Rede von
Franz
Lenze
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich glaube, dann werde ich nicht dazu kommen, meine Ausführungen zu machen. Ich bitte um Entschuldigung.
Nach der Invasion in der Tschechoslowakei wurde darüber diskutiert, in welchem Ausmaß die Bedrohung gewachsen sei, in welchem Ausmaß sie überhaupt wirklich gegeben sei. Dazu hat Herr Kollege Schultz ein paar Bemerkungen gemacht. Er hat dargelegt, daß es bestimmte Faktoren gebe, die die Bedrohung im Grunde genommen herabminderten. Er wies auf das Ausfallen der 16 tschechischen Divisionen und auf gewisse politische Umstände in der Tschechoslowakei hin. Herr Kollege Schultz, ich kann mich zwar dem nicht verschließen, daß das, was Sie sagen, in Erwägung gezogen werden muß, ich glaube aber nicht, daß es die Frage der Bedrohung in einer entscheidenden Weise beeinflußt. Mir scheint folgendes eindeutig zu sein: Wer die Invasion in der Tschechoslowakei nur für sich gesondert betrachtet, kommt zu einem Fehlurteil.
Wir müssen in dieser Situation sämtliche Aktionen und Stoßrichtungen der sowjetischen Politik ins Auge fassen. Mit Recht hat mein Freund Zimmermann die Landungsmanöver an der sowjetisch-norwegischen Küste erwähnt. Wir sind alle darüber orientiert, wie der Aufbau der Flotte in der Ostsee immer weiter fortschreitet.
Es ist auch demjenigen, der die Dinge nicht so ernst nimmt, nicht verborgen geblieben, daß die Sechste amerikanische Flotte im Mittelmeer ein Pendant bekommen hat, daß die Zeit vorbei ist, wo man von einem Mare nostro der Europäer sprechen konnte. Das Mittelmeer ist nicht mehr ein Mare nostro der NATO oder der freien Welt, das Mittelmeer ist heute zu einer eminenten Gefahr für die freie Welt geworden.
Sie müssen dabei bedenken, daß der Atlantische Ozean heute mit einer ungeheuren Marine der Sowjetunion erfüllt ist. Das ist den meisten nicht so bekannt, wie es sein müßte. Ich hatte das Glück, vor Ostern in den Vereinigten Staaten zu sein und ein Lagebild über die Anwesenheit der sowjetischen Marine im Atlantischen Ozean zu sehen. Wer dieses Bild gesehen hat, der weiß genau, daß Rotation und Big Lift im Grunde genommen keine reale Möglichkeit kommender Kriegführung sind und daß die Präsenz amerikanischer und alliierter Truppen in keiner Weise und durch nichts ersetzt werden kann.
Ich möchte weiter darauf hinweisen, daß die Doktrin, die wir als Moskauer Doktrin bezeichnen, das Interventionsrecht in den sozialistischen Staaten, er-
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gänzt wird durch eine — jetzt sage ich nicht Doktrin — Propaganda von außerordentlicher Wirksamkeit. Mit dieser Moskauer Doktrin korrespondiert der Ruf: Das Mittelmeer gehört den Europäern! Heraus mit den Amerikanern aus dem Mittelmeer! Wer glauben sollte, daß dieser Ruf nach der Entfernung der' Amerikaner aus dem Mittelmeer eine vorübergehende Angelegenheit sein wird, wird sich in Zukunft. belehren lassen müssen. Wir haben in der Vergangenheit den Versuch erlebt, die Bundesrepublik zu isolieren durch Diffamierung und Vorwürfe, wir seien Revanchisten und Militaristen. Heute besteht nicht nur das Bestreben, die Deutschen zu isolieren, das Bestreben geht vielmehr dahin, Europa von den Amerikanern zu isolieren. Wir werden in Zukunft auf diesem Wege ganz bedeutende Tatbestände zu verzeichnen haben. Ich will kein Prophet sein: die Zukunft wird es unter Beweis stellen. Derjenige, der — ich will einmal sagen — zu schnell von einem europäischen Sicherheitssystem in der heutigen Lage spricht, muß sich darüber klar sein: Europa den Europäern, europäisches Sicherheitssystem, das bedeutet in der heutigen und in der kommenden Situation eine absolute Hegemonie der Sowjets in Europa.
Es kann kein Zweifel daran sein, daß der Schutz der Bundesrepublik und Westeuropas im Grunde genommen nur durch die NATO gegeben ist, und zwar durch eine einheitliche, geschlossene und starke NATO. Wir können nicht aus einer Position der Schwäche heraus verhandeln. Wir wollen verhandeln, wir wollen so lange verhandeln, bis die politischen Probleme gelöst sind. Wer aber am Verhandlungstisch sitzt, kann mit Erfolg nur verhandeln, wenn er dort ernst genommen wird. Leider war es in der Vergangenheit so, daß der Verhandlungspartner freie Welt nicht so ernst genommen worden ist, wie es nötig gewesen wäre. Das war nicht die Schuld der Sowjets, das war unsere eigene Schuld. Man sollte daraus die Konsequenzen ziehen.
Wer diese Stoßrichtung, Aktionen, Doktrinen und diese Propaganda insgesamt als ein geschlossenes Ganzes betrachtet, weiß, wie hoch und wie schwer und wie gefahrenvoll die Bedrohung heute ist. Herr Kollege Schultz hat verschiedene Dinge erwähnt, mit denen ich persönlich in keiner Weise einverstanden sein kann, mit einem Punkt bin ich einverstanden: Für mich persönlich war die Besetzung auch keine Überraschung, sondern sie lag absolut in der Logik der sowjetischen Strategie und Doktrin; es war kein Zweifel, daß Rußland nicht dabei zusehen würde, daß seine sogenannte sowjetische Ordnung gestört wird. Ich will das nicht im einzelnen schildern, weil es zu weit führen würde. Für mich stellte es keine Überraschung dar, für mich war es nicht unberechenbar. Ich hatte seit Jahren im Plenum der Westeuropäischen Union auf diese Dinge hingewiesen, besonders darauf, daß die Entspannungspolitik uns insbesondere vor folgendes Problem stellt. Es ist kein Zweifel daran, daß der Wille zur Verteidigung, der Wille zur Abwehr in der Bundesrepublik und in den anderen westeuropäischen Staaten erheblich geschwächt worden war. Ohne Zweifel hing es auch damit zusammen, daß in dem Gefühl der allgemeinen Entspannung viele Menschen zu der Überzeugung gekommen waren, es sei doch in Wirklichkeit nicht mehr so nötig, eine NATO zu haben, eine starke Bundeswehr zu haben;
die Dinge seien im Grunde genommen alle politisch lösbar. Diese Illusionen und Utopien sind alle zerstoben.
Das heißt nicht, daß wir die Friedenspolitik nicht fortsetzen. Deutsche Außenpolitik kann nur den Frieden wollen. Aber wer von Entspannung spricht, muß wissen: sobald er an die Wurzel der Spannung geht — und Entspannung ist doch nur notwendig, wenn Spannung da ist — und diese Wurzeln und Ursachen der Spannung beseitigen will, stößt er in demselben Augenblick an eine Stelle, wo der Osten in entsprechender Weise in Erscheinung tritt. Das haben wir erlebt. Darüber muß man sich klar sein.
Sie haben dann Ausführungen zur Vorwarnzeit gemacht. Die politische Vorwarnzeit, Herr Kollege Schultz, ist eine Frage für sich. Die Nationalsozialisten haben den Völkern in Westeuropa damals fünf, sechs Jahre Zeit gelassen, und die Völker haben diese politische Vorwarnzeit nicht begriffen und nicht die nötigen Konsequenzen gezogen.
Die strategische Vorwarnzeit, Herr Kollege Schultz, ist praktisch auch ad acta gelegt. Es handelt sich nur noch um die Frage der taktischen Vorwarnzeit. Entscheidend sind nicht die Divisionen in der Tschechoslowakei, über die man gesprochen hat, ob zehn, ob zwölf oder weiß Gott wieviel. Das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist die Position, die sie bezogen haben, von der aus sie mit einer ungeheuren Schnelligkeit eine attaque par surprise, einen Überraschungsangriff, starten können,
und zwar in einer so ungewöhnlich kurzen Zeit, daß jeder, der diese Dinge einigermaßen überschaut, davon erschreckt sein muß.
Nun lassen Sie mich etwas zu Ihrer konventionellen und atomaren Politik sagen. Ich muß Ihnen da eines offen sagen: ich sehe überhaupt keine Logik in dem, was Sie ausgeführt haben,
und ich will versuchen, das zu beweisen. Nach dieser Invasion in der Tschechoslowakei hat die NATO ihre flexible response nach wie vor bekräftigt. Sie ist dazu übergegangen, die Frage der konventionellen Verteidigung zu erwägen und eine Verstärkung der konventionellen Truppe in Betracht zu ziehen. Aber warum, Herr Kollege Schultz? Ich hatte Gelegenheit, mit dem Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses der französischen Nationalversammlung, dem Abgeordneten Sanguinetti, zu sprechen. Herr Sanguinetti sagte: Der Konflikt in der Tschechoslowakei ist ein interner Konflikt; Begründung: im
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Grunde genommen hat sich in bezug auf die einzig mögliche Verteidigung der freien westlichen Welt, nämlich die nukleare Verteidigung, nichts geändert. — Eine außerordentlich interessante Begründung. Herr Kollege Draeger war dabei, als diese Dinge ausgeführt und diskutiert wurden.
Was soll das heißen, Herr Kollege Schultz? Das heißt, wenn Sie eine konventionelle Verteidigung aufbauen, die auf jeden Fall in der Lage ist, dem konventionellen Angriff wirkungsvoll und lange Zeit Widerstand zu leisten, dann müssen wir eine konventionelle Truppe und Organisation aufbauen, die über den Willen und die Kraft der westlichen Welt hinausgeht, wahrscheinlich hauptsächlich über den Willen der westlichen Welt hinausgeht.
Wenn Sie aber eine so starke konventionelle Verteidigung aufgebaut haben, daß Sie dem gewachsen sind, ist damit die Gefahr des Krieges ins Unermeßliche gesteigert worden, da dann natürlich die Frage der Abschreckung nicht mehr die Rolle spielt, die sie bisher spielt,
da die Abschreckung auf der Stabilität des Atomzeitalters beruht, nicht auf den konventionellen Truppen. Sie beruht auf der nuklearen Abwehr und auf nichts anderem. Wenn Sie dazu übergehen, die atomare Stabilität zu zertrümmern, dann machen Sie den Krieg wieder möglich. Unsere Politik war immer darauf gerichtet, den Krieg zu verhindern, heute, morgen und in alle Ewigkeit. Wir wollen lieber hundert Jahre verhandeln als einen Tag Krieg führen, Aber wenn wir verhandeln wollen, dann müssen wir so stark sein, daß wir überhaupt wirkungsvoll verhandeln können
und daß das unkalkulierbare Risiko bestehenbleibt.
— Ja, ich habe Sie begriffen. Sie wollen sagen: Wir wollen die Arbeitsteilung im Bündnis;
wir lehnen die Dinge ja nicht ab. Nun, was die Arbeitsteilung im Bündnis angeht, halte ich das für ein absolut sekundäres Problem. Im Grunde verschleiern Sie damit Ihre eigene Einstellung. Im Grunde genommen steht für Sie das Konventionelle überhaupt in einem ganz besonderen Sinne im Vordergrund, und Sie gehen nicht primär von der Abschreckung aus, sondern von anderen Gesichtspunkten. Deswegen glaube ich, das Problem sollte noch ganz tief und lange durchdacht werden. Ich hoffe, daß wir darüber gelegentlich noch eine längere Diskussion haben können.
Sie haben ein Wort gebraucht, das ich entschieden zurückweisen muß. Sie haben vom „atomaren Ehrgeiz" gesprochen. Diese Bundesrepublik hat niemals atomaren Ehrgeiz gehabt.
Das ist eine Sprache, die man hier nicht sprechen kann; die können andere sprechen. Aber auf uns trifft es in keiner Weise zu. Das gehört mit zu der Verleumdungskampagne, die eine andere Seite gegen uns entfesselt hat.
— Lieber Herr Kollege Schultz, wir haben nur den Ehrgeiz, den Frieden zu gewinnen, nichts anderes. Wir wollen allerdings auch so stark sein, daß wir den Frieden gewinnen können.
Ein einziges Wort noch zu den Finanzfragen — ich habe das in Paris schon öfter ausgeführt —: Natürlich sind wir uns alle darüber klar, daß die Finanzen eine entscheidende Rolle spielen. Es gibt aber eine Möglichkeit, ohne einen erhöhten Finanzaufwand voranzukommen: gemeinsame Produktion, gemeinsame Entwicklung, gemeinsame Forschung innerhalb der NATO, innerhalb der freien Welt. Dann kämen wir zu einer Verbilligung. Dann hätten wir nicht nur billigere Waffen, sondern auch bessere Waffen. Der Warschauer Pakt hat die totale Integration und die totale Standardisierung. Wenn man das hört und überlegt, wie es bei uns ist, dann kommen einem nicht nur Bedenken, sondern dann hat man außergewöhnlich große Sorgen. Die deutsche Politik hat aber gerade in der Frage der Standardisierung, der gemeinsamen Forschung, Entwicklung und Produktion ganz Hervorragendes geleistet. Die Bundesregierung hat sich immer bemüht, auf diesem Sektor geradezu beispielhaft voranzugehen. Es ist ihr nicht immer gelungen. Wir dürfen sie vielleicht an dieser Stelle auffordern, diese Bemühungen weiter fortzusetzen und damit dazu beizutragen, daß wir in Westeuropa, in der WEU und in der NATO auf diesem Gebiet zu größeren Erfolgen kommen.
Zum Schluß möchte ich nur noch eines sagen: Man hat viel davon gesprochen, daß man in der NATO eine bipolare Organisation aufbauen sollte, d. h. die Westeuropäer sollten sich mehr zusammenschließen, sollten sich mehr organisieren und sollten mehr im Hinblick auf Europa in der NATO Politik treiben und ihre Bemühungen unternehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin einer derjenigen, die außerordentlich daran interessiert sind, daß die europäische Komponente in der NATO gestärkt wird. Aber ich mache auch kein Hehl daraus, die Stärkung dieser europäischen Komponente darf niemals dazu führen, daß die Vereinigten Staaten sich von der NATO und von Europa entfernen. Nur eine Zusammenarbeit der Westeuropäer und der Vereinigten Staaten kann hier zu einem vollen Erfolg führen.
Als die Invasion in der Tschechoslowakei vorübergegangen war, geschah auf der Konferenz am 16. November etwas Ungewöhnliches und Unerhörtes.
— Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. — Da geschah etwas Ungewöhnliches: Der französische Außenminister Debré erklärte, daß der Wille zur Verteidigung im Grunde genommen nur 'auf dem
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Hintergrund der Organisation der NATO möglich sei.
Meine Damen, meine Herren, wenn ein französischer Außenminister von der Art des Herrn Debré zu )dieser Überzeugung kommt, dann habe ich dem nichts hinzuzufügen. Jawohl, wir sind alle der Auffassung, die Sicherheit der Bundesrepublik wird letzten. Endes nur durch eines gewährleistet: durch die Einheit und Geschlossenheit des Nordatlantikpaktes.