Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schultz.
Schultz (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beschränkung der Redezeit auf eine halbe Stunde für den ersten Redner einer Fraktion läßt es leider nicht zu, auf das einzugehen, was bisher vom Kollegen Zimmermann und auch vom Kollegen Berkhan gesagt worden ist, es sei denn mit dem einen oder anderen Schlenker. Ich möchte nur fragen: ist das dann die farbige Debatte, die Sie hier haben wollen? Ich muß mich also hier darauf beschränken, — —
— An sich ist es nützlicher, wenn man es gleich sagt, statt dann nach sechs oder sieben Rednern mit den alten Kamellen anzufangen.
Ich muß mich also darauf beschränken, auf die Erklärung der Bundesregierung einzugehen und noch einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf zu machen, den wir Ihnen heute vorgelegt haben, wobei ich es nicht gerade außerordentlich fair von dem Herrn Kollegen Rösing fand, daß er durch seinen Widerspruch verhindert hat, daß das, was zu diesem Gesetzentwurf sachlich dazugehört, mit auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
Aber das nur nebenbei.
Der Herr Verteidigungsminister hat an den Beginn seiner Erklärungen eine Lagebeurteilung gestellt, in der er zu dem Schluß kommt, die militärische Lage habe sich seit dem Einmarsch der Sowjets in die CSSR entscheidend zu unseren Lasten verschlechtert, da jetzt zehn sowjetische Divisionen mehr als vorher westlich der Weichsel stünden. Herr Zimmermann war inzwischen auf 15 gekommen. Selbst wenn ich die Zahl des Verteidigungsministers nicht in Zweifel ziehe — wir haben in den vergangenen Wochen sehr verschiedene Zahlen gehört —, meine ich, daß man bei dieser Lagebeurteilung noch einiges berücksichtigen muß, was der Herr Verteidigungsminister hier nicht ausgesprochen hat.
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Schultz
Der Minister verliert z. B. kein Wort darüber, daß die tschechoslowakischen Divisionen als Faktor der militärischen Potenz des Warschauer Paktes zur Zeit praktisch ausgefallen sind. Das kann sich selbstverständlich wieder ändern. Wir können also ihre Kampfkraft durchaus von dem jetzt in der CSSR stationierten militärischen Potential der Sowjets abziehen. Das gilt selbst dann, wenn man den Divisionen der Verbündeten der Sowjets schon vor dem August 1968 einen geringeren Kampfwert zugemessen hat. Darüber hinaus muß, glaube ich, auch gesagt werden, daß nicht nur die praktisch ausgefallenen CSSR-Verbände ersetzt werden müssen, sondern daß es auch wohl eine der wichtigsten Aufgaben der sowjetischen Truppen in der CSSR ist, das Land in sich in dem Zustand zu halten oder es wieder in den Zustand zu bringen, den die Sowjets dort haben möchten.
Ich meine — hier kommt der Schlenker —, daß die lapidare Bemerkung des Herrn Kollegen Zimmermann, es gebe keinen Polyzentrismus im Ostblock — so etwa hat er sich ausgedrückt —, einfach nicht haltbar ist. Das muß man schon noch etwas differenzierter betrachten.
Lassen Sie mich auch etwas zu der Frage der Vorwarnzeit sagen, mit der wir im Falle eines Angriffs aus dem Osten rechnen könnten. Diese Frage hat alle militärischen Fachleute immer bewegt; sie hat insbesondere auch die NATO immer bewegt. Die Schätzungen schwanken zwischen wenigen Stunden und zwei bis drei Wochen Vorwarnzeit. Ich meine aber doch, daß der Gedanke, der sich in NATO-Kreisen durchgesetzt hat, daß man von einer Vorwarnzeit ausgehen und mit ihr rechnen könne, richtig ist. Dieser Gedanke hat sich zu Recht durchgesetzt. Auch nach den Ereignissen des 21. August kann man nicht sagen: das stimmt nicht mehr. Denn gerade dem Angriff der Sowjetunion auf den Bündnispartner CSSR ist eine außerordentlich lange Vorwarnzeit vorausgegangen. Niemand kann sagen, daß die Besetzung dieses Landes überraschend gekommen ist. Die endgültige Auslösung der militärischen Aktion kam allerdings sehr schnell und überraschend; aber eine politische Vorwarnzeit war ohne Zweifel vorhanden.
Ich meine, daß es bei der Frage der Vorwarnzeit nur darauf ankommt, ob der Politiker bereit ist, diese auch zu nutzen bzw. die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Das ist nämlich der entscheidende Punkt.
— Selbstverständlich ohne zu eskalieren!
— Das Problem ist gar nicht so schwierig. Aber ich will nicht auf Zwischenrufe eingehen.
Wir können also nach wie vor damit rechnen, daß auch bei einem Angriff auf die NATO eine Vorwarnzeit gegeben ist, d. h. daß einem solchen Angriff eine Spannungszeit vorausginge, in der dann natürlich die entsprechenden Maßnahmen ergriffen werden müßten. Ich meine damit, daß man diese Zeit jedenfalls zur Mobilisierung von Kräften nutzen
könnte. Wir können davon ausgehen, daß auch ein Angriff auf uns immer einer entsprechend langen Vorbereitungszeit bedürfte. Diese Erkenntnis scheint mir wichtig zu sein, wenn man über die Frage der Mobilisierung von Reserven spricht.
Ich möchte nun mit dieser Kritik an der Lagebeurteilung des Verteidigungsministers oder mit diesen Zusätzen nicht etwa der Sorglosigkeit das Wort reden. Ich möchte nur davor warnen, daß man die Argumente zu einseitig setzt. Schließlich ist ein Experte wie etwa der General Graf Kielmannsegg und ist auch der britische Verteidigungsminister Healey der Ansicht, daß unsere Sicherheit heute nicht wesentlich bedrohter sei als vor der Invasion.
Wir Freien Demokraten vertreten nun ein Wehrkonzept — wir haben es übrigens schon seit mehreren Jahren getan —, das wir auf Grund der Ereignisse dieses Jahres nicht zu ändern brauchten. Wir haben schon immer eine Ausstattung der Bundeswehr gefordert, die es gerade bei Überfällen konventioneller Art, wie die CSSR ihn erlebt hat, gestattet, uns mit Aussicht auf Erfolg zu verteidigen. Die Bundesregierung muß sich jetzt erst mühsam zu der Erkenntnis durchringen, daß die atomare Ausstattung der Bundeswehr in einem solchen Fall keinen wirksamen Schutz gewährt. An meiner Beurteilung der Lage ändert auch das nichts, was vorhin der Kollege Zimmermann gesagt hat. Das war eigentlich schon lange vorher klar und wurde, wie ich meine, durch die Ereignisse des 21. August nur unterstrichen. Aber die Bundesregierung hat ja bisher die Augen vor solchen Erkenntnissen beharrlich verschlossen, und mir scheint, auch jetzt blinzelt sie nur etwas in die Richtung.
Nun haben der Herr Verteidigungsminister und der Herr Außenminister eine Erklärung abgegeben. Es stellt sich die Frage, ob die beiden Erklärungen miteinander in Einklang zu bringen sind. Wenn der Herr Außenminister ausführt, daß die Bundesregierung ebensowenig wie ihre Verbündeten die Absicht hat, einen neuen Rüstungswettlauf einzuleiten, und der Herr Verteidigungsminister wie üblich „mit großem Ernst" an dieses Hohe Haus appelliert, den von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen auf dem Verteidigungsgebiet, die innerhalb der nächsten vier Jahre einen Mehraufwand von 2,5 Milliarden DM zusätzlich zu den an sich schon steigenden Verteidigungsausgaben im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung erfordern, zuzustimmen, paßt das, wie ich meine, irgendwie nicht ganz zueinander. Die Forderung des Ministers Schröder bedeutet ein Mehr von etwa 2 1/2 gegenüber der Vorausschätzung der mittelfristigen Finanzplanung. Mir scheint, das ist eine ganze Menge, wenn man die anderen Aufgaben des Staates betrachtet, die erfüllt werden müssen und die ursächlich auch mit unserer Sicherheit zusammenhängen.
Wenn Herr Kollege Zimmermann sagt: Die Bevölkerung wünscht Sicherheit, und sie wird dafür bezahlen, stimme ich dem vielleicht zu, aber ich meine, mit Geld allein kann man das eben nicht alles leisten.
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Dann müßte man eine Berufsarmee von 460 000 Mann aufstellen, und diese Armee ist natürlich mit den 2,5 Milliarden DM nicht aufzustellen. Da spielen also noch andere Dinge eine Rolle.
Ich möchte jetzt auf etwas, was in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, eingehen. Diese Mehrforderung erhält nämlich in einem ungünstigen Sinne, so möchte ich sagen, noch mehr Gewicht dadurch, daß mit keinem Wort von Mehrausgaben für zivile Verteidigung und zivilen Bevölkerungsschutz die Rede ist.
Dabei weiß jeder in diesem Hause und auch jeder außerhalb, daß wir leider auf dieser Seite der Sicherheitsmedaille ein klares und sauberes Bild nicht erblicken können. Wenn also mehr Geld zur Verfügung gestellt werden soll: wo bleibt die Koordination der militärischen und zivilen Verteidigung der Finanzplanung? Wo ist in Iden Erklärungen der Bundesregierung zu erkennen, wie man den potentiellen Gegner in Zukunft abschrecken und unser Land im Falle eines Angriffs wirksam verteidigen will? Ist es nicht vielmehr erschreckend, meine Damen und Herren, daß man, nachdem die Bundeswehr 13 Jahre besteht und rund 180 Milliarden DM dafür ausgegeben worden sind, nach neuen Milliarden rufen muß, um nunmehr ganz sicher und endgültig die Mängel in unserer Verteidigung abzustellen?
— Ich sage das! Wäre es nicht sehr viel vernünftiger und auch im Sinne des Außenministers undramatischer, wenn man zunächst nach den Gründen für dieses Versagen suchte?
Ich möchte einige wichtige Gründe aufzählen. Seit spätestens Anfang der 60er Jahre war erkennbar, daß die NATO-Doktrin ,der massiven Vergeltung mit atomaren Waffen natürlich durch eine beweglichere Doktrin abgelöst werden würde. Mit anderen Worten, es war erkennbar, daß den herkömmlichen Waffen wieder ein größeres Gewicht zugemessen werden mußte; denn mit dem technischen Durchbruch der Sowjetunion zur Wasserstoffbombe und mit dem ersten Sputnik war ein neues Zeitalter angebrochen. Diese Entwicklung fand im Mai 1967 in der Änderung der NATO-Doktrin ihren Niederschlag. Es kam zu einer Konzeption der flexiblen Reaktion. Auf einen Angriff soll mit den jeweils nötigen und ausreichenden Mitteln geantwortet werden. Die Verteidigungsminister der damaligen Regierungen haben jedoch keine Konsequenzen gezogen. Sie haben die Ausrüstung der Bundeswehr mit konventionellen Waffen nicht verstärkt vorangetrieben — das soll jetzt alles nachgeholt werden —, sondern sie haben am atomaren Ehrgeiz festgehalten. Nicht einmal unsere maßvollen Vorstellungen, die wir im Jahre 1964 hier im Bundestag ausbreiteten, fanden Gnade vor den Augen der Bundesregierung, der wir selber angehörten.
Zweitens. Aber selbst nachdem diese NATO-Doktrin geändert worden war — wie wir meinen, vernünftig und richtig —, konnte sich die Regierung
der Großen Koalition nicht zu einer neuen Konzeption durchringen. Die beharrenden konservativen Kräfte blieben stärker. Noch in der Verteidigungsdebatte vom 6. und 7. Dezember 1967 vertrat der Verteidigungsminister, wie vorhin von Herrn Berkhan angeschnitten wurde, die Konzeption von dem ausgewogenen Verteidigungsbeitrag der atomaren und der konventionellen Komponente, wobei in der konventionellen Komponente noch allerhand zu prüfen war.
Unsere Forderung nach einer Arbeitsteilung im Bündnis bezüglich der atomaren und der konventionellen Komponente wurde als unrealistisch und sicherheitsgefährdend mit den abgenutzten Argumenten der früheren Jahre verworfen. Diese Argumente sind soeben vom Kollegen Zimmermann wiederholt worden; seine Auffassung ist durch sein Eintreten für die Beschaffung der zweiten Generation der Pershing klargeworden.
Nun muß ich trotzdem fragen: Soll ich es heute als einen Fortschritt werten, wenn Minister Schröder an einer Stelle seiner Rede sagte — ich zitiere —: „Die Bündnispartner halten auch künftig eine ausgewogene konventionelle und nukleare Verteidigungsmöglichkeit der NATO für notwendig"? Ist das ein Schritt in unsere Richtung, in die Richtung der Freien Demokraten, in die richtige Richtung? Liegt die Betonung auf NATO? Dann würden wir das auch unterschreiben, was da gesagt worden ist.
Ich frage nämlich: Ist die Bundesregierung endlich bereit — und sind es auch die Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion —, die Umkehr der Schild-und-Schwert-Theorie der 50er .Jahre als eine heute feststehende Tatsache zu akzeptieren? Zu Ihrer Erinnerung: In den 50er Jahren galten als das Schwert in der Verteidigung die ABC-Waffen, als das Schild zum Schutz des Schwerts die konventionellen Streitkräfte. Nebenbei: Bevor diese konventionellen Streitkräfie zum Schild avanciert sind, waren es Stolperdrähte in den Augen der Strategen. Heute haben die ABC-Waffen überwiegend eine politische Bedeutung als letztes Mittel des Staatsmannes, den Gegner vom letzten militärischen Engagement abzuhalten, während das Schwert der konventionellen Streitkräfte gern zur Nachhilfe bei politischen Aktionen benutzt wird, selbst wenn es in der Scheide gelassen wird.
Mit anderen Worten, sieht die Bundesregierung ein, daß das Festhalten an atomaren Trägerwaffen für die Bundeswehr eine Vergeudung von Geld ist, das uns zur Verbesserung der konventionellen Ausstattung fehlt?
Drittens. Die Änderung der NATO-Doktrin hat unausweichlich auch Änderungen der Strategie zur Folge. Die massive Vergeltung erforderte ein Mindestmaß aller aus dem Stand heraus zum Kampf bereiten präsenten Streitkräfte. Auf Reserven in nennenswertem Umfang konnte verzichtet werden. Die Doktrin der beweglichen Antwort erfordert und macht den Rückgriff auf Reserven möglich. Das heißt,
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daß Mobilisierung von Reserven auch in die Streitkräftestruktur eingebaut werden kann und muß.
Hierher gehört die Frage, ob es die Bundesregierung mit der Einberufung einiger Reservisten genug sein lassen will oder ob sie die menschliche und wirtschaftliche Kraft dieses Landes durch eine verbesserte, entscheidungsfreudigere Wehrersatzorganisation besser ausnutzen will. Dazu gehört auch die geplante Zusammenlegung der Territorialverteidigung mit dem Heer zu den Landstreitkräften. Darum ist es recht still geworden. Prüft die Bundesregierung immer noch etwas, was von ihr an sich schon einmal als notwendig und richtig erkannt worden ist?
Für die bodenständige Heimatverteidigung würde auch eine kürzere Ausbildungszeit genügen. Warum wird eigentlich nicht von dem Institut des verkürzten Grundwehrdienstes Gebrauch gemacht, das im Wehrpflichtgesetz vorgesehen ist? Das würde ohne Zweifel der Wehrgerechtigkeit dienen und, was nach meiner Auffassung viel wichtiger ist, den Blick unserer Mitbürger für die Möglichkeiten einer aussichtsreichen Verteidigung unseres Landes schärfen.
Die Bundesregierung richtet ihren Blick immer nur auf die präsenten Streitkräfte und übersieht, daß in unserer Lage die Frage schneller Mobilisierung als Element der Abschreckung und Ausdruck unseres Selbstbehauptungswillens von entscheidender Bedeutung ist. Sie denkt seltsamerweise in Kategorien der USA-Führungsmacht in der NATO, die ein Expeditionskorps unterhalten muß und für die deshalb nur zählen kann, was an Streitkräften präsent ist.
Viertens. Ich unterstreiche ein Wort, das Minister Schröder gesagt hat: „Der Wille zur Verteidigung des Landes kann sich für die Offentlichkeit, für die politischen Parteien und für die parlamentarischen Gremien nicht in der Bereitstellung materieller Mittel erschöpfen. Der Verteidigungswille muß in unserer Öffentlichkeit lebendig sein." Ich möchte sagen, das ist das zentrale Problem, das der Minister hier angesprochen hat. Ich bin ihm dankbar dafür, daß er dieses Wort einmal hier gesagt hat.
Aber wenn wir fragen, was von diesem Verteidigungswillen lebendig ist, dann müssen wir sagen: wenig! Warum? Weil von der Offentlichkeit, wie ich meine, nach wie vor die Wirksamkeit der Streitkräfte in Zweifel gezogen wird für den Fall, daß die Abschreckung versagt und es zur Austragung des Konfliktes kommen sollte. Daran ändern seltsamerweise auch die Atomträgerwaffen der Bundeswehr nichts. Die Bevölkerung hat nach wie vor das Gefühl, daß wir zwar eine Bundeswehr besitzen, daß sie aber nicht mehr als ein Beitrag dazu ist — und auch nicht als mehr gesehen wird —, daß das Bündnis NATO für uns seine Schutzfunktion weiter ausübt und die alliierten Truppen in der Bundesrepublik verbleiben.
Sie sieht in ihr nur die politische Funktion, nicht die verteidigungspolitische. — Ich gebe das weder, lieber Kollege van Delden, was ich soundso oft draußen in den Versammlungen hören muß und wo ich
dann Mühe habe, mich dagegen zu behaupten und das, was notwendig ist, zu sagen.