Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sollten diese Debatte über die Berichte unserer beiden Minister zwischen Leichtfertigkeit und Nervosität so nüchtern wie möglich führen und nach draußen nicht den Eindruck erwecken, als ob wir hier durch einen Vorgang aufgescheucht seien, der uns eigentlich alle nicht so sehr hätte überraschen dürfen, wie er manchen überrascht hat. Ich glaube, wenn wir die Lage überprüfen, kommen wir zu folgender Feststellung. Die beiden Tagungen in Brüssel — Ministerratstagung sowie die NATO-Parlamentarierkonferenz — haben uns bewiesen, daß auch unsere Verbündeten, unsere Partner, die Lage überprüfen, und zwar mit einem positiven Vorzeichen. Man kann heute davon ausgehen, daß niemand im nächsten Jahr aus der NATO austreten wird, daß das Bündnis gefestigt wird und daß man gemeinsam überlegt, wie man die Basis verstärkt. So war der 21. August von meinem Standpunkt aus auch ein Warnschuß gegen Leichtfertigkeit, gegen zu wenig Wachsamkeit. So hat alles zwei Seiten.
Meine Damen und Herren, ich möchte hinzusetzen: ich meine auch, daß die CSSR ein Opfer sowjetischer Nervosität geworden ist, denn wer die sowjetische Presse und die sowjet-deutsche Presse in den Monaten verfolgt hat, wird dem nicht widersprechen, daß es keine souveräne Position war, die die Sowjetunion in den Tagen bezogen hat, als sie in die CSSR einmarschierte. Ich möchte daher unserem Minister folgen, wenn ich daraus schließe, daß
10878 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 201. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Dezember 1968
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unsere Friedenspolitik nach wie vor auf zwei Säulen ruht: Sicherheit durch ein fähiges Bündnis und aktive Friedensbemühungen durch Zusammenschluß mit denen, die dazu bereit sind, Brücken schlagen zu denen, die sich nicht verschließen, und allen Menschen, die zuhören können, klarzumachen, daß die Bundesrepublik keine kriegerische, sondern eine Friedensposition hält.
Nun 'hat der Herr Bundesaußenminister am Freitag hier bei seinen Darlegungen festgestellt, daß die Sowjetunion mit der Okkupation der CSSR den Grundsatz der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates verletzt hat. Sie hat, so sagte er, ihre imperialen Interessen gegenüber einem Mitglied des Warschauer Paktes den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen übergeordnet. Das, glaube ich, kann niemand bestreiten. Die Frage, die wir meiner Ansicht nach daraufhin stellen müssen, ist die: Hat ,die Sowjetunion dies getan, weil sie die Warschauer Pakt-Staaten in ihren imperialen Machtbereich besitzeinnehmend mit einbezieht, oder muß man mit der Ausweitung dieses Machtsystems darüber hinaus rechnen? Dazu gehört die Untersuchung der Doktrin, von der hier heute schon gesprochen wurde und auf die sich die Sowjetunion beruft.
Die Formulierung der Doktrin bezieht sich nicht nur auf den Pakt — das möchte ich vorweg sagen —, sondern sie ist ausdehnbar auf andere Staaten, die die Sowjetunion als sozialistisch ansieht, und sie ist ausdehnbar .auf die kommunistischen Parteien.
Meine Damen -und Herren, machen wir uns das einmal an ein paar Punkten klar. Einbeziehbar sind ohne weiteres Ägypten, Kuba, Algerien, Syrien, Jugoslawien, und zwar unmittelbar. Mittelbar einbeziehbar sind die arabischen Gebiete allgemein, die Anliegergebiete. Und nun lassen Sie mich das sagen, was mir dabei besonders am Herzen liegt: Natürlich ist unter anderem Berlin einbeziehbar. Denn so wie die SED-Führung von ihrem Standpunkt aus darauf bestehen will, daß Berlin auf dem Territorium der DDR liegt, so ist natürlich auch diese Auslegung durchaus möglich. Darum muß man in die Betrachtung der Doktrin auch die Militärdoktrin der SED einbeziehen, die vor kurzem veröffentlicht worden ist.
Zunächst aber möchte ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten noch einmal auf die Doktrin der Sowjetunion zurückkommen und ein paar Punkte daraus zitieren. Es heißt hier gegen die Behauptung, die Handlungsweise der Fünf widerspreche dem marxistisch-leninistischen Prinzip der Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, unter anderem:
Die Haltlosigkeit solcher Ansichten besteht vor allem darin, daß ihnen eine abstrakte, den Klassenstandpunkt ignorierende Betrachtung der Frage der Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zugrunde liegt. Die Völker der sozialistischen Länder und die kommunistischen Parteien sind unbedingt berechtigt, die Entwicklungswege ihres Landes
selbst zu bestimmen. Jedoch darf keiner ihrer
Beschlüsse weder dem Sozialismus im eigenen Lande Schaden zufügen noch auch den grundlegenden Interessen der anderen sozialistischen Länder, noch der weltweiten Arbeiterbewegung als Ganzes, die den Kampf um den Sozialismus führt. Das bedeutet, daß jede kommunistische Partei nicht nur ihrem eigenen Volke gegenüber verantwortlich ist, sondern auch gegenüber allen sozialistischen Ländern.
Das ist eine Feststellung, die untermauert, wie weit diese Doktrin anwendbar ist. Es heißt dann:
Die Kommunisten der Bruderländer konnten es natürlich nicht zulassen, daß im Namen einer abstrakt verstandenen Souveränität die sozialistischen Länder untätig blieben gegenüber der dem Lande drohenden Gefahr eines Abgleitens auf antisozialistische Positionen. . . . Jene, die von „Ungesetzlichkeit" des Vorgehens der verbündeten sozialistischen Länder in der Tschechoslowakei sprechen, vergessen, daß es in der Klassengesellschaft kein außerhalb der Klassen geltendes Recht gibt noch geben kann.
Mir ist wichtig, meine Damen und Herren, das hier noch einmal in Erinnerung zu rufen. Nicht jeder wird es gelesen haben.
Ich möchte jetzt etwas aus der Doktrin der SED-Führung verlesen, in der es heißt:
Die Militärdoktrin der DDR ist zutiefst inter-nationalistisch. In ihren Grundauffassungen stimmt sie völlig mit der sowjetischen Doktrin überein.
Damit jeder es sich noch einmal vor Augen hält: diese Militärdoktrin der Sowjetunion stammt aus dem Jahre 1960, ist jetzt im September von der „Prawda" noch einmal ausdrücklich veröffentlicht worden, und der sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik hat es für richtig gehalten, dies, ins Deutsche übersetzt, in seinem Bulletin in den letzten Tagen zu veröffentlichen. Ich glaube, klarer braucht nicht gemacht zu werden, daß es keine neue Doktrin ist. Aber man muß wissen, daß wir es damit heute genauso wie damals zu tun haben.
Meine Damen und Herren, ich habe gestern irgendwo die Frage gehört, ob wir uns denn unmittelbar bedroht fühlen. Ich muß hier, wenn die Frage so gestellt wird, darauf antworten: im Sinne dieser Doktrin ja, als Berliner auf alle Fälle. Denn so wie die SED sich zu Berlin einstellt, muß man auch davon ausgehen, daß sie Berlin in diese Doktrin — wenn es ihr möglich wäre — mit einbezieht. Das heißt, unsere militärische Sicherheit in Berlin und in der Bundesrepublik liegt heute nur in dem Bündnis und in seiner von der Sowjetunion erkennbaren Abwehrstärke. Das Gespräch hier geht darum, daß wir diese Position erhalten und entwickeln. General Lemnitzer hat dazu einmal gesagt: Was die Russen wollen, wissen wir nicht; ihre Kapazität ist in diesem Sinne der Maßstab.
Außenminister Brandt hat am Freitag das Kommuniqué der Allianz zitiert, in dem es u. a. heißt:
Ziel ist nach wie vor gesicherter Frieden, nutzbringende Beziehungen zwischen Ost und West.
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Dabei muß aber berücksichtigt werden, daß die Suche nach Entspannung das Bündnis nicht spalten darf.
Das ist der Punkt, der mir bei dieser Debatte am Herzen liegt. Wir Deutschen haben es besonders schwer, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, damit auch Militärpolitik — um den Ausdruck zu verwerten —, und aktive Friedenspolitik, wie wir sie sehen, zu vereinbaren. Andere Völker sind da weniger vorbelastet. Wir müssen unserem Volke sagen — das scheint mir in diesen Tagen von dieser Stelle aus besonders wichtig zu sein —, daß auch in Deutschland beides zusammengehört. In der Auseinandersetzung in der Bevölkerung müssen wir uns zur Wehr setzen gegen die Vorstellung, daß nur das eine oder das andere sein kann. Wenn nur das eine geschieht, ist das eine Haltung gegen die Friedenspolitik.
Die Sicherheitspolitik, die militärische Absicherung der Bundesrepublik Deutschland, ist die Voraussetzung für eine aktive Friedenspolitik, wie die Bundesregierung sie heute sieht. Darüber in der Öffentlichkeit zu reden scheint mir wichtig zu sein, weil in der öffentlichen Auseinandersetzung dagegen in einem solchen Ausmaß polemisiert wird, daß die deutsche Friedenspolitik in eine Position der Diffamierung kommt. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen, allen deutlich zu machen, daß unsere Friedenspolitik nicht überboten werden kann, nicht überboten werden wird.
Dazu gehört — das möchte ich auch an dieser Stelle sagen, meine Damen und Herren — eine erfolgreiche Entwicklung unserer Demokratie, unseres sozialen Wohlstandes und unserer sozialen Gesundheit. Dazu gehört der Ausbau der Freundschaften, die wir angeknüpft haben. Dazu gehört — auch das möchte ich in diesem Zusammenhang sagen — eine verstärkte Hilfe für die Völker, die in ihrer Entscheidung noch offen sind und bei denen eine Hilfe im Prozeß der Demokratisierung und des gesellschaftlichen Aufbaues die Position verstärken kann, um die wir in dieser Welt ringen. Und ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, die bisherige Leistung der Bundesregierung hat doch Erfolge gebracht, die wir gerade in diesen Tagen nicht übersehen sollten. Die Position der Bundesrepublik ist doch heute eine andere als vor einigen Jahren, als wir in der Ecke standen, als das Problem Deutschland am liebsten beiseite geschoben worden wäre.
Und ein Zweites möchte ich als letztes hinzusetzen: Wir haben mit unserer Politik in die Auseinandersetzung, die es heute im Ostblock gibt, aktiv hineingewirkt. Das ist unbestreitbar, wenn man sich unter anderem ansieht, was Herr Hager auf dem 9. Plenum dazu gesagt hat. Das 9. Plenum der SED hat uns ganz deutlich gemacht, daß unsere Politik hier in der Bundesrepublik und der Demokratisierungsprozeß für die SED im anderen Teil Deutschlands eine entscheidende Belastung ist. Aus den Zitaten des 9. Plenums wird deutlich, daß die SED es sich mit dem Reformsozialismus und mit der Demokratisierung in den sogenannten kapitalistischen Ländern sehr schwermacht und heute im wesentlichen dagegen anrennt, daß dort drüben bei den Menschen die Vorstellung besteht, daß mit parlamentarischer Demokratie eine vernünftige Gesellschaftsordnung aufgebaut werden kann. Diese Auseinandersetzung ist nur möglich, weil in der Bundesrepublik ein Prozeß läuft, der in dieser Beziehung beispielhaft ,ist.
Ich glaube, wir sollten alles zusammen sehen — die Sicherheitspolitik, die Abwehr der Gefahren, die sich aus der Erkenntnis des 21. August ergeben — und das fortsetzen, was letztlich einen Beitrag der deutschen Politik in der Auseinandersetzung um die Freiheit in Europa darstellt, nämlich dafür sorgen, daß man auf der anderen Seite begreift: die deutsche Politik in der Bundesrepublik ist eine Politik des Beispiels für eine Demokratisierung unserer Welt.