Das ist mir selbstverständlich bekannt, da ich damals an der Schaffung des neuen Wahlrechts beteiligt war und es mir sehr darauf ankam — und etwas anderes war wegen der Festlegung in der Verfassung gar nicht möglich zu tun —, die Landesliste abzuschaffen und mit diesem anderen System eine bessere Verbindung, einen besseren Kontakt zwischen Abgeordnetem und Wahlkreis herbeizuführen. Ich sage das auch nur als Beispiel, um zu zeigen, daß man andere Überlegungen nicht einfach aus der Interessenlage heraus vom Tisch wischen kann. Aus der Interessenlage heraus, meine Damen und Herren, darf man eine solche Vorlage weder negativ noch positiv beurteilen. Man muß sie unter dem Gesichtspunkt beurteilen: kann sie zur Festigung und Stärkung der parlamentarischen Demokratie beitragen oder nicht?
Meine Damen und Herren, Herr Dehler hat einige sehr harte Worte gefunden. Ich habe, als er heute sprach, wieder an Max Weber gedacht und an ,die drei Qualitäten, die Max Weber als für den Politiker entscheidend ansieht: Leidenschaft im Sinne der Sachlichkeit, Verantwortungsgefühl — selbstverständlich beides bei Herrn Dehler vorhanden — und Augenmaß.
Hier gestatten Sie mir ganz leise, vorsichtige Zweifel. Herr Dehler hat gesagt, die SPD war 1949 nicht koalitionswürdig.
— Das halten Sie für freundlich, Herr Starke?
— Daß Sie das mit solchen Zwischenbemerkungen hier bekunden, beruhigt mich bei dem Entschluß, daß sich die SPD doch zur Herbeiführung einer großen Koalition in dieser Situation zusammengefunden hat.
Nicht koalitionswürdig! Vielleicht waren Sie damals noch nicht dabei, Herr Starke. Aber als am 5. März 1933 am Ende der Weimarer Republik zum letztenmal gewählt wurde, da waren die Rudimente der liberalen Partei auf der Reichsliste der SPD zu finden, an der Spitze Herr Reinhold Maier und Herr Lemmer. Auf der Reichsliste der SPD sind Liberale am 5. März 1933 in den Reichstag gerückt. Was dann kam, wissen Sie. Und Sie wissen auch, daß die, die als Sozialdemokraten in diesen letzten Deutschen Reichstag einrückten, ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz gesprochen haben, aber nicht die fünf, die über die Reichsliste der SPD als Liberale in den Deutschen Reichstag hineingekommen sind.
Meine Damen und Herren, dann gab es zwölf bittere Jahre. Das muß man einmal sagen, damit die Dinge hier beim richtigen Namen genannt werden.
Als dann der Zusammenbruch 1945/46 kam, wo waren da die Sozialdemokraten? Wo waren die Gewerkschaften? Sie waren in hervorragendem Maße berufen, mit den Besatzungsmächten zu sprechen und zu verhandeln und, das Recht des geplagten und geschlagenen deutschen Volkes wahren zu helfen.
Da konnte mancher von Ihnen, meine Damen und Herren, noch nicht mitsprechen. Das mache ich Ihnen nicht zum Vorwurf. Ich mache Ihnen zum Vorwurf,
3744 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Dezember 1966
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller
daß Sie davon sprechen, wir seien 1949 nicht koalitionswürdig gewesen,
nur, meine Damen und Herren, weil Sie sich einen Popanz zurechtmachen über die geistige und politische Verfassung dieser Sozialdemokratischen Partei nach dem „Dritten Reich" und nach dem Zusammenbruch am Ende ,des zweiten Weltkriegs.
Meine Damen und Herren, das ist kein Trauma, wie Herr Dehler meinte, aus dem er uns befreien müßte, sondern das ist eine Entwicklung, die anzeigt: In unserer über hundertjährigen Geschichte haben wir uns nie in einer ernsten und wichtigen Situation den Forderungen unseres Volkes verschlossen.
Ich wünschte, das könnte jeder von sich und seiner politischen Arbeit sagen.
Meine Damen und Herren, Herr Dehler hat erklärt, diese Regierung sei die Steigerung passiver Ergebnisse der bisherigen Entwicklung. Ein mutiges Wort! Ich glaube aber nicht, daß jemand, der in den letzten 17 Jahren viele Jahre hindurch die Mitverantwortung in der Bundesregierung getragen hat, uns gegenüber ein solches Wort schon jetzt aussprechen darf; denn wir stehen am Anfang einer neuen Arbeit in einer neuen Koalition. Billigen Sie uns bitte den guten Willen zu, daß wir das Beste aus dieser Koalition und mit dieser Regierung für unser Volk machen möchten!
Herr Dehler hat dann gesagt: Wir werden das Maß setzen. Das beruhigt mich hinsichtlich der Befürchtungen über die Wirkungsfähigkeit der Opposition. Denn nach einem solch stolzen Wort können wir ja wohl beruhigt sein über die Qualität und über die Einwirkungsmöglichkeit der Opposition in diesem Bundestag und bei dieser koalitionspolitischen Situation.
Meine Damen und Herren, selten entsteht Gutes, wenn man zur politischen Wirklichkeit, ihren Realitäten und den Konsequenzen, nur mit schlechtem Gewissen ein halbes Ja sagt. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sagt zu dieser Regierung und zu der in der Regierungserklärung aufgezeigten politischen Konzeption mit einem sich aus der Verantwortung ergebenden guten Gewissen ein klares und ganzes Ja.
Wir wollen unser Teil dazu beitragen, die Unterbilanz in der Aufgabenerfüllung überwinden zu helfen. Herr Dehler begann mit der Bemerkung: „In der Geschichte ist nichts zufällig." Meine Damen und Herren, die Geschichte faßt uns doppelt. Es ist die Geschichte, die hinter uns liegt, die zur Vergangenheit gehört, aus der wir aber Lehren zu übernehmen haben; und es ist die Geschichte, mit der wir fertig werden müssen, die wir mitgestalten. Da meine ich, auf die Vergangenheit bezogen: die Geschichte der Weimarer Republik lehrt, daß man nicht früh genug mit dem notwendig Gewordenen beginnen kann.
Notwendig aber ist heute und morgen, die innere Stabilität und Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland wiederherzustellen. Dann können die demokratischen Parteien später erneut miteinander um die Entscheidung ringen, durch die unsere Zukunft gestaltet wird: im Geistigen, im Leistungsstand von Wissenschaft und Forschung, mit dem erarbeiteten Sozialprodukt, mit dem, was der moderne Staat seinen umweltbezogenen Menschen gibt, das so anders gewordene Leben wirklich im höheren Sinne lebenswert zu machen.