Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU begrüßt, daß der Herr Bundeskanzler zum frühestmöglichen Zeitpunkt den Deutschen Bundestag über die Ergebnisse der Gipfelkonferenz unterrichtet hat. Wir begrüßen, daß dies so sachlich geschah, und teilen die Meinung, mit der der Herr Bundeskanzler heute nacht das Urteil über diese Konferenz zusammengefaßt hat: es sei „ein Ergebnis an der unteren Grenze des von uns Wünschbaren" gewesen. Diese sachliche Festellung nimmt nichts von dem Ereignis dieser Tage.
Wir erkennen an, daß die Bundesregierung entsprechend der gemeinsamen Verabredung, in den großen Fragen zu kooperieren, vor dieser Konferenz ein Gespräch mit uns hatte, das zu einer weitgehenden Übereinstimmung in den politischen Fragen geführt hat. Wir erinnern daran, ,daß wir in der Debatte über die erste Erklärung dieser Bundesregierung gesagt haben, wir könnten uns vorstellen, auch einmal zu sagen: die Bundesregierung hat recht, wenn es sich nach unserer Meinung so verhält.
Wir wollen heute darauf zurückkommen und hier festhalten, daß wir uns über das europäische Engagement des Herrn Bundeskanzlers, das auf dieser Konferenz sichtbar wurde, gefreut haben
und daß wir seiner Grundsatzerklärung, soweit wir sie dem Bulletin haben entnehmen können — wir nehmen an, daß das so ganz gilt und gesagt ist —, überwiegend zu folgen vermögen. Unser Vorbehalt betrifft vor allem die Ziffer VII dieser Darlegungen.
Ich denke, daß man auf die konkreten Fragen der Agrarpolitik und auf viele andere Einzelheiten später nicht nur im Auswärtigen Ausschuß, sondern, wenn Anlaß dazu ist, auch hier im Hause wird zurückkommen können. Wir werden Sie gern beim Wort nehmen, Herr Bundeskanzler, und dafür sorgen, daß die Möglichkeiten, die diese Konferenz eröffnet hat, auch mit dem nötigen Nachdruck aus dem Parlament versehen werden.
Ich möchte Ihnen danken für das gute Wort, das Sie für unseren Kollegen Hallstein gefunden haben. Es ist klar, daß wir dies unterstützen.
Ich möchte Ihnen danken, daß Sie sich bereit gefunden haben, in dem Kommuniqué einem Satz zuzustimmen wie diesem — ich zitiere aus der Ziffer 3 —:
daß wohl nie zuvor unabhängige Staaten eine weitergehende Zusammenarbeit verwirklicht haben, und waren einheitlich der Auffassung, die Gemeinschaft sei gerade wegen der erzielten Fortschritte heute an einem Wendepunkt ihrer Geschichte angelangt.
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Dr. Barzel
Wer einem solchen Satz als deutscher Bundeskanzler zustimmt, macht damit deutlich — das ist für dieses Haus wichtig —, daß der Streit über Europapolitik im Wesentlichen, soweit er einmal ein parteipolitischer Streit war, vorbei ist; der macht damit deutlich, daß er auch das Werk der Vorgänger anerkennt, nämlich Adenauers, Erhards und Kiesingers.
Wir sind froh auch über die Sätze, die Sie eben gefunden haben, Herr Bundeskanzler, und die völlig klarmachen, daß auch diese Bundesregierung als Basis ihrer Politik die Verankerung in der freien Welt, konkret: im Bündnis und im vereinigten Europa hat. Auch damit ist ein Streit weg, meine Damen und Herren.
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU hatte am 25. November 1969, also vor dem erwähnten Gespräch beim Herrn Bundeskanzler, ihre Auffassung zu der bevorstehenden Konferenz veröffentlicht. Wir wollen das heute in Erinnerung rufen, weil es wichtig ist, zu messen, was unsere Wünsche, unsere Erwartungen und unsere Hoffnungen waren und was nun eingetreten ist.
Wir hatten von der Überprüfung des Agrarmarktes gesprochen. Wir hatten gehofft und gewünscht, es werde zu festen Terminen kommen für das Ende der Übergangszeit, für die Herbeiführung der Wirtschafts- und der Währungsunion, für den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Däne-
,) mark, Irland und Norwegen. Es werde eine feste Verabredung geben für weitere Treffen der Regierungschefs als Beginn der politischen Zusammenarbeit. Wir hatten gehofft, es werde eine politische Verständigung und eine Aussage über die Beziehungen der EWG zu den neutralen Staaten gefunden werden; es werde zu einer Einigung über die bekannten Assoziationsprobleme kommen, man werde sich mit dem Problem befassen, eine Offerte an die Länder Ost- und Mitteleuropas zur ökonomischen, wissenschaftlichen und sozialen Zusammenarbeit zu richten sowie einen europäischen Währungsreserve-fonds zu bilden und in der Frage der parlamentarischen Kontrolle weiterzukommen.
Der Verlauf der Konferenz von Den Haag und insbesondere Ihre Einlassung dort, Herr Bundeskanzler, bestätigen — natürlich nur, soweit uns der Verlauf bekannt ist —, daß die Bundesregierung alle diese Ziele gleichfalls angestrebt hat. Das Ergebnis der Konferenz, das sich für uns in dem Kommuniqué und in dem Bericht, den wir soeben gehört haben, niederschlägt, erfüllt einige dieser Erwartungen. In anderen Bereichen läßt es zu wünschen übrig und bleibt hinter diesen Erwartungen zurück. Ich habe zu meiner Genugtuung aus der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers gesehen, daß er es genauso nüchtern sieht und hier nicht den Eindruck erweckt, als seien dort alle deutschen Punkte durchgekommen.
Das Kommuniqué ist für denjenigen, der nicht dabei war, vage und interpretationsfähig. Sie werden gleich an zwei Punkten sehen, daß Ihre Ergänzungen, wie wir hoffen, schon einiges deutlicher gemacht haben. Heute ist es sehr schwer, klar zu erkennen, was konkret verabredet ist. Deshalb muß über Einzelheiten auch später gesprochen werden.
Einig ist man sich offenbar das wollen wir
festhalten —, zwei Termine festzulegen — das sind nicht alle, die wir gewünscht hatten —, nämlich den 31. Dezember 1969 für das Ende der Übergangszeit und denselben Termin für die endgültige Agrarfinanzierung.
Die Andeutungen, daß eigene Einnahmen der Gemeinschaft weiter geschaffen werden und die „Haushaltsbefugnisse" des Europäischen Parlaments, wie es in dem Kommuniqué heißt, gestärkt werden sollen, sind noch zu unbestimmt, als daß darüber ein Urteil möglich wäre. Das wird noch dadurch unterstrichen, daß zwar „eine Reform der Agrarpolitik mit dem Ziel einer Beschränkung der Haushaltslasten" — so das Zitat — gefordert, aber keine Mitteilung über den Inhalt und die Richtung dieser Politik gemacht wird, mindestens nicht im Kommuniqué.
Die Ziffer 7 dieses Kommuniqués wird uns allen mit Sicherheit noch Kopfschmerzen bereiten. Sie heißt — ich möchte sie zitieren; es ist ein einziger Satz —:
Die Annahme einer Finanzregelung gemeint ist die Agrarpolitik —
für die Endphase schließt ihre einstimmig vorzunehmende Anpassung, insbesondere an eine erweiterte Gemeinschaft, nicht aus, wobei jedoch die Grundsätze dieser Regelung nicht verfälscht werden dürfen.
Manche Diplomaten werden schon wissen, was sie mit dieser Formel anfangen. Und mancher in Großbritannien wird sich überlegen, ob das wirklich hilfreich ist. Auf jeden Fall hat die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers nicht hier im Hause, aber in einem Interview mit der Londoner „Times" vom 3. November, in dem er sagte — ich zitiere —:
Um zu einer langfristigen Landwirtschaftspolitik zu kommen, muß man wissen, wie groß der Gemeinsame Markt sein wird
im Kommuniqué keinen Niederschlag gefunden.
Dagegen ist es offenbar gelungen — wenn auch ohne Verabredung eines konkreten Termins —, eine prinzipielle Zustimmung aller zum Beginn der Beitrittsverhandlungen in absehbarer Zeit zu erreichen. Wir unterstützen, wenn Sie sagen: wir haben keinen Zweifel in das gegebene Wort, und dies Ganze ist ein Fortschritt, den wir begrüßen.
So ist eine Entwicklung eingeleitet, welche — und das sagen wir sehr vorsichtig — die Erweiterung der Gemeinschaft möglich machen könnte, und, wie wir hoffen: möglich machen wird. Wir werden alles dazu tun, daß dieses Ziel erreicht wird. Aber automatisch wird das auch nach der Konferenz von Den Haag nicht eintreten. Aber schon dieses Ergebnis lohnte, diese Konferenz zu fordern, wie es der Bundeskanzler Kiesinger auf der letzten Konferenz in Rom getan hat, sie dann vorzubereiten und auch abzuhalten.
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Dr. Barzel
Hinsichtlich der politischen Zusammenarbeit wurden sicher manche Erwartungen enttäuscht. Entgegen vielen Erwartungen und auch in der Presse genährten Hoffnungen selbst aus prominentem Munde — vieler europäischer Politiker wurde hinsichtlich der politischen Zusammenarbeit weder ein Termin für ein neues Treffen der Regierungschefs verabredet, noch wurde der Fouchet-Plan beschlossen. Die Außenminister, so heißt es, sollen nun Vorschläge machen. Wir hoffen, Herr Bundeskanzler und Herr Kollege Scheel, daß hierbei den deutschen Außenminister niemand an Energie und niemand an Bestimmtheit übertrifft, wenn es um diese Vorschläge geht. Wir werden gern bereit sein — sofern dies nützlich ist oder uns notwendig erscheint —, auch hier im Hause durch Plenardebatten des Bundestages die Notwendigkeit verstärkter politischer Zusammenarbeit weiter zu betonen.
Und nun kommt ein Punkt, Herr Bundeskanzler, über den ich mir nicht klar bin. Das Kommuniqué sagt zu unserem Bedauern — und ich wollte dies hier festhalten — nichts aus über Ihren Vorschlag, ein europäisches Jugendwerk zu schaffen. Sie wissen, daß wir den Vorschlag begrüßen. Er ist die konsequente Fortentwicklung unserer Politik. Sie haben soeben mitgeteilt, es werde wohl doch dazu kommen. Ich nehme an, daß dieses Wort des Bundeskanzlers, gesprochen im Deutschen Bundestag, seinen Hintergrund hat. Ich freue mich über dieses Wort, hätte es freilich noch lieber im Kommuniqué gelesen, damit die ganze europäische Öffentlichkeit gesehen hätte: diese Anregung aus Bonn ist durchgedrungen.
Ähnlich verhält es sich, Herr Bundeskanzler, mit einem anderen Punkt. Sie haben zu Euratom ein paar Sätze mehr gesagt — und zu meiner Freude, zu unser aller Freude inhaltsreicher gesagt — als dieses Kommuniqué, das sich insoweit mit Absichtserklärungen begnügt. Wir unterstützen diese Position, Euratom zu stärken, aus den Gründen, die wir hier oft genug vorgetragen haben, und nehmen auch dieses Wort des Bundeskanzlers gerne zur Kenntnis, weil es weitergeht und weiterträgt, wie wir hoffen, als das Kommuniqué den Anschein erweckt.
Zum Problem der Währungs- und der Wirtschaftsunion, der technologischen Zusammenarbeit, der Forschung und des Währungsreservefonds enthält das Kommuniqué leider nur — wie auch zu Euratom — Absichtserklärungen. Es enthält keine festen Termine und auch keine konkreten Inhalte. An dieser Stelle wird deutlich wie an allen Stellen: Es kommt nun darauf an, was man daraus macht. Wir glauben, daß bei gutem Willen aller Beteiligten eine praktische Politik daraus werden könnte, aber nicht automatisch werden muß.
Dagegen vermissen wir Hinweise auf die Politik der sechs Länder gegenüber den Neutralen, auf die Lösung der Assoziationsfragen. Wir sehen gar nichts hinsichtlich des Problems, für die Gebiete der Wissenschaft, der Wirtschaft, des Sozialen auch ein Gespräch mit Ländern Ost- und Mitteleuropas zu suchen.
Wir bedauern, daß das Kommuniqué den Wert des möglichen Beitritts der Länder, die die Anträge gestellt haben, vor allem wirtschaftlich und technologisch begründet. Wir hätten hier lieber gesehen, daß man auch politisch und historisch — so nämlich ist der Rang der Probleme — argumentiert hätte.
Wir sind schließlich besorgt, daß ständige Konferenzen von Fachministern, wie sie in dem Kommuniqué vorgeschlagen sind, dazu führen könnten, daß die Institutionen der Gemeinschaft ausgehöhlt werden. Ich nehme an, daß die Bundesregierung diese Befürchtung teilt; und wenn sie sie teilt, wird sie sicher alles in ihren Kräften Stehende tun, um dem entgegenzuwirken.
Ich sage noch einmal, daß wir unbefriedigt sind mit der Formulierung über die parlamentarische Kontrolle. Wir halten es für dringend erforderlich, eine stärkere parlamentarische, nicht nur Kontrolle, sondern Mitwirkung gerade dann sicherzustellen, wenn die Gemeinschaft weitere eigene Einnahmen erhält. Darüber wird ja noch zu sprechen sein, wenn hier zu der Agrarfinanzierung und ähnlichem eine Zustimmung des Hauses herbeizuführen sein wird. Auf jeden Fall möchten wir anmelden, daß unsere Forderung nach der direkten Wahl des Europäischen Parlaments für uns aufrechterhalten bleibt.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Erklärung in Den Haag und auch eben noch einmal gesagt — ob das so stimmt, wollen wir mal dahingestellt sein lassen —, daß wir zwischen einem „mutigen Schritt nach vorn und einer gefährlichen Krise zu wählen" hatten. Folgt man diesen Worten, dann kann man, glaube ich, sagen: die Konferenz von Den Haag hat, so ist unser Eindruck, eine offene Krise vermieden, ist uns aber den mutigen Schritt schuldig geblieben.
Das Ergebnis ist ein Kompromiß, mit dem sich, wie wir hoffen, leben lassen wird, wenn alle mit gutem Willen und mit Zähigkeit zusammenwirken. Es ist im übrigen ein Kompromiß, der wohl den realen Kräften und den realen Tendenzen der heute in Europa Verantwortlichen und Entscheidenden entspricht. Das darf uns aber nicht hindern, unsere Kräfte und Tendenzen in der richtigen Richtung — und die Opposition wird dafür sorgen — auch deutlich zu machen. Denn das, was hier erreicht ist, ist noch nicht genug. Wir wollen miteinander weitere Fortschritte. Deshalb wird ja wohl die Opposition davon sprechen können, auch wenn wir versuchen, hier eine gemeinsame Politik zu machen.
Vielleicht gehört es eben zur Kunst, Europapolitik zu treiben, nicht nur immer von Krisen zu reden — und sie zu verhindern —, und von technokratischen Dingen, sondern sich einmal zu überlegen, daß es den Menschen in diesem Europa heute schon sehr viel besser als früher geht; deshalb spricht man ja
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von den Fortschritten. Vielleicht müssen wir alle lernen, mit latenten Krisen in Europa zu leben — als der Situation, die uns heranführt, uns aneinander zu gewöhnen, an Kompromisse zu gewöhnen, an die Notwendigkeit des Zusammenwirkens zu gewöhnen. Vielleicht ist dies der Zustand einer zusammenwachsenden politischen Gemeinschaft.
Ich komme zum Schluß. Die Bundesregierung und alle Länder, die Mitglieder der EWG sind oder ihr beitreten wollen, können jederzeit auf die Unterstützung der CDU/CSU rechnen, wenn es darum geht, weitere Schritte auf dem Wege zur Vereinigung Europas zu machen. Dies ist für uns keine Parteifrage, sondern dies ist für uns eine Politik, die ohne Alternative ist. Wir erklären: unser Ziel bleibt ein Bundesstaat Europa.
Vizekräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.