Professor Walter Hallstein.
Wir alle wissen aber auch, wie sehr in den letzten Jahren die europäische Entwicklung gehemmt wurde, und zwar nicht zuletzt durch die ungelöste Frage des Beitritts anderer Staaten, insbesondere Großbritanniens, die bereit waren und bereit sind, die in den Römischen Verträgen niedergelegten Grundsätze sowie das nachfolgende europäische Recht zu akzeptieren und die volle Mitgliedschaft zu erwerben.
Die Bundesrepublik konnte — und daran haben Regierungswechsel nichts oder fast nichts geändert — frühere, sehr dezidierte Vorbehalte der französischen Regierung gegen eine Erweiterung der Gemeinschaft niemals billigen. Diese Zeit und dieser Streit sind vorbei. Frankreich hat der baldigen Eröffnung von Verhandlungen zwischen der Gemeinschaft und den beitrittswilligen Staaten zugestimmt und wünscht — wie wir — einen Erfolg dieser Verhandlungen. Wer den französischen Staatspräsidenten auf der Konferenz gehört hat, wird aus Überzeugung sagen müssen: Wir haben Vertrauen in das gegebene Wort.
Diese Beitrittsverhandlungen werden spätestens Mitte kommenden Jahres beginnen, und sie werden von der Gemeinschaft in dem Geist geführt werden müssen, den ein erfolgreicher Abschluß voraussetzt und der ihn dann auch gewährleisten kann.
Wir haben auch festgelegt, daß — unmittelbar nach Beginn der Verhandlungen mit den beitrittswilligen Staaten — mit den anderen EFTA-Ländern, die dies wünschen, Gespräche über die Herstellung eines besonderen Verhältnisses zur EWG geführt werden.
Mindestens so wichtig, meine Damen und Herren, ist dies: Die Staats- und Regierungschefs haben die Außenminister beauftragt, die Frage der politischen Einigung in Europa erneut zu prüfen, und zwar bereits in der Perspektive der Erweiterung. Hierüber soll bis Mitte nächsten Jahres berichtet werden.
Ich halte dies für einen Kernpunkt des Ergebnisses der Gipfelkonferenz, weil er zweierlei deutlich macht: Die qualifizierte politische Zusammenarbeit soll eines Tages dazu führen, daß Westeuropa mit einer Stimme in weltpolitischen Zusammenhängen auftreten kann, und sie soll schon bald bereichert werden durch die in Aussicht genommene Teilnahme weiterer Länder an diesem Prozeß des politischen Zusammenrückens.
Mit Recht hat die europäische, hat gerade die deutsche Öffentlichkeit mit wachem Interesse — hier und da auch mit Bangen — auf die Entscheidung gewartet, die im Haag in der Frage der Beitritte gefällt werden würde. Mit Recht, so kann ich wohl sagen, hat die Bundesregierung, haben der Außenminister und ich die Lösung dieser Frage in den Mittelpunkt unserer Bemühungen gestellt, weil es eine Schlüsselfrage für die Behandlung auch der anderen Themen war. Ohne ein Ergebnis auf diesem Gebiet hätte die europäische Stagnation nicht beseitigt werden können, wäre die Konferenz — mit anderen Worten — zum Scheitern verurteilt gewesen.
Es lag unserer Meinung nach in der Natur der Sache, daß zwischen der Beitrittsfrage und den Fra-
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Bundeskanzler Brandt
gen der Vollendung und der Vertiefung der Gemeinschaft eine innere Verbindung besteht und deutlich gemacht werden mußte. Diese Auffassung hat sich durchgesetzt. Aber es handelte sich hier nicht um Konzessionen, die wie bei einem Geschäftsabschluß die Vertreter des einen Standpunktes an die des anderen machen mußten. Auch wir, die wir uns im Interesse Europas so stark für die Erweiterung der Gemeinschaft eingesetzt haben, sind nicht weniger als Frankreich und andere an der Vollendung und Vertiefung der Gemeinschaft interessiert. Ich kann auch hier mit Befriedigung feststellen, daß uns im Haag Fortschritte miteinander gelungen sind, die nicht nur die unmittelbare Zukunft, sondern auch die weitere Zukunft bestimmen werden.
Was die nächsten Wochen angeht, meine Damen und Herren, so haben wir uns miteinander verpflichtet, die endgültige Finanzregelung der gemeinsamen Agrarpolitik bis zum Ende des Jahres festzulegen, wobei nicht auszuschließen ist, daß man die Uhr ein wenig wird anhalten können oder vielleicht auch wird anhalten müssen. Wir werden die Verpflichtung nach dem Vertrag — und darum geht es: um eine Verpflichtung nach dem Vertrag — erfüllen, aber wir werden dabei natürlich nicht allein die allgemeinen Interessen der Gemeinschaft, sondern auch die einer gesunden Erzeugungspolitik, einer Beherrschung der Überschußprobleme, einer vernünftigen Finanzwirtschaft und vor allem die Interessen unserer Bauern im Auge haben.
Ich habe auf der Konferenz im übrigen ganz deutlich gemacht, daß zu unserem eigenen Programm hier in der Bundesrepublik eine moderne, wettbewerbsfähige deutsche Landwirtschaft gehört und daß die Strukturpolitik im Agrarbereich in der Hand der Bundesregierung verbleiben muß. Die Reform der Agrarpolitik steht, im Unterschied zur Agrarfinanzierung, auf der Tagesordnung der Gemeinschaft. Die Notwendigkeit zur Ratifizierung der Finanzregelungen durch unsere gesetzgebenden Körperschaften ist unbestritten. Es ist auch anerkannt worden, daß die Agrarpolitik im Zusammenhang mit der Erweiterung der Gemeinschaft bis zu einem gewissen Grade anpassungsfähig bleiben muß.
Was die weiteren Perspektiven europäischer Zusammenarbeit betrifft, so wurde im Haag der Wille deutlich, die Europäische Gemeinschaft zur Wirtschaftsunion fortzuentwickeln. Das kann nicht ohne eine konvergente Wirtschaftspolitik gelingen. Das Ziel ist die Ausformung einer Wirtschaftsunion. Der Grundsatz der Solidarität muß eines Tages, vom Kleineren zum Größeren sich entwickelnd, voll wirksam werden. Es ist selbstverständlich, daß währungs- und wirtschaftspolitische Solidarität nur entstehen kann, wenn es tatsächlich zu einer gemeinsamen weltoffenen Politik des Wachstums und der Stabilität kommt. Wir haben beschlossen, daß der Rat in enger Zusammenarbeit mit der Kommission im Laufe des Jahres 1970 einen Stufenplan für die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion ausarbeiten soll. Und in diesem Zusammenhang soll dann auch die Möglichkeit der Errichtung eines Europäischen Reservefonds geprüft werden.
Ich habe im übrigen bei der Diskussion über diese Fragen darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung den Gesichtspunkt der Stabilität unbeirrt im Auge behalten wird. Dies war wichtig, da von dem einen oder anderen Partner von der französischen Abwertung und der deutschen Aufwertung gewissermaßen als von Zwischenfällen gesprochen worden war, was ja nur richtig gewesen wäre, wenn wir es schon mit einer wirklichen konvergenten Politik im wirtschaftlichen und Währungsbereich zu tun gehabt hätten. Ich habe auch keinen Zweifel daran gelassen, daß insbesondere unsere Rentner und unsere Sparer das Übernehmen einer inflationistischen Politik anderer als eine Enteignung ansehen würden
und daß wir eine solche Entwicklung nicht akzeptiert haben und im Rahmen unserer Möglichkeiten entschieden abwenden werden.
Es ist uns übrigens bei der Konferenz gelungen, eine grundsätzliche Einigung über die Rettung von Euratom zu erzielen. Dies gelang, weil alle Beteiligten die Bedeutung der Technologie und der Zukunftsindustrien für die Gemeinschaft und ihre Mitgliedsländer verstehen. Das heißt, der Passus zu dieser Frage im Kommuniqué will so verstanden werden, daß die Forschungsstelle von Euratom bewahrt werden soll und daß man sich im übrigen flexibler auf diesem Gebiet und über das Gebiet der Kernenergie hinaus um Gemeinsamkeit im Bereich der Technologie und ihrer Anwendung für die moderne Wirtschaft bemühen will.
Auch in diesem Zusammenhang habe ich — ich hoffe, ich kann das ohne Übertreibung sagen; davor muß man sich natürlich hüten, und ich hüte mich sehr davor — den Eindruck gewonnen, daß nach vielen Rückschlägen und Enttäuschungen ein europäisches Bewußtsein im Wachsen ist, das auf die Zukunft gerichtet ist und sich nicht, wie so oft, in der Regelung prozeduraler Fragen erschöpft. Insofern können wir heute vor die junge Generation in unseren Ländern treten und sagen: Natürlich hätte man sich noch mehr vorstellen können, aber das, was jetzt zu machen war, ist geschehen; über das, worüber jetzt entschieden werden konnte, ist entschieden worden. Die Schwierigkeiten, die noch vor uns liegen, dürfen nicht übersehen werden, aber die europäische Idee hat neue Impulse bekommen; und das ist gut.
Der Vorschlag übrigens, in Anlehnung an meine Regierungserklärung ein Europäisches Jugendwerk zu schaffen, hat nach den Erörterungen im Haag jetzt auch eine Chance der Verwirklichung.
Die Institutionen der Gemeinschaft sind das politische Gerüst für den europäischen Bau. Es war von Bedeutung, daß der Präsident der Kommission gestern an unseren Beratungen teilgenommen hat. Die Kommission und der Rat in Brüssel werden sowohl bei der Erweiterung der Gemeinschaft als auch bei ihrem inneren Ausbau wichtige Dienste zu leisten
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I haben. Deshalb müssen sie Möglichkeiten erhalten, effektiver zu arbeiten.
Die Finanzregelungen werden die unabhängige Haushaltsführung der Gemeinschaft fördern, und daraus ergibt sich zwangsläufig — das ist festgehalten worden — eine Verstärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments. Diese Erweiterung der parlamentarischen Kompetenzen und der parlamentarischen Kontrolle ist erfreulicherweise jetzt auch nicht mehr umstritten.
Meine Damen und Herren, ich möchte es heute mit dieser ersten Erläuterung der Beschlüsse der Haager Konferenz bewenden lassen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß insbesondere der Auswärtige Ausschuß auf eine detaillierte Berichterstattung Wert legen wird. Die Bundesregierung steht dafür selbstverständlich sofort, wann immer das Haus dies wünscht, zur Verfügung.
Lassen Sie mich zusammenfassen. Es gelang, eine Krise der Gemeinschaft abzuwenden. Es hat sich bestätigt, daß Europa eben doch kein technischer Begriff ist, sondern daß es eine politische Aufgabe ist, der sich die Regierungen stellen. Es hat sich gezeigt, daß in einem Augenblick, in dem um ein neues Verhältnis zwischen den Weltmächten, den großen Atomriesen, gerungen wird, und in dem vieles in der Welt in Bewegung ist, die Europäer zu neuen Anstrengungen fähig sind.
Ich bin selbstverständlich immer davon ausgegangen, daß die neuen Bemühungen in Europa und bei uns selbst um — wenn es geht — bessere Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa eingebettet sein müssen in eine Festigung des Zusammenhalts der westeuropäischen Staaten.
Die Bundesregierung ist sich über den Standort unserer Bundesrepublik im Kreis der Verbündeten und Partner nicht im unklaren, und diese sind sich darüber auch nicht im unklaren. Wir werden alles daransetzen, daß der im Haag erkennbar gewordene Neubeginn nicht steckenbleibt. Dafür bitte ich um die Aufgeschlossenheit und die Mitarbeit des ganzen Hauses. Auch die Beratungen, die heute und morgen in Brüssel im Rahmen des atlantischen Bündnisses stattfinden, verdienen, wenn auch nur in indirektem Zusammenhang hiermit, unsere volle Aufmerksamkeit.
Ich erinnere mich, meine Damen und Herren, an viele der mühsamen, zähflüssigen Konferenzen, die ich in den letzten drei Jahren als Außenminister erlebt habe oder erleben mußte. Ich weiß also, was ich sage, wenn ich sage: nach den letzten beiden Tagen hat Europa doch die Chance, eine neue Perspektive zu finden. Dabei dürfen wir uns — ich sage dies noch einmal — keiner Täuschung hingeben. der Weg ist noch weit, er bleibt auch steinig, und von uns werden nicht immer leichte Entscheidungen erwartet werden. Aber jene Barrieren, die den Weg bis gestern blockierten, haben wir im Haag endlich mit unseren Partnern beiseite räumen können.