Rede:
ID0600600600

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 6
    1. Das: 1
    2. Wort: 1
    3. hat: 1
    4. der: 1
    5. Herr: 1
    6. Bundeskanzler.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 6. Sitzung Bonn, den 29. Oktober 1969 Inhalt: Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Barzel (CDU/CSU) 37 A, 67 C von Hassel, Präsident (zur GO) 46 D, 79 B Mischnick (FDP) 47 A Wehner (SPD) 54 D, 68 A Brandt, Bundeskanzler 61 C, 72 A, 93 C Dr. Schmid, Vizepräsident 68 A Rasner (CDU/CSU) (zur GO) 68 B Stücklen (CDU/CSU) 69 B Wehner (SPD) (Erklärung nach § 36 GO) 69 D Dr. h. c. Strauß (CDU/CSU) 69 D, 72 D von Hassel, Präsident 73 A Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) 73 B Dorn (FDP) 79 C Wischnewski (SPD) 82 C Scheel, Bundesminister 84 D Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) 91 A Dr. Hallstein (CDU/CSU) 94 B Dr. Schiller, Bundesminister 97 D Dr. Apel (SPD) 104 B Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident 104 C Ertl, Bundesminister 107 B Junghans (SPD) 109 A Dr. Zimmermann (CDU/CSU) 110 D Schultz (Gau-Bischofsheim) (FDP) 113 C Schmidt, Bundesminister 115 A Mattick (SPD) 117 C Borm (FDP) 119 D Dr. Gradl (CDU/CSU) 121 B Nächste Sitzung 124 D Anlage 125 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. Oktober 1969 37 6. Sitzung Bonn, den 29. Oktober 1969 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Amrehn ** 16. 11. Bergmann * 29. 10. Frau von Bothmer 29. 10. Bremm 29. 10. Dr. Dittrich * 31. 10. Frau Herklotz ** 17. 11. Gottesleben 31. 12. Dr. Jungmann 10. 11. Frau Kalinke ** 17. 11. Lücke (Bensberg) 31. 10. Frau Meermann ** 9. 11. Müller (Aachen-Land) * 30. 10. Petersen ** 17. 11. Pöhler 29. 10. Dr. Preiß 31. 10. Raffert ** 9. 11. Dr. Rinderspacher 14. 11. Schlee 31. 10. Dr. Schmidt (Offenbach) 31. 10. Weigl 31. 10. Dr. Wörner 30. 10. Frau Dr. Wolf ** 20. 11. * Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments ** Für die Teilnahme an einer Tagung der Interparlamentarischen Union
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte über die erste Regierungserklärung eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers kann natürlich nicht eine ausgewogene Gesamtbewertung alles dessen geben, was von wem in den ersten 20 Jahren Bundesrepublik Deutschland getan worden ist. Das nehme ich weder dem Sprecher der Opposition übel, noch erwarte ich es von jemand anderem. Auch kann diese Debatte nicht vorausnehmen, wie die zweiten 20 Jahre, die mit dieser Regierungserklärung eingeleitet worden sind, zu programmieren sind.

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    — Ja, was lachen Sie? Ich hoffe, Sie erleben sie alle noch. Ich werde sie nicht mehr ganz erleben. Aber wir werden dann wieder sehen.

    (Zuruf des Abg. Lemmrich.)

    Es ist, so glaube ich, sehr schwierig für Sie, jene „Rosinen" zu entdecken, die es wert sind, in Ihren „Kuchen" gebracht zu werden.

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf des Abg. Köppler.)

    — Wir wollen gern dabei helfen; in Ordnung, Herr Köppler.
    In Wirklichkeit, meine Damen und Herren, stehen wir vor der Notwendigkeit, den Konsequenzen aus der nun nicht mehr vermeidbar gewesenen Wechselkursänderung der D-Mark und den deswegen erfor-



    Wehner
    derlichen Maßnahmen gerecht zu werden. Es wird nicht zu umgehen sein, daß das von der Regierung in aller Ausführlichkeit auch den Mitgliedern dieses Hauses dargelegt wird und daß durch dieses Haus das, was in der Öffentlichkeit vielfach dunkel ist, etwas erhellt wird. Denn es wäre nicht gut, wenn wir hier, wie wir es zunächst einmal in einer Auflage erlebt haben, eine beträchtliche Fertigkeit im Auf-den-Tisch-Legen aller möglichen Probleme verschiedener Größenordnungen und verschiedener Herkunft unter Beweis stellten, wenn es jetzt darum geht, etwas in Ordnung zu bringen, das so, wie es jetzt ist, nicht zuletzt dadurch entstanden ist, daß seit dem Frühjahr unnötigerweise Schaden hat um sich greifen können.

    (Abg. Ott: Durch das Reden des Wirtschaftsministers Schiller!)

    — Seien Sie sehr vorsichtig! Das werden Sie noch erfahren.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Leider!)

    Ich würde mich also sehr hüten, jetzt schon mit Schiller anzufangen, ehe er auf dieser Tribüne überhaupt erschienen ist.

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich meine, insofern relativiere ich das, was der Sprecher der Fraktion der CDU/CSU hier über die Vortrefflichkeit der Grundlage gesagt hat, von der aus diese neu gebildete Regierung nun einsteigen und weitersteigen kann. Ich danke, Herr Kollege Dr. Barzel, für die Anerkennung der Leistungen in den Jahren 1966 bis 1969, die damit von Ihnen wohl auch gemeint waren. Aber hinsichtlich der Ausgangsposition dieser Regierung und damit auch des ganzen Parlaments wird wohl noch einiges Aktuelle zu sagen sein. Denn es ergeben sich aus dem, was ich andeute, auch jene ganz besonderen Schwierigkeiten, die wohl vor allem dadurch zu erklären sind, daß der europäischen Agrarmarktordnung, für wie vortrefflich sie auch von manchen gehalten worden ist, nicht eine entsprechende europäische Konjunktur- und Währungspolitik und einiges, das dazugehört, entsprochen hat und entspricht. Auch damit wird man sich befassen müssen.
    Ich bin überzeugt: unsere Interessen, und zwar die Interessen aller Seiten dieses Parlaments, an einem Fortschreiten der europäischen Entwicklungen werden uns auch dort, wo manche besonders Lust haben sollten, mit anderem hervorzutreten, zwingen, auf dem Teppich zu bleiben — alle Seiten dieses Hauses. Es ist auch ganz gut, daß das so ist.
    Ich kann es verstehen, daß die Damen und Herren von der CDU/CSU einerseits versuchen werden, der gegenwärtigen Regierung und der Mehrheit des Bundestages anzulasten, was nun an Maßnahmen notwendig ist, sie aber gleichzeitig, wenn es geht, an anderer Stelle als unwirksam abzuqualifizieren.
    Auch aus diesen Gründen wird es notwendig sein, hier deutlich zu machen, worum es geht und worum auch in Luxemburg gerungen worden ist und wie das weitergehen muß. Die einen werden so tun, als hätte man nur weiterhin hart bleiben müssen, wie
    man das ja so gerne sagt, während andere uns die Schuld in die Schuhe schieben wollen an dem was nun nach vorangegangenen Versäumnissen aufgeholt werden muß.
    Das, was ich sage, ist nur das Präludium zu dem, was hier unausweichlich dargelegt werden muß und auch dargelegt werden wird, und zwar — natürlich von verschiedenen Seiten beleuchtet — zu dem Zweck, daß dann klar vor aller Augen liegt, welche Aufgaben wir zu bewältigen haben. Das kann ja auch ganz munter werden, wenn man das von den verschiedenen Seiten der Verpflichtungen dieses Hauses aus angeht.
    Denn so einfach ist das ja nun nicht, daß man über eine ganze Menge von Dingen, unter denen sehr viele sind, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,

    (Heiterkeit bei der SPD)

    die auch in den Zeiten vor uns standen, in denen Sie Regierungsverantwortung hatten und auch freudig getragen haben

    (anhaltende Heiterkeit bei den Regierungsparteien)

    — natürlich, wen freut das nicht —

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    — Sie lachen so verständnisvoll, Herr Kollege —, einfach schreibt: „Gesellschaftspolitik", wissen Sie. Alles — ich meine, cum grano salis, vieles —, das meiste von dem, was Sie nicht gemacht haben, als Sie es hätten machen können — wobei ich noch nicht einmal unterstelle, ob Sie es gedurft hätten —,

    (große Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien)

    alles das wollen Sie uns jetzt wie Juckpulver in die Halskrause hineinstecken.

    (Erneute Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

    Das kennen wir noch aus der Schule, wissen Sie, und das wird nicht besser, wenn man älter wird.

    (Große Heiterkeit bei allen Fraktionen.)

    Ich wollte nur sagen: Sie werden ja noch lange nicht von der Übung wegkommen, daß in Offenburg und in Oldenburg Ihre sicher hochehrenwerten Sozialausschüsse sagen, sie hätten uns links überholt und wo denn im Gesellschaftspolitischen die SPD eigentlich geblieben sei.

    (Heiterkeit.)

    Da sitzt ein Kollege, der einmal von fünfzig Gerechten in diesem Hause gesprochen hat. Ich habe immer gestaunt, woher er diese Zahl geholt hat.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Wir haben es einmal erlebt, bei jener umstrittenen Lohnfortzahlung für die gewerblichen Arbeitnehmer im Krankheitsfalle, daß einer dieser Gerechten aus seiner Verkleidung hervorgetreten ist und mit den Sozialdemokraten solidarisch gestimmt hat, obwohl doch alle diese Gerechten die solidarische Gesell-

    Wehner
    schaft auf ihre Oldenburger Fahne geschrieben haben, Herr Kollege.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Nein, nein, keine Angst vor Konkurrenz, Konkurrenz durch Qualität und durch Leistung! Und nicht, wer zuerst ein Städtebauförderungsgesetz vorlegt, sondern, wer das beste, das brauchbare vorlegt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Betonter Beifall bei der CDU/CSU. — Zwischenruf von der Mitte: Anders als das von Lauritzen!)

    Daran werden wir hier gemessen werden, an nichts anderem.
    Es ist Ihnen doch gar keine Initiative verwehrt. Seien Sie mal initiativ, dann wird man sehen, daß Sie noch nicht völlig verkrustet sind!

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das wollen wir ja alle gern.
    Meine Damen und Herren, das böse Wort — ich sage „böses Wort", ohne es zu dramatisieren — von der „leichten Hand" werden Sie noch einige Male hören.

    (Abg. Dr. Barzel: Das ist wahr! — Weitere Zurufe von der Mitte.)

    — Ja, ja, das ist zu billig, Herr, als daß Sie glauben könnten, uns damit hier etwas anhängen zu können.

    (Abg. Rasner: Hat aber getroffen!)

    — Gar nicht! Hören Sie mal, mich trifft nichts von dem — nichts, sage ich —, ich notiere es nur — nichts anderes — ganz kalt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Was sagen Sie vom Familienlastenausgleich? Im Regierungsprogramm der SPD steht klar, daß wir den aus den Unklarheiten und aus dem Nebel herausbringen werden. Aus diesem Grunde kommt das genau dann, wenn der Bundesminister der Finanzen und die Kollegen im Kabinett klar vor Augen haben und hier klar vor aller Augen legen können, was ist. Es sind ja drei Pfeiler, auf denen das ruhen muß: Steuergesetzgebung, Ausbildungsförderung und Kindergeld, und nicht irgendwelche anderen Scherzchen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Einverstanden!)

    Darüber werden wir reden. Wir nehmen das mit dem Familienlastenausgleich nämlich sehr ernst.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Hoffentlich!)

    — Da seien Sie ruhig weiter guter Hoffnung, Herr!

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Lemmrich: Es wäre schön gewesen, wenn sich von dieser Hoffnung schon etwas in der Regierungserklärung niedergeschlagen hätte!)

    — Sie haben ja schon zuviel da drin gefunden. Sie werden im Laufe dieser Debatte doch immer wiederholen, daß da zuviel stünde. Aber keine Angst, wir kommen mit all diesen Sachen schon klar.
    Ich muß sagen — und ich sage das in aller Eindeutigkeit, weil ich hier keinen Gang durch diese Regierungserklärung zu machen beabsichtige —: Die Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands billigt und unterstützt vorbehaltlos die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Brandt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Diese Regierungserklärung ist ehrlich in der Sache und maßvoll in der Form; sie läßt keinen Zweifel an der Entschlossenheit der Bundesregierung zur Reform in der Bundesrepublik und zur Versachlichung der Erörterung unserer auswärtigen Beziehungen und Angelegenheiten wie auch mancher anderer Themen, die der Versachlichung bedürfen.
    Für die Jahre des Aufarbeitens und des Ordnens und auch des nüchternen Orientierens, die mit dieser Erklärung eingeleitet worden sind, hat die Regierungserklärung dieser von den Sozialdemokraten und den Freien Demokraten gebildeten Bundesregierung die Leitlinien klar erkennbar gemacht. Das entspricht unserer Ansicht nach dem Willen der Mehrheit der Wählerinnen und der Wähler, denen wir danken. Wir danken den Wählerinnen und Wählern auch dafür,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Daß sie die FDP erhalten haben!)

    daß sie es diesem Volk erspart haben, daß Extremisten in dieses Haus — jedenfalls durch ihre Parteibezeichnung schon erkennbare Extremisten — hineingekommen sind.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Köppler: Wen meinen Sie da? Abg. Lemmrich: Sie reden von sachlich und sind selber unsachlich! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    Die Bundestagsfraktion der SPD macht sich zu eigen, was Bundeskanzler Brandt zum Stil und zum Inhalt der bevorstehenden Debatten um die Probleme unseres Volkes und unseres Staates Bundesrepublik Deutschland erklärt hat — ich zitiere das wörtlich —:
    Im sachlichen Gegeneinander und im nationalen Miteinander von Regierung und Opposition ist es unsere gemeinsame Verantwortung und Aufgabe, dieser Bundesrepublik eine gute Zukunft zu sichern.
    Das halte ich für eine ehrenwerte Absichtserklärung des Bundeskanzlers und seiner Regierung, die wir voll unterstützen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das betrifft auch und nicht zuletzt die Verhältnisse hier in unserem Parlament. Denn wenn der Bundeskanzler am Schluß seiner Erklärung betont hat:
    Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden im Innern und nach außen,



    Wehner
    so sollten diese Zuversicht und diese Absicht alle Seiten dieses Parlaments teilen und auch teilen können; denn diese Auffassung trennt nicht, sondern sie verbindet, ungeachtet der Gegensätze, um die zu ringen ist.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Es ist doch eine Anerkennung auch der Rolle der parlamentarischen Opposition, wenn in einer Regierungserklärung vom ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler gesagt wird:
    Unsere parlamentarische Demokratie hat 20 Jahre nach ihrer Gründung ihre Fähigkeit zum Wandel bewiesen und damit ihre Probe bestanden. Dies ist auch außerhalb unserer Grenzen vermerkt worden und hat unserem Staat zu neuem Vertrauen in der Welt verholfen.
    Sie können es auch einmal so herum lesen; Sie müssen es nicht immer gleich mit wunden Augen, wenn mir dieses schlechte Bild erlaubt ist,

    (Abg. Rasner: Es ist schlecht!)

    weil sie ja voller Tränen sind von vorgestern, lesen.

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU.)

    — Ach so, das, was passiert ist, war Ihnen zum Lachen? Auch in Ordnung — jeder nimmt's nach Temperament. Wir Sozialdemokraten jedenfalls danken der Bundesregierung ausdrücklich dafür, daß sie maßvoll in der Form und fest in der Sache gesprochen hat. Das gilt für das Innenpolitische wie für das andere.
    Die Bundesregierung hat verbindlich angekündigt, im kommenden Jahr in Ergänzung und in Ausführung der Regierungserklärung ihre Pläne und Vorhaben auf dem Gebiet der inneren Reformen dem Parlament und der Öffentlichkeit in Einzelberichten zu unterbreiten. Ich verstehe das als einen Gesamtplan und begrüße das, so wie alle meine Kollegen in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion das begrüßen; denn für die Arbeit des Bundestages ist diese so anspruchslos als „Übersicht" bezeichnete Festlegung der Aufgaben, die sich die Regierung auf dem Wege der Reform und der Versachlichung stellt, doch eine Übersicht über die Stationen, die im ersten dieser 70er Jahre zu erreichen sind. Das ist ein Gewinn und nicht etwas, was zu Befürchtungen Anlaß gibt. Wir werden jedenfalls als Parlament unsere eigenen Dispositionen entsprechend treffen und rationell arbeiten können.
    Die Übersicht, von der hier die Rede war und die eine etwas unwillige Bemerkung des Sprechers der Opposition ausgelöst hat — sie ist sicher nicht unüberlegt gewesen, wie nichts von dem, was von dieser Seite gesagt wird; das versteht sich, und dafür auch meinen Respekt —, sagt, daß die Regierung im Januar 1970 den Bericht zur Lage der Nation erstatten wird.

    (Abg. Katzer: Gesetzlicher Auftrag!)

    — Ja, das entspricht einem Antrag, den meine Fraktion früher gestellt hat. Das war eine Auseinandersetzung um die Regierungserklärung 1965, wo wir bemängelt haben, daß es so etwas nicht gebe. Es ist angefangen worden in der letzten Periode, und nun möchten wir das, so wie es gemeint war, wirklich sehen: daß das Jahr beginnt mit dem, was man sehen und sagen kann über das, was die ganze, wenn auch geteilt lebende Nation betrifft.
    Im Februar wird der Jahreswirtschaftsbericht zur Diskussion gestellt werden.

    (Abg. Katzer: Gesetzlich!)

    — Ja sicher, gesetzlich. Wir sind ja auch gesetzlich; Sie werden sich noch wundern, wie gesetzlich wir sind, Herr Kollege Katzer.

    (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

    Natürlich, wir werden uns da schon aneinander gewöhnen. Hier ist ja auch nichts Erfundenes darin, sondern hier ist — deswegen auch bin ich ja froh, daß Sie mir Sukkurs geben für das, was ich als Entgegnung auf die Worte des Sprechers Ihrer Gesamtfraktion gerade ausführen wollte — eben eine Ordnung, die wesentlich auf gesetzliche Festlegungen zurückzuführen ist. Im März jedenfalls wird die Bundesregierung den Bericht über die Lage der Landwirtschaft, im April den Sozialbericht vertreten. Jeder weiß — auch Sie, Herr Kollege —, was man an Vorbereitungen darauf zu konzentrieren und zu investieren hat.

    (Abg. Katzer: Wie höflich!)

    — Ja, so kennen Sie mich gar nicht! (Heiterkeit.)

    Im Mai wird die Bildungs- und Wissenschaftspolitik der Bundesregierung und im Juni das Weißbuch zur Verteidigungspolitik vorgetragen werden — das sind wichtige Schritte — und nach den Parlamentsferien der Bericht über die Verkehrspolitik. Das sind nicht irgendwelche Berichte. Sie wissen doch, wie umstritten der „Leber-Plan", wie man ihn genannt hat, gewesen ist und was da alles daran herumgeklimpert worden ist.

    (Abg. Rasner: Gott sei Dank!)

    und wieviel man ihm von der Emaille hat wegnehmen wollen. Nun, jetzt müssen wir mit dem, was damit zu machen ist, weiterkommen und machen das. — Dann die Gesundheitspolitik! Da nimmt niemand dem Bundestag etwas weg.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Das ist ja das Eigentümliche in diesem Hause: Die Fraktionen haben alle schon einmal miteinander koaliert und gegeneinander opponiert. Es ist aber
    — hoffentlich kann sich das noch ändern — manchem Ihrer Sprecher vorbehalten, daß Sie das bisher nur von oben erlebt haben und sich auch entsprechend geäußert haben. Aus allen Positionen heraus haben wir hier schon miteinander und auch gegeneinander gestanden. Ich hoffe, daß sich das einpendelt, auch im Bewußtsein und im Gefühl.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Barzel: Und wieder ändert!)




    Wehner
    — Nehmen Sie lieber Ihre geschriebenen Notizen her, sonst wird es immer nicht so gut wie sonst.

    (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

    Dann kommen die Berichte über Raumordnung und Städtebau, über Vermögensbildung und über die Steuerreform, — das, was für die Zeit nach den Parlamentsferien angesagt worden ist.
    Ich möchte sagen und sage es nun ein wenig spitz nach dem, was ich hier vom Sprecher der Opposition gehört habe: wir werden darauf achten, daß diese Stationen eingehalten werden können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Hier wird doch — sage ich noch einmal — dem Parlament nichts genommen. Denn natürlich ist die Terminplanung vom Bundestag selbst zu machen. Ich hoffe, daß sie auch bald in Ordnung kommt und daß Sie die Anfangsschwierigkeiten überwinden, die vorwiegend bei Ihnen zu liegen scheinen. Aber da geben wir gern eine gewisse Marge.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    — Jawohl! Ach, bleiben Sie doch ruhig! Natürlich kann ich das verstehen. Dies muß hier in Einklang mit dem Willen der Mehrheit dieses Hauses in Ordnung gebracht werden; man darf es nicht durch Knüppel zwischen die Räder aufhalten wollen. Nichts anderes! Ganz sachlich, meine Herren!

    (Beifall bei den Regierungsparteien. Abg. Rasner: Das ist nicht wahr! — Abg. Lemmrich: Bemerkenswerter Ton! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Natürlich, das sollten Sie ja auch.

    (Abg. Rasner: Sie sind in Ihrer Fraktion noch nicht einig!)

    Ich will Ihnen mal was sagen. Sie glauben, Sie können uns wie mit Konfetti mit Daten aus der Vergangenheit überschütten: von Resolutionen und anderen Sachen, ob wir uns an diese noch erinnern.

    (Abg. Lemmrich: Wir erinnern Sie nur an das, was Sie früher gesagt haben!)

    Worum es uns geht, ist, die Wegzeichen für die vor uns liegende Strecke klarzumachen, erkennbar zu machen und uns danach zu bewegen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Eine Diskussion mit diesen Voraussetzungen ist ja gar nicht so einfach, wenn der ehrenwerte Vorsitzende der Bundestagsfraktion der CDU/CSU — hier muß ich es einmal so sagen — selbst seine Hörfehler für sich als so wertvoll betrachtet, daß er noch am folgenden Tage eine Passage in seiner so bemerkenswerten Rede um einen dieser Hörfehler — oder war es ein Schaltfehler? —, um einen der Hör- oder Schaltfehler herumgruppiert. Die Sache mit der „Anhörung" ist doch wohl zu klein, als daß man darüber viel Zeit verschwenden müßte. Aber in Ordnung! Denn es ging doch darum: Hier ist von der Regierung gesagt worden — ich möchte das wegkriegen, daß man dauernd daran herumzieht —, daß Anhörungen, nämlich in bezug auf gesellschaftliche Verbände und Vereinigungen und Teile unserer
    Mitbürgerschaft, im Parlament aufgegriffen würden. Das ist eine Praxis, die wir alle schon begonnen haben, wenn auch sehr spät; wir hätten sie früher schon haben sollen. Das hat nun wieder tieferliegende und inzwischen schon ein wenig vergessene Gründe. Meine Damen und Herren, natürlich hat das Parlament Anspruch darauf, und zwar nicht nur den Anspruch, angehört zu werden. Das ist eben jene durch einen Hör- oder Schaltfehler entstandene Mißdeutung. Aber dann soll man sie doch am nächsten Tag souverän zu den Akten legen können. Ich möchte so etwas gerne machen. Man sollte solche Sachen selbst zu den Akten legen, anstatt darauf herumzureiten. Es muß doch allmählich weh tun.

    (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

    Wenn man hier mit solchen Ansprüchen auftritt, muß ich sagen: die Eignungsprüfung — in diesem Fall als Führer der Opposition — muß jeder einmal machen. Das Gesellenstück war das, was wir heute gehört haben, noch nicht.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

    Hier bediene ich mich desselben Jargons, den Sie anzuwenden beliebt haben, und zwar wiederholt,

    (Abg. Rasner: Das können Sie gar nicht!)

    als Sie sagten — Sie hatten sich in die eigene Formulierung verliebt —: erst einmal einen ausgeben. Dieses Jargons bediene ich mich. Sie haben erst einmal in die Hände gespuckt und dabei häufig danebengespuckt.

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Arbeiten können wir nämlich auch. Das verstehen wir.

    (Abg. Rasner: Das ist der alte Wehner!)

    — Ja, in Ordnung; natürlich, ich bin 63 geworden, da haben Sie recht.

    (Abg. Rasner: So haben wir es gern!)

    — Spielen Sie sich bitte nicht auf, Herr deutscher Abgeordneter von der Wasserkante!

    (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

    Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Wir haben hier sachlich zu diskutieren und nichts anderes.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rasner: Fangen Sie mal an!)

    — Ich bin doch schon längst dabei. Sie sollten versuchen, sich ein wenig von der Anmaßung abzugewöhnen, nichts anderes.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich finde, daß auch die präzise Ubersicht über eine Reihe von Entscheidungen, die die Bundesregierung kurzfristig zu treffen beabsichtigt, Anerkennung verdient. Sie hat sie in sechs Punkten, glaube ich, zusammengefaßt. Ich möchte dazu sagen, daß wir Wert darauf legen, daß auch tatsächlich in diesem Takt gehandelt wird. Ich betone das besonders, weil hier über einen der Punkte — es geht dabei um den



    Wehner
    ) Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen — einiges gesagt worden ist und weil gestern in einem anderen Zusammenhang hinsichtlich dessen, was mit Polen ins Auge gefaßt ist, in Zwischenbemerkungen jedenfalls anderes gesagt worden ist. Ich denke, die Regierung wird nicht vergessen, was sie dem Parlament schuldig ist, und wir sollten unsererseits nicht an dem vorbeigehen, was das Recht und die Pflicht der Regierung ist.
    Ich bin dankbar und froh darüber, daß die Bundesregierung an einigen Stellen erkennbar gemacht hat, sie wolle auch darangehen, denjenigen unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen eine Chance zu geben, die zu keinem der großen Blöcke, zu keinem Verbands- oder Interessenblock gehören und die in kein Schema passen, die also im Schatten leben, wie an einer Stelle gesagt worden ist. Gemeint sind die besonders Beladenen, die Behinderten und Alleinstehenden, die sich nur unvollkommen helfen können. Ich wäre froh, wenn auch der Bundestag hier seinen Beitrag leisten könnte und würde, wenn er es möglich machen würde, daß einem Teil dieser Mitbürger und Mitbürgerinnen, z. B. in der Altenversorgung respektive in der Kriegsopfer- und Hinterbliebenenversorgung, durch strukturelle Veränderungen und Verbesserungen geholfen wird. Das sollten wir, über das Schematische hinausgehend, versuchen, so schwer das auch im Konkreten ist. Wir müssen auch versuchen, von denjenigen, deren Bezüge im Rahmen der strukturellen Verbesserung der Kriegsopfer- und Hinterbliebenenversorgung oder im Rahmen der strukturellen Verbesserung der Altenversorgung nicht angehoben werden können, die Last zu nehmen, daß die Entwicklungen stets an ihnen vorbeigehen. Manchmal — und als Abgeordneter sehr oft — erlebt man, wenn sich Menschen dieser Art an einen wenden, wenn sie den Weg finden und wenn sie ihre eigenen Nöte und Schwierigkeiten darlegen können, wie das ist und worum es sich dabei handelt. Jedenfalls, bei dem Bemühen um die Chancengleichheit — und das zieht sich ja durch die Regierungserklärung, ob es der Teil über Bildung, Wissenschaft, Forschung, ob es der Teil über Soziales und über das andere ist — handelt es sich darum, daß gleichgültig, als was eine oder einer geboren ist, und gleichgültig, wohin es sie oder ihn verschlagen oder vertrieben hat, sie in unserer Bundesrepublik Deutschland die gleichen Chancen geboten bekommen sollen nach der Grundgesetzbestimmung, die einheitliche Lebensverhältnisse auch strukturell und gebietlich verlangt. Ich glaube, daß wir in diesem Punkte, wenn auch mit verschiedenen Impulsen — das ist kein Manko, das ist sogar ein Vorzug —, auf dasselbe hinaus wollen: Chancengleichheit. Dabei ist nicht zu vergessen: Chancengleichheit ist für die Beladenen, für die besonders Behinderten, für die, die in anderen Ländern als Leute mit einem Handikap bezeichnet werden, auch nur etwas, was sie an anderen beobachten können. Wir müssen ihnen — da begrüße ich, daß das in der Regierungserklärung maßvoll gesagt worden ist — eine Chance geben, und wir können das, wenn wir die stabilen Grundlagen von Wirtschaft und Finanzen hüten und dann entsprechend auch für solches nutzbar machen.
    Ich hatte in den letzten Monaten wiederholt Gelegenheit, auf eine Äußerung des damaligen und jetzigen Bundeswirtschaftsministers zurückzugreifen, der gesagt hat, daß die Wirtschaftspolitik nun auch mehr in den Dienst des gesellschaftspolitischen Fortschritts gestellt werden kann. Manche haben das mißverstanden, als ob nun nicht mehr gewirtschaftet werden soll. Das ist sicher grob mißverstanden worden, aber das, was da als Richtung angegeben worden ist, stimmt schon.
    Meine Damen und Herren, zu einer Frage, die hier — unverständlicherweise — nicht nur gestellt worden ist, sondern sicher noch weiter gestellt werden wird, und die auch vor dieser Debatte öffentlich erörtert worden ist: Wie steht es mit dem Willen zur Wiedervereinigung oder zur Einheit der Deutschen bei denen, die als Koalition der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten diese Regierung im Bundestag tragen? Ich sehe das so: Unser Volk soll wie andere Völker auch den Anspruch nicht aufgeben, über seine eigene gemeinsame Zukunft selbst bestimmen zu wollen und zu dürfen. Gäbe es diesen Anspruch auf, würde es von anderen als ein Volk nicht nur minderen Rechts, sondern auch - bitte — minderer Qualität betrachtet und wohl auch gelegentlich behandelt werden.
    Wenn wir unser Grundgesetz unter die Willenserklärung gestellt haben, daß wir als gleichberechtigtes Glied eines vereinigten Europas dem Frieden in der Welt dienen wollen, so haben wir jedenfalls — ich spreche hier für die Sozialdemokraten — davon nichts zurückzunehmen. Wir werden aber vieles tun und auch manches lassen müssen, um diesem Ziel in langer Frist wirklich allmählich näherzukommen. Daß sich die Väter des Grundgesetzes darüber andere Gedanken gemacht haben, mag erklärlich gewesen sein. Daß man das in den Debatten, nach denen sich manche zurücksehnen — ich habe sie mir auch noch einmal angesehen, auch die Regierungserklärungen seit 1949 —, unterschiedlich gesehen hat, war nichts anders als menschlich. Wir jedenfalls können es nicht der Zukunft überlassen, daß wir als gleichberechtigtes Glied in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt dienen können. Wir müssen auch im Zustand der Spaltung nach besten Kräften das Unsere tun, um dem Frieden dieser Welt zu dienen, also eben nicht erst, nachdem andere uns das Recht gewährt haben, insgesamt als gleichberechtigtes Glied dieses Europas dem Frieden dienen zu können.
    Meine Damen und Herren, unsere Aussichten wachsen nicht automatisch mit den Konflikten, die Dritte miteinander haben. Die Aussichten könnten sich — müssen nicht, können sich — in dem Maße verbessern, in dem wir mancherorts und schließlich vielerorts Sympathien, Vertrauen und hier und da auch Fürsprecher gewinnen.
    Nun hat die Regierungserklärung deutlich gemacht, was Deutschlandpolitik nicht ist und was sie ist. Sie ist nicht ein Ressort. Sie kann nur sein — jetzt in meiner Art ausgedrückt — die Summe der Bemühungen außenpolitischer, europapolitischer, sicherheitspolitischer Art und eben dessen, was wir hier selbst für die Entwicklung innerdeut-



    Wehner
    scher oder zwischendeutscher Beziehungen und für den Zusammenhalt der Deutschen leisten können.
    Darüber sind auch früher schon Debatten geführt worden. Ich habe mir noch einmal eingehend jene vom Mai 1966 angesehen, mit all den skeptischen Bemerkungen darüber, wie groß z. B. das Wort vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen sei — wenn es auch nur die Fragen sind — und wie gering die möglichen Zuständigkeiten. Daß in diesem Zusammenhang das ein wenig in Ordnung gebracht wird, sollten alle dankbar, wenn nicht begrüßen, so hinnehmen, muß ich sagen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Dankbar?)

    — Was heißt das denn? Hier wird doch an den eigentlichen Aufgaben und an dem, was möglich ist, gar nichts geändert. In Wirklichkeit wird es versachlicht; selbstverständlich, es wird versachlicht. Sie brauchen das. Sie werden sich täuschen. In zehn Jahren werden Sie denken: da haben Sie zehn Jahre Energie auf ein Objekt verwendet, die Sie besser anderswo angewendet hätten.
    Es geht um die Intensität der Bemühungen, um die Beziehungen und damit um den Zusammenhalt der Deutschen im gespaltenen Deutschland.

    (Abg. Stücklen: Dann hätte man ja auch „Gesamtdeutsche Beziehungen" sagen können!)

    — Beziehungen im gespaltenen Deutschland! Lesen Sie einmal nach, was frühere Minister über das Wort „gesamtdeutsch" gesagt haben. Soll ich hier noch einmal wiederholen, wie das, wenn Sie es übersetzen, im Französischen klingt, wie das im Englischen klingt? Sie müssen doch jedesmal erst erklären, daß das nicht „großdeutsch" heißt! Natürlich müssen Sie das jedesmal erklären; das ist doch ganz klar. Da das bei Ihnen noch eine Stelle ist, die Sie so behandelt zu sehen oder zu hören wünschen,
    — in Ordnung: Gemacht werden muß das, damit wir sachlich auf diesem Gebiet das Denkbare auch mit der richtigen Adresse versehen und nicht mit einer Wunschadresse.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wenn Sie sich alte Regierungserklärungen ansehen, z. B. die erste, die Konrad Adenauer hier abgegeben hat, werden Sie, ich sage sehr höflich: wenig darüber finden, auch heute mit geschärften Augen wenig darüber finden, daß das Ziel Wiedervereinigung der Deutschen mit dem Ressort Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zu erreichen gedacht war. Es gibt ja eine Aufgabendefinition — meines Wissens war es die erste formulierte — vom 30. September des Jahres 1959, immerhin, am Beginn des zweiten Jahrzehnts der Periode. Darin heißt es:
    Die Arbeit des Ministeriums soll der Pflege und Förderung einer Volksgesinnung dienen, die zu einer einheitlichen politischen Willensbildung, dem Willen zur Einheit der Nation in Freiheit, führt. Es soll die Aufgabe des Ministeriums sein, diesen Willen zum geistigen Allgemeingut unseres Volkes zu machen und ihn ebenso wie
    die Grundfragen der Außenpolitik dem Parteienstreit zu entziehen.
    Das ist eine Aufgabenstellung, so wie man sie damals verstand.
    Worum es jetzt geht, ist doch nicht, zu bestreiten, daß man heute davon auszugehen hat, die innerdeutschen Beziehungen zwischen diesem und dem anderen Teil des gespaltenen Deutschlands zu unterscheiden von Beziehungen, die wir zum Ausland, die das Ausland zu uns aufgenommen hat oder pflegt. Diese Beziehungen unterliegen also nicht dem Auswärtigen Amt und jenem Teil der Politik, sondern hier ist ein Besonderes erforderlich und notwendig. Das sollten Sie weniger schmerzhaft für sich selbst machen; denn das alles sind, soweit unsere Mittel überhaupt dazu ausreichen, Bemühungen um den Zusammenhalt dieses gespaltenen und getrennten Volkes, und zwar so, daß wir uns einander verständlich machen können, auch wenn inzwischen andere nachgewachsen sind, auch wenn inzwischen junge Generationen schon an die Stelle anderer getreten sind.
    Es ist immer meine Ansicht gewesen — und ich habe es hier im Bundestag in der vorigen Periode in einer umfassenden Debatte am 25. April auch noch einmal ausführlich darzulegen versucht —, daß das zentrale Problem dieser deutschen Frage oder dieses Bündels deutscher Fragen Berlin ist; denn damit steht und fällt, ob wir den Anspruch auf eine vertragliche — eine vertragliche! — Regelung der Nachkriegsprobleme, soweit sie nicht schon geregelt sind, aufgeben können, wollen, dürfen. Hier wird ja um etwas gerungen. Da will ja jemand, der das aus der Innenpolitik so gelernt hat und der sich dadurch von anderen unterschied, vollendete Tatsachen schaffen, um das, was er geschaffen hat, dann legalisieren zu lassen, so in der Innenpolitik, so auch in der Außenpolitik. Das ist gewiß eine Eigentümlichkeit nicht nur jener Seite, es machen auch manche andere sonst so in gewissen Breitengraden dieser Welt. Darum geht es.
    Hier muß man aufpassen; denn hier hilft einem, wenn man nicht selbst aufpaßt, kaum jemand. Berlin ist die Schlüsselstellung und wird es noch lange sein. Wie viele Jahrzehnte das alles auch noch dauern wird, es geht dabei immer um die schließliche Überleitung von nach dem Ende der militärischen Feindhandlungen für erforderlich gehaltenen, dann aber umstritten gewordenen und auch gebliebenen und manchmal sogar schon einseitig ausgelöschten Übergangsregelungen in endgültige vertragliche Regelungen. Um nichts anderes kann es dabei gehen. Da mag es in der Ausdrucksweise, da mag es auch in der Vorstellungsweise über die Zeit, die dazu gebraucht wird, diese Unterschiede geben. Aber in der Sache werden wir uns immer wieder an diesem Punkt zusammenfinden müssen.
    Das wollen Sie nun mit solchen Dingen beschweren wie — das sage ich nur wegen des Stichworts „Berlin" —, die Sozialdemokraten weigerten sich, nach Berlin zur Arbeitswoche zu gehen.

    (Abg. Stücklen: „Bisher nicht zugestimmt", hat es geheißen!)


    Wehner
    — Das haben sie auch nicht. Ich möchte das hier in aller Freimütigkeit deutlich machen, weil wichtiger als das Demonstrative das Effektive ist.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Aha-Rufe von der CDU/CSU.)

    — Ich bin doch schon mehr in Berlin gewesen als mancher andere. Das ist doch kein Ruhm. Es hat Ausschüsse gegeben, die schon früher viel häufiger in Berlin getagt haben, als seit es diese eigenartige Regelung der Präsenzpflicht für jeden Ausschuß in Berlin gegeben hat. Darüber ließe sich manches sagen. Ich würde es vorziehen, Sie ließen darüber mit sich und unter uns sachlich reden. Sonst müßten wir über einiges reden, was niemandem gut tun kann, weil dort nicht einer oder der andere die Alleinverantwortung zu tragen hat, sondern weil es hier um Porzellan, um Berliner Porzellan, geht. Das sollte man nicht vorher zerdeppern, um es dann noch einmal zusammenkitten zu müssen oder zu dürfen.

    (Abg. Stücklen: Ist da etwas im Gange, was wir nicht wissen?)

    — Nichts ist im Gange. Sie sind doch erfahren genug, um zu wissen, daß mancher sich interessant macht und so tut, als wüßte er etwas. Von mir wissen Sie, daß das meine Art nicht ist. Worum es geht, ist das Ordnen unserer Arbeitsweise, nichts anderes; und da brauchen wir uns nicht unbedingt an Gewohnheiten gebunden zu fühlen, die ihre Berechtigung gehabt haben, —

    (Aha-Rufe von der CDU/CSU)

    — Ja, sicher! Was wollen Sie denn mit Ihrem „Aha"? Darüber werden wir ja einmal in aller Ausführlichkeit, z. B. im Zusammenhang mit der Debatte über die Lage in der Zone, sprechen. Aber brechen Sie sich doch bitte keinen ab! Ich habe mir einiges herausgeholt, was ich für solche Fälle einmal in die Debatte werfen kann. Wir können das in diesen Tagen noch machen. Sie können nicht so verfahren: sozusagen Schlamm am Sonntag und in der Woche hier so tun, als wäre man fair miteinander. Nein, was wir wollen, ist, sachlich über die Arbeit reden und nicht von vornherein jeden Gesichtspunkt durch etwas abstempeln und dadurch die Klärung der Fragen, um die es geht, nur erschweren.
    Ich hätte gern noch einiges Spezielle, das mir besonders am Herzen liegt, auch zu dem polnischen Problem, gesagt. Vielleicht läßt sich das im Laufe dieser Debatte noch nachholen. Ich sehe, daß ich mich in der Redezeit ein wenig vergaloppiert habe, und bitte dafür um Entschuldigung.
    Am Schluß möchte ich noch einmal sagen, daß dieser Einstieg in die Debatte über die Regierungserklärung uns auch immer wieder daran erinnern soll, daß bei unterschiedlicher Stellung und damit unterschiedlicher Verpflichtung es über all dem auch eine gemeinsame gibt.
    Ich danke Ihnen für die Geduld.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Carlo Schmid
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Dr. Barzel hat am Abend des 28. September gesagt, er wünsche sich eine große Opposition. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Er hat aber in jener Wahlnacht auch gesagt — dem Sinn nach, so habe ich es in Erinnerung —, er wünsche sich eine Konstellation, bei der Regierungsmehrheit im Hause und Opposition sich zur gemeinsamen Verantwortung bekennen. Ich bekenne mich dazu — zur Kooperation in den Lebensfragen der Nation. Ich bin dankbar für die Wünsche, die der Führer der Opposition mir mit auf den Weg gegeben hat, was den Erfolg der Regierungsarbeit und — wie er es nannte — die glückliche Hand angeht. Die Regierung dankt auch für das Angebot kooperativer Opposition. Ich sage noch einmal, diese Regierung wird in allen Lebensfragen der Nation die Meinungen der Opposition nicht nur hören, sondern sie auch in ihre Politik einbeziehen.
    Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß es gut ist, und mir liegt daran, bevor man zu den Hauptblöcken der Politik kommt — damit meine ich natürlich nicht nur die auswärtige Politik, sondern auch die Wirtschafts- und Finanzpolitik, über die noch sehr gründlich wird gesprochen werden müssen —,

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    ein paar Dinge, wenn es geht, wegzuräumen. Ich bin nicht sicher, daß das überall gelingt. Aber ich will einen wichtigen Punkt nennen, weil ich den Eindruck hatte: da kam gestern vormittag und auch heute sehr viel Gefühlsmäßiges hinein.
    Der Satz gegenüber denen — z. B. den Apo-Leuten, die doch Ihnen wie uns begegnet sind —, die gesagt haben, mit der Demokratie werde das wohl nichts werden, der Satz: Insoweit fangen wir erst richtig an, ist doch nicht an eine Fraktion oder Partei dieses Hauses gerichtet. Einmal drückt er das Empfinden derer aus, die eine Woche an der Regierung sind - das ist die engere Auffassung —; die müssen nun in der Tat mit ihrer Regierungsarbeit erst richtig anfangen;

    (Zuruf von der CDU/CSU: Aber nicht mit der Demokratie!)

    — einen Augenblick! — und zum anderen, meine Damen und Herren, sollen wir keine künstlichen Gegensätze aufkommen lassen;

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    denn das, womit wir erst richtig anfangen müssen, ergibt sich aus der Pflicht zum sachlichen Gegeneinander und nationalen Miteinander.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Unter diesem Obersatz steht das, was dort gesprochen wurde. Dies ist ein Appell an das demokratische Engagement der Bürger in der Bundesrepublik Deutschland und ist auch von allen draußen so verstanden worden. Auch das wollen wir einmal festhalten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)




    Bundeskanzler Brandt
    In diesem Zusammenhang wurde die FDP zitiert, die für sich selbst sprechen kann, Dazu muß ich hier obwohl sie für sich selbst sprechen kann, den Hinweis machen, daß manche der Äußerungen im Vorfeld dieser Debatte über „Hinauskatapultieren" und andere Vorgänge natürlich auch nicht gerade dazu beigetragen haben,

    (Zurufe von der CDU/CSU: Pendlerpartei!)

    die sachliche Atmosphäre zu schaffen, um die es uns gehen muß.

    (Abg. Lemmrich: Sie meinen doch sicher die Äußerungen von Herrn Wehner?!)

    Ich möchte eine weitere Bemerkung machen, die sich auf den Tadel des Herrn Vorsitzenden der CDU/ CSU-Fraktion bezieht. Er meinte tadeln zu sollen, daß ich in meiner Regierungserklärung nicht ein Wort der Anerkennung und des Dankes an meine beiden Amtsvorgänger gerichtet hätte.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    — Ich würde mit dem Zuruf noch einen Augenblick warten; es fragt sich ob der noch stimmt, nachdem Sie jetzt eine Minute zugehört haben werden. — Ich war über diese Einstellung ganz überrascht. Ich hatte es gerade hinter mir, daß ich im Kreise meiner Freunde den Vorwurf derer zurückgewiesen hatte, die meinten, es sei nicht ganz stilvoll gewesen, daß weder der Vorsitzende der CDU noch der der CSU zugegen gewesen sei, als die neue Regierung vereidigt wurde.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich hatte gesagt: die hatten sicher anderes zu tun. Aber dadurch konnte mein Amtsvorgänger auch nicht hören, wie der Präsident des Bundestages für uns alle ihm den Dank aussprach.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Stücklen: Ist Ihnen noch in Erinnerung, daß bei der Vereidigung einer Regierung Ihre ganze Fraktion ausgezogen war?)

    Ich hatte, meine Damen und Herren, solche Kritik zurückgewiesen und hatte auch, wie Herr Kiesinger weiß und alle anderen, die Zeitung lesen, wissen, bevor es zur Bildung dieser Regierung kam, in einem Brief am 9. Oktober Herrn Kiesinger geschrieben. Wenn Sie wollen, gebe ich ihn ganz zu Protokoll, aber es reicht aus, wenn ich aus diesem Brief den einen Satz hier in aller Form noch einmal vortrage. Er lautet:
    Weder zurückliegende noch bevorstehende Kontroversen werden mich davon abhalten, zu dem zu stehen, was wir seit Ende 1966 miteinander geleistet haben. Es ist unserem Vaterland nicht schlecht bekommen.
    Nun, meine Damen und Herren, wenn es erforderlich ist, bin ich gern bereit, solche Sätze zu wiederholen. Ich finde nur, es ist eine ganz schlechte Sache und ich empfinde es auch als einen ganz schlechten Stil, wenn in einem solchen Zusammenhang, Herr Kollege Barzel — — Da habe ich nun Konrad Adenauer genannt. Soweit sind wir immerhin. Das kann
    der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten ohne jede Hemmung und ohne daß ihm das einer der eigenen ankreidet, machen, trotz all der Kontroversen, die es hier in diesem Haus gegeben hat. Ich habe Konrad Adenauer nicht des Alphabets wegen, sondern als ersten Bundeskanzler und Ihren Vorsitzenden erwähnt. Ich habe ferner Theodor Heuss, den ersten Bundespräsidenten und prominenten Mann der Freien Demokraten, sowie Kurt Schumacher genannt, der die sozialdemokratische Partei wieder aufgebaut und geführt hat. Ich habe gesagt, ich nenne sie für alle. Das ist wirklich so gemeint gewesen, wie es gesagt wurde. Wenn ich jetzt sagte, was ich für einen schlechten Stil halte, dann ist das etwas, was sich aus einer solchen Disposition ergibt: Daß nämlich daraus, daß eine Reihe anderer nicht erwähnt werden kann, der Vorwurf abgeleitet wird, als distanziere man sich dadurch gar von einem verstorbenen Freund. Das sollte man nicht machen, Herr Barzel!

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Es war wohl auch nicht ganz wohlüberlegt, daß Sie gegen Schluß Ihrer Rede Schumacher gegen Kiesinger ins Feld geführt haben.

    (Zuruf des Abg. Dr. Barzel.)

    — Nein, Sie haben es nicht so gewollt. Ich sage nur: objektiv war es so.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

    — Augenblick mal. Sie haben im vorletzten Absatz Ihrer Rede Schumacher gegen die Brückenbauer zitiert oder gegen diejenigen, die die Vorstellung hatten, man könnte Brücken bauen. Der einzige, der dies in der Zeit der Großen Koalition am 13. Dezember 1966 hier vor dem Bundestag vorgetragen hat, war mein Amtsvorgänger; denn er hat von der geschichtlichen Rolle Deutschlands gesprochen, zwischen West- und Osteuropa Brücken zu bauen. Er hat gehofft, daß so etwas wieder kommen könnte.

    (Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Dr. Althammer: Davon ist doch nicht die Rede gewesen!)

    — Der Passus in der Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 lautet:

    (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU)

    „Deutschland war jahrhundertelang die Brücke zwischen West- und Osteuropa. Wir möchten diese Aufgaben auch in Zukunft gern erfüllen."
    Meine Damen und Herren, wollen wir also auch hier nicht unnötige Kontroversen in die Debatte hineinbringen.

    (Abg. Barzel meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

    — Bitte sehr!