sehr wohl in Kauf nehmen, wenn es dann endlich wirklich zu den von uns allen gewünschten Verhandlungen kommt.
Meine Damen und Herren, das ist das wirklich bedeutende Ergebnis. Aber dieses Ergebnis hat natürlich auch die Kompensation in der Bereitschaft der dort in der Konferenz mitwirkenden Delegationen, die Finanzregelung in der Zeit zu beschließen, in der sie nun einmal nach dem Vertrag und den Verordnungen, die aus dem Vertrag hervorgehen, beschlossen werden müssen.
Nun ist gerade hier von Herrn Dr. Barzel auf eine diplomatische Formulierung hingewiesen worden, die über die Finanzregelung im Kommuniqué getroffen worden ist, nämlich die Formulierung, daß diese Regelung eine gewisse Flexibilität im Hinblick auf die Erweiterung der Gemeinschaft haben muß. Sie muß anpassungsfähig sein, wenn auch eine Änderung der Regelung nur einstimmig beschlossen werden kann. Es ist aber außerdem gesagt worden, daß dabei die Grundsätze nicht verfälscht werden dürfen. Das, glaube ich, meine Damen und Herren, muß auch in unserem Interesse liegen; denn es war der Sinn der Schaffung des Gemeinsamen Markts, bestimmten Grundsätzen zum Durchbruch zu verhelfen. Hier sind es die Grundsätze der Präferenz dieses Marktes für uns und der Solidarität der Finanzierung der dadurch entstehenden Lasten. Diese Grundsätze werden von uns akzeptiert. Sie müssen auch die Grundsätze bleiben, nach denen beitrittsbereite Staaten ihren Beitritt ausrichten müssen. Dies offen zu sagen ist, glaube ich, nicht falsch, sondern dient der Deutlichkeit für uns alle.
Meine Damen und Herren, ich darf die Fragen, die hier aufgetaucht sind, in Kürze zu beantworten versuchen.
Da war die Frage, wie es denn um den Fortschritt auf dem Gebiet der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit in Richtung auf eine Wirtschaftsunion stehe. Hier ist ein Termin genannt worden. Der Rat ist nämlich beauftragt worden, im Laufe des Jahres 1970 einen Stufenplan zu entwickeln, der zur Wirtschaftsunion führen soll. Er muß natürlich mit der
Anpassung, der Harmonisierung der Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder beginnen. Wir haben alle erlebt, daß das Auseinanderklaffen der Wirtschaftspolitik zu währungspolitischen Folgen führt, die am Ende auch den gemeinsamen Agrarmarkt gefährden. Denn daß der gemeinsame Agrarmarkt vorübergehend teilweise aufgelöst werden mußte, ist ja eine direkte Folge der sich auseinanderbewegenden Wirtschaftspolitiken — das ist ein neues Wort, das im europäischen Bereich entstanden ist — in den verschiedenen Partnerländern.
600 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Dezember 1969
Bundesminister Scheel
Es ist ausgeschlossen, daß wir in der Zukunft auf einer Basis in der Beurteilung der Konjunkturpolitik, die so weit auseinanderklafft wie augenblicklich, glauben weiter fortfahren zu können. Wenn in einem Land die Preisentwicklung bei maximal etwa 2 % im Jahr begrenzt werden soll, in einem anderen Partnerland jedoch die Meinung besteht, man könne beruhigt Preissteigerungen auch von 5, 6 % und vielleicht noch mehr in Kauf nehmen, dann kann es keine Harmonisierung der Wirtschaftspolitik geben. Das eben ist der Sinn der Entscheidung, die Wirtschaftspolitik zunächst in einem Stufenplan zu harmonisieren, der mit einer dichteren Konsultationsverpflichtung beginnen wird.
Daran wird sich eine Harmonisierung der Währungspolitik bis hin zu der Schaffung eines Reservefonds anschließen, der die Grundlage für den Weg in die Währungsunion bilden wird, in die gemeinsame Währung der europäischen Länder hinein. Meine Damen und Herren, das ist ein schwerer Weg, dabei werden wir uns in unseren Auffassungen aneinander gewöhnen müssen. Es kommt darauf an, welche Impulse die Wirtschaftspolitik und die wirtschaftspolitische Überzeugungskraft der einzelnen Partnerstaaten hier für das Ganze zu geben in der Lage sein werden.
Von den Rednern ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß durch die Gipfelkonferenz eine politische Diskussion außerhalb der Organe der Gemeinschaften entstanden ist, die natürlich in sich die Gefahr birgt, daß die Organe der Gemeinschaften dadurch geschwächt werden könnten. Dies allerdings ist nicht die Auffassung der in Den Haag versammelten Delegationen gewesen. Die Regierungs- und Staatschefs haben eindeutig klargemacht, daß sie keine Aushöhlung der Institutionen der EWG hinnehmen wollen. Es war der Bundeskanzler, der die Forderung gestellt hat, die Arbeit des Rates als einer dieser Institutionen zu straffen, die Kommission bessser in den Stand zu setzen, ihre exekutiven Aufgaben wahrzunehmen, besser gesagt, die Kommissionen, sofern man sie heute noch auf die verschiedenen Verträge aufzuteilen genötigt ist, auch wenn sie schon fusioniert sind.
Es ist weiter von allen Delegationen mit aller Deutlichkeit die Notwendigkeit unterstrichen worden, die Zuständigkeit des Europäischen Parlaments auszuweiten, weil es ausgeschlossen scheint, daß wir den Weg zu einer Vollfinanzierung der Gemeinschaft aus eigenen Mitteln gehen, ohne daß die parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament sich laufend dein durch eine Erweiterung des Budgetrechts bis zum vollen Budgetrecht hin anpaßt. Auch die Notwendigkeit der direkten Wahl des Europäischen Parlaments ist eine gemeinsame Überzeugung, wenn auch hier, so möchte ich einmal sagen, die Bereitschaft, zu praktischen Erfolgen zu kommen, bei den verschiedenen Delegationen unterschiedlich stark entwickelt ist. Die Bundesrepublik hat schon in der Vergangenheit den Versuch unternommen, hier einen vermittelnden Vorschlag zu machen, damit wir praktisch weiterkommen. Denn es ist ja nötig, daß der Rat hier mitwirkt, wiewohl es eine parlamentarische Frage ist. Aber das Europäische Parlament hat ja weine Vorschläge vor vielen Jahren gemacht. Meine Kollegen, ich habe selbst an diesen Vorschlägen im Europäischen Parlament noch mitgewirkt. Es ist jetzt am Rat, mehr zu tun. Wir haben, wie Sie wissen, vorgeschlagen, als nächste Stufe, als Übergangsstufe ein Parlament mit doppelter Anzahl von Mitgliedern, aber mit verschiedenen Wahlmodalitäten zu erreichen. Wir werden uns Mühe geben, hier zunächst einmal hinsichtlich der Ausweitung der Befugnisse, dann aber auch in Richtung auf die direkte Wahl des Parlamentes hin alles zu tun, was wir dazu tun können.
Meine Damen und Herren! Es ist vielleicht zuwenig beachtet worden, daß in diesem Kommunique ein entscheidender Schritt in Richtung auf eine politische Zusammenarbeit getan worden ist. Die Außenminister sind beauftragt worden, in der ersten Hälfte des nächsten Jahres Möglichkeiten zu erörtern und Verfahren auszuarbeiten, die politische Zusammenarbeit in der EWG zu beginnen denn es gibt sie ja formell noch gar nicht —, und zwar zu beginnen im Hinblick auch auf die Erweiterung der EWG. Das würde bedeuten, daß sich die politische Zusammenarbeit jetzt nicht eng beschränkt auf die Sechs, sondern daß diese erweiterte Perspektive bereits zur Grundlage genommen wird.
Politische Zusammenarbeit heißt, daß dieses Europa endlich den weltpolitischen Problemen gegenüber eine gemeinsame Haltung entwickeln muß. Denn wie anders könnte es in der Weltpolitik wieder eine Rolle spielen? Und ich meine, Europa muß wieder eine Rolle spielen in der Weltpolitik!
Ich kann Herrn Dr. Barzel erklären, daß ich persönlich, dem ja dieser Auftrag für die Bundesrepublik gegeben ist, mir nicht nur alle Mühe geben werde, solche Verfahren in der kürzesten Zeit zu entwickeln, sondern daß ich darüber auch in einem engen Kontakt mit dem Parlament bleiben werde, weil ich weiß, wie viele Impulse und auch wieviel Erfahrungskapital hier im Parlament selbst stecken.
Meine Damen und Herren! Das Europäische Jugendwerk ist im Kommunique nicht besonders erwähnt, wenn Sie nicht die Ziffer 16 zur Grundlage nehmen wollen, in der gesagt ist, daß alle politische Anstrengung innerhalb der EWG wohl nicht zum Erfolge führen wird, wenn es uns nicht gelingt, die junge Generation an all dem, was wir tun, zu beteiligen. Das gerade war ja in den letzten Wochen und Monaten das Bedrückende: daß die jungen Menschen gar nicht mehr verstehen konnten, was wir denn nun eigentlich in Europa treiben, wenn wir dort sitzen und uns in unverständlichen Formulierungen darüber unterhalten, wie wir uns gegenseitig diesen und jenen kleinen materiellen Vorteil verschaffen können und wie wir uns gegenseitig gegen andere materielle Bedrohungen schützen können. Deswegen war es so wichtig, meine Damen und Herren, daß diese Gipfelkonferenz in Den Haag neue politische Impulse setzte; deswegen war es so wichtig, daß wir über das Europäische Jugendwerk gesprochen haben.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Dezember 1969 601
Bundesminister Scheel
Alle Delegationen haben, vor allem und an der Spitze die französische Delegation durch den Mund des französischen Staatspräsidenten, die Anregung des Bundeskanzlers aufgenommen, auf den Erfahrungen des Deutsch-Französischen Jugendwerks aufbauend ein Europäisches Jugendwerk zu schaffen. Wenn uns das gelingt, dann sind wir einen Schritt weitergekommen duf dein Wege hin zu einem politisch einigen Europa.
Meine verehrten Damen und Herren, wenn mich eins beeindruckt hat, dann war es die Tatsache, daß wir in Den Haag auf der Fahrt zum Verhandlungssaal an Hunderten von Metern demonstrierender junger Menschen vorbeikamen. Das Bemerkenswerte war, daß diese jungen Menschen für das demonstierten, was wir im Saal uns selbst zu erreichen vorgenommen hatten.
Ich habe, als ich gefragt wurde, was ich von den Demonstranten draußen hielte, gesagt: Wenn ich nicht verpflichtet wäre, hier im Saal mitzuarbeiten, würde ich jetzt bei diesen Demonstranten stehen, die für ein besseres Europa demonstrieren, das wir nicht nur erreichen wollen, sondern das wir erreichen müssen. Einen kleinen Schritt auf diesem Wege sind wir vorwärtsgekommen.