Das mag so gewesen sein. Ich kenne die Geheimnisse des Kabinetts nicht. Jedenfalls hat das Kabinett, das aus Vertretern der beiden damaligen Koalitionspartner bestand, nicht von dem Art. 113 Gebrauch gemacht. — Kein Abgeordneter, meine Damen und Herren, wird über eine Bestimmung besonders beglückt sein, die etwa so lautet wie der Art. 40 der französischen Verfassung von 1958. Ich will ihn kurz zur Kenntnis bringen:
Gesetzesanträge und Änderungsvorschläge, die durch das Parlament vorgebracht werden, sind unzulässig, wenn ihre Verabschiedung eine Minderung der Einnahmen oder eine Erhöhung der Ausgaben bzw. eine Schaffung neuer Ausgabelasten zur Folge hätte.
Eine solche Selbstbeschränkung des Parlaments kann auf der anderen Seite bis zur Lähmung führen. Aber wir dürfen auch nicht verkennen, daß damit in Frankreich zum erstenmal seit langen Jahren die Stabilisierung des Etats gelang, während bei uns der als Wunderwaffe gepriesene Art. 113 wegen seines nachträglichen Vetorechts völlig versagte.
Um so mehr begrüßen wir, daß die Bundesregierung die Initiative einiger unserer Kollegen gebilligt hat, in diesem Punkte die Geschäftsordnung des Bundestages praktikabler und wirksamer zu gestalten. Seit Jahresfrist schlummern diese wohlüberlegten Anträge in diesem Hause — ich hoffe, nicht einem ewigen Schlaf entgegen. Sie schlummern aber sicherlich weiter, wenn wir sie nicht brüsk wieder zum Leben erwecken.
Wir werden sorgfältig überlegen müssen, wo wir eine vernünftige und praktikable Mitte zwischen einer wirkungslosen Verfasungsvorschrift und einem rigorosen Stop finden. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist durch viele Erfahrungen wohl begründet. Das Beste wäre jedenfalls, das Parlament würde zu seiner ursprünglichen Aufgabe zurückkehren und seinerseits die Ausgabenfreudigkeit der Regierung beschneiden. Dann wären wir der unangenehmen Pflicht enthoben, der Regierung ein Mittel gegen die Ausgabenfreudigkeit des Parlaments in die Hand geben zu müssen.
3748 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Dezember 1966
Dr. Pohle
Damit, meine Damen und Herren, sind wir an einer Stelle, wo sich der Kreis zwischen öffentlichen Ausgaben, Bundesbankpolitik und Wirtschaft schließt. Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland treffen in der Wirtschaft strukturelle und konjunkturelle Schwierigkeiten zusammen. In diesem Zusamenhang wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die Restriktionspolitik der Bundesbank notwendig war oder nicht. Ich sage — und ich sage es auch als jemand, der der Wirtschaft nicht ganz fremd ist —: Die Restriktionspolitik der Bundesbank war notwendig,
weil das Überborden der öffentlichen Ausgaben und das chronische Ungleichgewicht am Arbeitsmarkt gefährliche inflationäre Tendenzen brachten. Erfolge der Restriktionspolitik sind deutlich sichtbar in der Beruhigung des Preisauftriebs, im Vermeiden überzogener Expansionsimpulse der öffentlichen Hand 1966, in einer besseren Koordinierung der Inanspruchnahme des Kapitalmarktes seitens der öffentlichen Haushalte 1966, in der Vermeidung eines Überschlagens der Konjunktur, last not least im Ausgleich der Zahlungsbilanz.
Auf anderen und besonders wichtigen Gebieten konnte die Bundesbank, weil ihre Möglichkeiten institutionell begrenzt sind, Fehlentwicklungen nicht verhindern. Als Fehlentwicklung bezeichne ich erstens das bereits behandelte Entstehen von Deckungslücken in den Bundeshaushalten ab 1966, die 1966 bekanntlich nur durch das Haushaltssicherungsgesetz und den Nachtragshaushalt 1966 ausgeglichen werden konnten oder sollen, zweitens das Ansteigen von Einkommensübertragungen und Personalausgaben, vor allem bei Ländern und Gemeinden, um 12,2 % im Jahre 1966 gegenüber einer Zunahme der Direktinvestitionen von nur 5 %, drittens das Ausmaß der Lohnerhöhungen, das 1965 mit 10,4 %, 1966 mit 8 % jeweils doppelt so hoch war wie die gleichzeitige Zuwachsrate der Produktivität mit nur 5 % und 4 %, viertens die weiterhin unzureichende und in jüngster Zeit zusätzlich bedrohte Eigenkapitalbasis der deutschen Wirtschaft. Sie steht den Kapitalgesellschaften der führenden westlichen Industrieländer, die mit 2/3 Eigenkapital und 1/3 Fremdkapital arbeiten können, mit einer genau umgekehrten Kapitalausstattung gegenüber.
Gerade in der gegenwärtigen Wirtschaftslage werden die Gefahren aus diesen vier Punkten deutlich. Die deutsche Wirtschaft muß in die Lage versetzt werden, konjunkturelle Schlechtwetterperioden aus eigener Kraft zu bestehen. Wir wissen auch sehr genau, wie wir dieses Ziel erreichen werden. Wir werden es nicht erreichen mit einer Wirtschaftspolitik, die sich nur an Einzelfragen orientiert, und wir werden es nicht erreichen mit einer Konjunkturpolitik, die nur darauf zielt, das Kind aus dem Brunnen zu holen, nachdem es erst einmal hineingefallen ist. Das Ergebnis solcher Handlungen wäre eine Schaukelpolitik, die uns viel mehr in die Gefahr des Dirigismus brächte als eine vorausschauende Wirtschaftspolitik. Wir müssen uns bemühen, auf gesetzgeberischem Wege Instrumente zur Lösung möglicher Konfliktsituationen vorsorgend bereitzustellen. Deshalb begrüßen wir nach wie vor das Stabilitätsgesetz, das wir schnellstens verabschieden müssen.
Das kann aber nach Lage der Dinge nur ein Anfang sein.
Es ist aber auch nicht richtig, daß die Notenbank alle Schwierigkeiten beseitigen kann, wenn sie nur den Kredithahn öffnet, und nicht zu Unrecht weist der Bundesbankpräsident darauf hin, man könne von der Bundesbank nicht erwarten, daß sie die Erfolge ihrer Maßnahmen in Frage stelle. Sie ist deshalb nicht bereit, von heute auf morgen Haushaltsdefizite zu finanzieren oder den Lohn- und Preisauftrieb zu fördern. Zwei Faktoren verhindern nämlich in der modernen Wirtschaft, daß eine noch so gut gemeinte Restriktionspolitik der Notenbank richtig wirkt: die Ausgaben des Staates und die Vereinbarungen der Sozialpartner. An diesen beiden Stellen muß die Kritik einhaken; an diesen beiden Stellen müssen Konsequenzen gezogen werden.
Über die Haushaltspolitik und das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung habe ich mich schon geäußert. Ich will auch den zweiten neuralgischen Punkt, dem der Einordnung der Tarifautonomie, nicht ausweichen. Er ist bereits angesprochen worden.
Wir sind uns zweifellos alle darüber einig, daß jede Stabilitätspolitik zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie den entscheidend wichtigen Bereich der Löhne und damit der Masseneinkommen und der Preise außer acht läßt. Ich begrüße es daher, daß die Regierungserklärung dringlicher und deutlicher als jedes frühere entsprechende Dokument auch zu dieser Frage Stellung genommen hat. Ich meine, wir alle sollten die Regierung bei ihrem Vorhaben unterstützen, sofort den autonomen Tarifpartnern Orientierungsdaten zur Verfügung zu stellen und sie mit ihnen mit dem Ziel einer „konzertierten Aktion" zu erörtern. An dieser Stelle wird maßgeblich über den Erfolg oder Mißerfolg der anzustrebenden Wachstumspolitik auf gesunder Grundlage entschieden.
Niemand will die Tarifautonomie abschaffen. Aber nur Böswillige können die Zusammenhänge zwischen Masseneinkommen und Wirtschaftspolitik leugnen, und nur Böswillige können die Augen davor schließen, daß inzwischen kein anderer Staat von wirtschaftlicher Bedeutung heute noch eine völlig schrankenlose Tarifautonomie zuläßt.
Gerade wenn wir die harten bis zum Lohnstop reichenden Maßnahmen, wie sie etwa das zur Zeit von der Labour Party allein regierte England heute praktizieren muß, vermeiden wollen, müssen wir uns rechtzeitig darüber klar werden, daß nur eine freiwillige Einordnung der Tarifpartner eine ähnliche Entwicklung abwenden kann.
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Dezember 1966 3749