Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf den Herrn Bundeskanzler bitten, mir zu Beginn meiner Ausführungen ein Wort der persönlichen Erinnerung zu gestatten. Als ich am 17. Dezember 1958 Herrn Kurt Georg Kiesinger zum Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg gewählt hatte und später als Sprecher der sozialdemokratischen Landtagsfraktion zu seiner Regierungserklärung Stellung nehmen mußte, ist von mir bemerkt worden, Herr Kiesinger habe sich aus der erschlaffenden Föhnluft der Bonner Koalition zurückgezogen, um die frische Brise der Stuttgarter Allparteienverbindung näher kennenzulernen.
Nun findet der neue Bundeskanzler nicht nur eine andere, bedrohlichere Wetterlage vor, sondern er wird auch noch wissen, daß damals der politische Redakteur einer angesehenen Zeitung in einem Leitartikel über die Regierungserklärung folgendes geschrieben hat:
Wenn Goethe von Hamlet sagte, daß dieser sich wie eine Eiche fühlte, die in einen Blumentopf verpflanzt wurde, so werden wir damit ungefähr die Situation begreifen, in der sich Kiesinger befindet, nachdem er die Bundesebene verlassen hat.
Das Zitat, von dem dieser Redakteur ausging, lautet: „Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboren ward, sie wieder einzurichten".
Nun, ganz so schlimm, Herr Bundeskanzler, ist es auch derzeit in Bonn nicht.
Ich möchte mich zu Beginn meiner Ausführungen auch auf den Bundeskanzler beziehen und erklären: Er hatte mit den Hinweisen in seiner Regierungserklärung recht, die Verhandlungen der Parteien hätten zu der wohl bisher gründlichsten Bestandsaufnahme der Möglichkeiten und Notwendigkeiten deutscher Politik vor einer Regierungsbildung geführt, und die Bildung einer gemeinsamen Koalition von CDU/CSU und SPD auf der Ebene des Bundes sei ohne Zweifel als ein Markstein in der Geschichte der Bundesrepublik zu betrachten.
Ich möchte die FDP insoweit beruhigen, als ich persönlich meine, daß sich der Herr Bundeskanzler erst nach Zögern bereit erklärt hat, diesen Markstein in der Geschichte der Bundesrepublik mit herbeizuschaffen.
Nur außergewöhnliche Tatbestände können die Bildung dieser Koalition in Bonn rechtfertigen. Ob und inwieweit die wirtschafts- und finanzpolitische Situation in der Bundesrepublik Deutschland dieses Zweckbündnis auf Zeit notwendig macht und welche Aufgaben bzw. Erwartungen damit verbunden werden müssen, darf ich im Auftrag .der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion untersuchen und darstellen.
Vorausgeschickt seien einige Feststellungen, die der Herr Bundeskanzler hinsichtlich der bedrohlichen Entwicklung der Finanzlage des Bundes getroffen hat. Seine Antwort auf die Frage, wie es hierzu gekommen ist, lautet in Kurzfassung:
Erstens: Es fehlte an der mittelfristigen Vorausschau. Hätten wir schon rechtzeitig die schlichten Finanzprognosen, wie wir sie heute aufstellen, erarbeitet, so wäre diese Entwicklung vermieden worden.
Zweitens: Noch 1965 wurden die Bundeshaushalte durch Einnahmeverzichte und Ausgabeerhöhungen zusätzlich mit insgesamt 7,2 Milliarden DM belastet ... Die Unzulänglichkeit des Art. 113 des Grundgesetzes und auch die unbegründete Furcht vor der Ungunst der Wähler haben eine Korrektur dieser Entscheidungen vor den Bundestagswahlen verhindert. Auch nach den Wahlen gelang es nicht.
Drittens:. Das Haushaltssicherungsgesetz 1966
— immer nach der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers —
war eine Krücke, die nur über die Schwierigkeiten eines einzigen Jahres hinweghalf.
Viertens: Die Gesundung .der Bundesfinanzen ist weniger eine Frage des Sachverstandes als des politischen Mutes und der Einsicht aller Mitverantwortlichen.
Fünftens: Wir müssen 1967 noch mit einer Deckungslücke von rund 3,3 Milliarden DM rechnen. Die Regierung wird alsbald neue Ausgleichsvorschläge in dieser Höhe vorlegen.
Sechstens: Die Regierung ... wird die Entscheidungen vorbereiten, die nötig sind, um die ab 1968 drohenden Deckungslücken auszugleichen, und dafür sorgen, daß vorrangige Aufgaben besser erfüllt werden können.
Es wird gut sein, meine Damen und Herren, wenn wir uns an diese Fakten jetzt und in der nächsten Zeit halten. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sieht zunächst den neuen Ausgleichsvorschlägen der Bundesregierung zur Beseitigung der für den Bundeshaushalt 1967 noch vorhandenen Deckungslücke von rund 3,3 Milliarden DM entgegen. An der Bereitschaft meiner Fraktion, dazu beizutragen, die Finanzordnung baldmöglichst wiederherzustellen, kann nicht gezweifelt werden. Der Ausgangspunkt solcher Bemühungen muß aber der Wille sein, dabei eine gerechte Verteilung der Lasten zu erreichen. Das heißt insbesondere, daß in einer solchen Situation der Schutz der Schwachen und Hilfsbedürftigen nicht vernachlässigt werden darf.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal an die Beschlüsse dieses Hohen Hauses vom 8. Dezember 1966 erinnern. Die Tatsache, daß es nicht in allen Fällen zu einer den Ausschußvorlagen entsprechenden Mehrheitsbildung gekommen ist, hatte unfreundliche Kommentare zur Folge. Wer aber den 8. Dezember so kommentiert, wird den Entscheidungen des Deutschen Bundestages nicht gerecht, denn sie haben eine Deckungslücke von
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rund 2,8 Milliarden DM beseitigt. Diese vorläufige Entlastung wird sich noch um die bisher nicht beschlossene Heraufsetzung der Tabaksteuer erhöhen, für das Jahr 1967 nach den mir zuteil gewordenen Informationen um etwa 500 Millionen DM. Diese im Zeichen der neuen Regierung getroffenen Entscheidungen beweisen den Mut zur Verantwortung, der auch deswegen nicht kleiner wird, weil in den beiden großen Fraktionen Kollegen den einen oder anderen Vorgang nicht so bewertet haben, wie es die Regierung oder die Fraktionsvorstände gewünscht hätten.
Meine Damen und Herren, nur eine nüchterne, realistische Betrachtung der wirtschafts- und finanzpolitischen Situation, in der wir uns befinden, schafft die Ausgangsbasis für weitere Entscheidungen und für die Politik, die wir in nächster Zeit zu gestalten und zu vertreten haben.
Deshalb zunächst einige Ausführungen zur Datenlage, ein Röntgenbild, so wie wir es sehen. Seit Mitte des Jahres befindet sich die Wirtschaft der Bundesrepublik in einem Prozeß der sich selbst beschleunigenden Kontraktion.
Der Index der Bauproduktion liegt seit dem Juni, der Index der Industrieproduktion seit dem August unter dem Niveau des Jahres 1965. Die Einzelhandelsumsätze überschreiten seit Juli real noch knapp den Vorjahresstand; die Großhandelsumsätze liegen seit dem gleichen Monat unter diesem Stand. Daß das reale Bruttosozialprodukt, also die Gesamtleistung der Volkswirtschaft an Gütern und Diensten, überhaupt noch eine positive Zuwachsrate von 2 v. H. erreicht, ist — bei einer relativ guten Ernte — der Produktionssteigerung in der Landwirtschaft und einer weiteren, wenn auch im Tempo ebenfalls verminderten Zunahme in der Inanspruchnahme von Dienstleistungen zu verdanken.
Die Auswirkungen dieses Konjunktureinbruchs zeigen sich besonders kraß in der Beschäftigung, in den privaten Einkommen und in den Staatseinnahmen.
Die Zahl der Erwerbstätigen wird 1966 auch im Jahresdurchschnitt die des Jahres 1965 nicht erreichen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg im November auf rund 216 000 und damit auf eine Arbeitslosenquote von 1 v. H. Das Stellenangebot war im gleichen Monat auf rund 319 000 gesunken.
Die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer und Rentenbezieher hatten im ersten Halbjahr 1966 noch ein Wachstumstempo von 8 v. H.; in der zweiten Jahreshälfte wird nur noch eine Zuwachsrate von 5 v. H. erreicht werden können.
Gleichermaßen hat sich das Wachstum der Steuereingänge vermindert; noch im zweiten Quartal lag die Zuwachsrate des Steueraufkommens von Bund und Ländern bei 10 v. H., im dritten Vierteljahr betrug sie 5 v. H. und ist inzwischen auf 3 v. H. im November gesunken. Den Bundeshaushalt trifft diese Verlangsamung am stärksten, da der einzige noch expansive Teil der Volkswirtschaft — Exporthandel und Exportindustrie — keine Umsatzsteuern erbringt, auf der anderen Seite aber gleichzeitig in der durch Umsatzausgleichsteuern und Zölle für den
Bund fiskalisch besonders ergiebigen Einfuhrwirtschaft Stagnation herrscht.
Was, meine Damen und Herren, ist an dieser Konjunkturlage für die Bundesrepublik neu? Einen Rückgang der industriellen Investitionen hat es auch 1963 gegeben. Ebenfalls sind Schwankungen in der Ausfuhrentwicklung, zum Beispiel ihre starke Verlangsamung nach der Aufwertung vom Frühjahr 1961, nicht ungewohnt. Beide Störungsfaktoren blieben auch damals nicht ohne Auswirkung, auf das gesamtwirtschaftliche Expansionstempo, gingen aber über eine bloße Verlangsamung nicht hinaus.
Tatsächlich liegt nach unserer Meinung das Neue in der gegenwärtigen Lage im Zusammentreffen von Investitionsrückgängen im privaten und im öffentlichen Sektor der Volkswirtschaft.. Daß gleichzeitig das Investitionsniveau in der Industrie, in den großen öffentlichen Unternehmen, bei den Gebietskörperschaften sowie in der Bauwirtschaft den realen Vorjahresstand nicht mehr erreicht, ist die Besonderheit dieses zweiten Halbjahres 1966. Der Produktions- und Einkommensausfall für Unternehmen. wie Arbeitnehmer konnte auch durch die überaus günstige Ausfuhrentwicklung nicht wettgemacht werden.
In den nächsten Monaten kann sich die Krisensituation leider noch verschärfen. Im Auslandsabsatz können die Wachstumsraten kaum noch gesteigert werden. Seit der Mitte des Jahres 1966 expandiert die Warenausfuhr mit einer Jahresrate von 15 v. H.; mit mehr kann man auch für die Zukunft vernünftigerweise nicht rechnen. Sollte der Konjunkturaufschwung in den USA sowie in Frankreich und Italien, sollte also die Hauptquelle der deutschen Exportsteigerung gegen Ende des nächsten Jahres erlahmen, so würde diese Stütze der Stabilität einen bedauerlichen Bruch erhalten.
Trotz einer nach wie vor günstigen Ausfuhrentwicklung gehen die deutsche Wirtschaft und die deutsche Politik in einen schweren Winter. Der Rückgang in der Investitionstätigkeit wird anhalten. Die neuesten Befragungen des Ifo-Instituts vom November 1966 lassen für die Industrie eine Verminderung der Investitionsausgaben 1967 um 12 v. H. erwarten. Das Baugewerbe sieht sich sogar zu einer Investitionskürzung um nicht weniger als 25 v. H. gezwungen. Bei den Gebietskörperschaften und bei den großen öffentlichen Unternehmen ist ebenfalls ein negatives Wachstum der Investitionen zu erwarten: die stagnierenden, ja möglicherweise bald negativen Zuwachsraten in den Steuereingängen werden ohne andere Finanzierungsmöglichkeiten die Situation weiter verschlechtern.
Wir stehen in der Bedrohung eines Konjunkturrückschlags, der sich zudem mit einer Verschärfung der Strukturkrise an Ruhr und Saar und mit dem winterlichen Saisoneinbruch addieren würde. Das erste Mal seit zehn Jahren spricht man wieder von Arbeitslosigkeit und gibt damit den politischen Phantasten eine ökonomische Basis, die breiter ist als zuvor. Mit jedem Monat weiterer wirtschaftlicher Unsicherheit wächst ihre Möglichkeit, politisch unkritische oder unerfahrene Menschen auf ihre Seite zu zie-
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hen. Diese Tatsache muß man ebenso sehen und bewerten wie die gleichzeitige Einbuße an Wirtschafts- und Finanzkraft.
Die wirtschaftlichen und fiskalischen Verluste sind beträchtlich. Bei einem Bruttosozialprodukt von knapp 500 Milliarden DM bedeutet eine Differenz in der realen Wachstumsrate von 4 v. H. zu 2 v. H. einen Unterschied von 10 Milliarden DM an verlorengegangener Konsum- und Investitionsgüterproduktion, mit deutlicher Betonung auf der zuletztgenannten. In der Abschwächung sinkt die Investitionsquote des Bruttosozialprodukts; die Struktur der gesamten Produktion wird weniger zukunftsorientiert.
Bei einem Steueraufkommen für alle Gebietskörperschaften und für den Lastenausgleichsfonds von zur Zeit rund 120 Milliarden DM jährlich beläuft sich die Auswirkung der gleichen Differenz auf einen Betrag von 2,5 Milliarden DM im ersten Jahr des gesamtwirtschaftlichen Produktionsausfalls und einer sich laufend erhöhenden Summe für jedes weitere Jahr der Stagnation. Die Steuereinnahmen des Bundes allein werden, wie ich bereits erwähnt habe, noch zusätzlich von der Änderung in der Verwendungsstruktur des Sozialprodukts — von starker Einfuhr zu starker Ausfuhr — betroffen. So rechnet der Bundesminister der Finanzen für 1967 bereits mit einem Ausfall an Steuern in Höhe von 1,9 Milliarden DM. Diese Zahl reflektiert jedoch den Stand der Schätzung der wirtschaftswissenschaftlichen Institute im amtlichen Arbeitskreis „Steuerschätzungen" vom 12. Oktober 1966. Sie enthält noch nicht die Auswirkungen der akuten Verschlechterung der Bundeseinnahmen im vierten Quartal 1966 und beinhaltet vor allem nicht die steuerpolitischen Folgen eines weiteren Treibenlassens der wirtschaftlichen Entwicklung. Würde man die entsprechenden Korrekturen auch noch einbeziehen, so käme man derzeit auf Steuermindereinnahmen von 2,5 Milliarden DM und bei jedem späteren Monat der Steuerschätzung zu einer weiteren Erhöhung des Einnahmeausfalls.
Ein großer Teil der jetzt noch vorhandenen Dekkungslücke — in der Regierungserklärung wurde sie mit 3,3 Milliarden DM beziffert — beruht auf diesem konjunkturverursachten Steuerausfall. Wer diesen Teil der Deckungslücke durch Ausgabenkürzungen oder Erhöhungen von Steuertarifen schließen will, muß wissen, daß ein solcher Haushaltsausgleich nur formal stimmen kann; denn solange die Produktionskraft in der Bundesrepublik nicht wieder gestärkt wird, kann sich auch ihre Steuerkraft nicht verbessern. An diese Binsenwahrheit muß erinnert werden.
Auf der Grundlage solcher Daten will die Bundesregierung eine kontrollierte Expansion herbeiführen. Dies ist nur möglich, wenn sich das jetzt auf Pessimismus und kontraktive Defizitdeckung gestimmte Verhalten der wirtschaftlich Handelnden im privaten wie im öffentlichen Bereich der Volkswirtschaft ändert. Dabei muß der Staat vorangehen. Er ist der einzige, der entsprechend disponieren könnte, ohne seine finanzielle Substanz zu gefährden. Dabei fällt dem Bund selbstverständlich die Führungsrolle zu.
Aber auch er muß seine Ausgaben finanzieren können. Der Bund wird sogar wahrscheinlich, wie in der Regierungserklärung angekündigt, über den Rahmen des jetzt zur Diskussion stehenden Haushalts mit einer Deckungslücke von zur Zeit 3,3 Milliarden DM noch ein Investitionsprogramm einzuleiten haben. In der gegebenen Konjunktursituation läßt sich ein solches Programm durch Selbstfinanzierung des Staates, also aus Steuermitteln, nicht realisieren. Der Bund braucht Kredite, und dazu bedarf es der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes; sie kann herbeigeführt werden durch eine entscheidende Lockerung der Kreditrestriktionen, sie kann aber auch durch die Aufhebung der Kuponsteuer oder durch eine vernünftige Kombination beider Maßnahmen erfolgen.
Die Bundesregierung hofft in ihrer Erklärung auf eine Unterstützung durch die Notenbank. Die Bundesbank ist autonom ; sie erwartet vom gleichfalls autonomen Bundestag entsprechende Entscheidungen. Allerdings — und das sei ausdrücklich festgestellt — wird die öffentliche Hand den wieder zu belebenden Kapitalmarkt nicht sofort in Anspruch nehmen dürfen, da ein solches Verhalten einer notwendigen Zinssenkung entgegenwirken würde. Für die Bundesregierung kommt es darauf an, nach einem Verfahren zu suchen, das unter voller Ausdehnung des Kreditplafonds des Bundes bei der Deutschen Bundesbank die Konsolidierung durch Anleihen im zweiten Halbjahr 1967 ermöglicht.
Die Bundesregierung hat sich ein Wachstumsziel von 4 v. H. gesetzt. Sie will diese Zuwachsrate im Laufe des kommenden Jahres erreichen. Bis dahin müssen nach unserer Meinung alle Voraussetzungen geschaffen sein, daß die jetzt durch die Konjunkturlage bewirkte. Eindämmung des Preisauftriebs nicht wieder gefährdet wird. Dieses Ziel möchte ich ganz besonders hervorheben, auch im Hinblick auf die Ausführungen des Herrn Kollegen Mischnick, der heute vormittag gesagt hat, die FDP habe Gerüchte gehört, daß bei unseren Überlegungen eine Inflationsrate einkalkuliert sei. Eine solche Unterstellung ist unsachlich und ebenso gefährlich wie die Behauptung eines Politikers, daß die Gefahr einer dritten Währungsreform gegeben sei.
Wir sollten auf solche Unterstellungen verzichten und davon ausgehen, daß alle drei Fraktionen dieses Hohen Hauses bemüht sind, die Wirtschaft aus der Stagnation herauszuführen, und daß sie die Stabilität, d. h. ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, anstreben unter Beachtung der vier Säulen, die bei den Beratungen des Stabilisierungsgesetzes eine besondere Rolle gespielt haben. Die Voraussetzungen dafür sind
erstens die im Stabilitätsgesetz vorgesehenen Investitionen für eine konjunkturgerechte Haushaltspolitik von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der Bundesbahn, der Bundespost und anderer wichtiger Unternehmen der öffentlichen Hand,
zweitens die konzertierte Aktion, in der die Mittel der finanzwirtschaftlichen und einer etwaigen außenwirtschaftlichen Globalsteuerung durch die Erörte-
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rung und Erarbeitung von Orientierungsdaten der Tarifvertragsparteien ergänzt werden,
drittens die Absicherung der inneren Stabilität gegenüber außenwirtschaftlichen Störungen durch internationale Koordination der Konjunkturpolitik, durch ein Zusammengehen einer Gruppe von stabilitätsbewußten Ländern oder, falls sich dieses Ziel nicht verwirklichen lassen sollte, durch ein eigenes überzeugendes nationales Beispiel.
Diese Voraussetzungen können also nach unserer Meinung geschaffen werden. Das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" ist dank der sorgfältigen parlamentarischen Beratungen und Ergänzungen nahezu beschlußreif. In dieses Gesetz sind die außenwirtschaftliche Absicherung und die konzertierte Aktion einzubeziehen. Allerdings hat sich das Klima für eine konzertierte Aktion im letzten Jahr verschlechtert. Die Bereitschaft der Gewerkschaften, obwohl immer noch vorhanden, ist durch die Zurückweisung der im zweiten Jahresgutachten des Sachverständigenrates skizzierten konzertierten Aktion zwangsläufig gedämpft worden. Dennoch sind die Vorteile einer konzertierten Aktion am Runden Tisch mit einer echten Mitwirkung aller Beteiligten um ein optimales Wachstum der Realeinkommen, die inflatorisch aufgeblähte Nominalverheißungen ablösen würden, zu eklatant und stehen zu sehr in Übereinstimmung mit gewerkschaftlicher Grundsatzprogrammatik, als daß ein solcher Versuch nicht gerade jetzt mit Aussicht auf Erfolg gewagt werden könnte. Die Tarifautonomie, das heißt die Möglichkeit zu abweichender Entscheidung oder die Ablehnung jeder Weisung eines anderen, auch des Staates, bleibt davon unberührt.
Ich darf auf einen in diesem Zusammenhang beachtlichen Vorgang verweisen. Am 14. Dezember 1966 hat der neue Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bau - Steine - Erden, Sperner, unter anderem in einer Presseerklärung betont, daß in der gegenwärtigen Konjunktursituation bei der Einkommenspolitik der Gewerkschaft die Sicherheit der Arbeitsplätze im Vordergrund stehen müsse. So wie die Wirtschafts- und Finanzpolitik habe sich auch die Einkommenspolitik an den Erfordernissen eines stabilen Wirtschaftswachstums zu orientieren. Die Empfehlungen des Sachverständigenrates für eine „kontrollierte Expansion" böten für diese Überlegungen eine gute Grundlage. Unter Berücksichtigung der von der neuen Bundesregierung zu erwartenden aktiven Wachstumspolitik und der speziellen Konjunktursituation des Baugewerbes erwarte die IG Bau - Steine - Erden für 1967 eine Lohnerhöhung von 4,3 0/o. Diese Erhöhung sei unter Berücksichtigung der Bedingungen der Bauwirtschaft stabilisierungs- und wachstumsgerecht. Die Gewerkschaft müsse dann aber auch erwarten können, daß die Bundesbank sich ebenfalls das wachstumspolitische Konzept des Sachverständigenrates zu eigen mache und mit einer Senkung des Diskontsatzes das Signal zu einer Wende in der Kreditpolitik gebe.
Nur ein voll funktionsfähiger Kapitalmarkt — das wird übrigens in dem neuen Sachverständigengutachten auch nachgewiesen — könne 1967 eine Fortsetzung der Baukonjunktur gewährleisten. Bei der konjunkturellen Schlüsselposition der Bauwirtschaft aber seien die Auswirkungen einer nachlassenden Baukonjunktur nicht nur auf dieses Gewerbe beschränkt, sondern würden die Gesamtwirtschaft in Mitleidenschaft ziehen.
Ich meine, wir sollten diese beachtliche Erklärung der Gewerkschaft ebenso zur Kenntnis nehmen wie die Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Regierungserklärung, die gerade diese eben behandelten Teile der Regierungserklärung durchaus positiv beurteilt. Hieraus ergibt sich also, daß die Gewerkschaften bereit sind, sich für eine solche konzertierte Aktion zur Verfügung zu stellen. Nun sollten alle Verantwortung tragenden Mitbeteiligten auf diese Bereitschaft eingehen und damit den Weg beschreiten, den — nach unserer Meinung mit Recht — die Regierungserklärung aufweist.
Ich darf vielleicht bei dieser Gelegenheit noch festhalten, daß man in dem Rückblick auf die Leistungen der letzten 20 Jahre nicht übersehen darf, daß in allen kritischen Situationen, in denen sich unser Volk in diesen zwei Jahrzehnten befunden hat, die Gewerkschaften immer vorn waren, wenn es darauf ankam, auch durch Vorleistungen dazu beizutragen, eine ernst und kritisch gewordene Situation zu meistern.
Ich sage das im Hinblick auf eine andere Passage der Regierungserklärung. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich die Ankündigung der Bundesregierung begrüßen, eine Kommission unabhängiger Sachverständiger zu berufen und sie mit der Auswertung der bisherigen Erfahrungen bei der Mitbestimmung als Grundlage weiterer Überlegungen zu beauftragen. Die Berufung dieser Expertenkommission sollte unverzüglich erfolgen. Wenn die Bundesregierung erklärt, sie lehne Bestrebungen ab, die den bewußten und erkennbaren Zweck einer Aushöhlung der Mitbestimmung verfolgen, so müßte nach Auffassung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion überlegt werden, ob nicht ein Gesetzentwurf vorzulegen ist, der gewährleistet, daß gesellschaftsrechtliche Maßnahmen, insbesondere Fusionen, nicht zum Abbau der Mitbestimmung führen können.
Haben wir Wachstum in Stabilität wieder erreicht, so sind auch die Grundlagen für andere wichtige Entscheidungen der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik geschaffen. Eine mittelfristige Wirtschaftspolitik und Finanzplanung in einer Schrumpfungswirtschaft wären bloße Zahlenspielerei. Eine Konsolidierung in den Krisenherden an Ruhr und Saar ist nicht möglich, wenn nicht die zusätzliche und gravierende konjunkturpolitische Komponente der Krise in diesen Regionen zuvor oder gleichzeitig beseitigt wird.
Eine Ordnung der Sozialpolitik verlangt — so ist in der Sozialenquete zu lesen — eine Zuwachsrate
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des realen Sozialprodukts im längerfristigen Durchschnitt von mehr als 4 v. H., andernfalls würde das ganze System der Sozialordnung gefährdet sein. Auch aus dieser Sicht ist daher unsere Aufgabenstellung klar.
Nur bei wirtschaftlichem Wachstum und finanzieller Ordnung ist die soziale Stabilität zu sichern. Gerade die schlimmen Erfahrungen der letzten Zeit haben gelehrt, daß Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik langfristig angelegt und aufeinander abgestimmt werden müssen. Wahlgeschenke und systemwidrige finanzpolitische Manipulationen darf es auch für den sozialen Bereich in Zukunft nicht mehr geben.
Meine Damen und Herren, die wachsende Zahl älterer Menschen bedeutet für unser ganzes Volk eine große Verpflichtung. Mit Befriedigung haben wir davon Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung an dem Prinzip der dynamischen Rente festhalten wird. Das Vertrauen der Bürger in die Stabilität der sozialen Sicherheit ist ein wesentlicher Bestandteil ihres Vertrauens zur Demokratie überhaupt.
Nach Auffassung meiner Fraktion kann und muß die Sozialpolitik ihren Teil zum wirtschaftlichen Wachstum beisteuern. So bildet z. B. eine moderne Arbeitsmarktpolitik die elementare Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit unserer Wirtschaft und der amtlichen Wirtschaftspolitik. Zu ihr gehören zeitgerechte Berufsausbildung für junge Menschen, berufliche Umschulung und Fortbildung. Es ist auch eine derzeit wieder bestätigte Erfahrung, daß von Arbeitslosigkeit vor allem ungelernte Arbeiter betroffen werden, während noch partiell ein Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften besteht. Das macht die strukturellen Schwächen der bisherigen Berufsausbildung deutlich.
Meine Fraktion hat durch die Einbringung des Entwurfs für ein Arbeitsmarkt-Anpassungsgesetz einen wichtigen Beitrag für eine zeitgerechte Arbeitsmarktpolitik geleistet.
Die längerfristige Abstimmung der Wirtschafts- und Finanzpolitik mit den Zielsetzungen der übrigen innenpolitischen Bereiche, wie sie die Bundesregierung ankündigt, in einem Gesamtprogramm mit umfassender Bestandsaufnahme kann eine neue Ara in der politischen Willensbildung einleiten. Auch hier würde keine „Autonomie" aufgehoben, sondern sollen die Orientierung der Einzelnotwendigkeiten auf das Ganze und die Verpflichtung des Ganzen auf das Einzelne ermöglicht werden. Die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen einer die Produktivität fördernden Ausgabenstruktur, dem notwendigen Maß an sozialer Sicherung sowie der gesamtwirtschaftlichen Aufgabe der Stabilität und des Wachstums können nur in einer quantitativen Form durchschaubar gemacht werden. Erst dann sind eigentlich Entscheidungen aus dem Wissen um Tatbestände und nicht nur aus der bloßen Hoffnung heraus möglich. Selbstverständlich wird ein solches Zahlenwerk keinen Ewigkeitswert besitzen, sondern der laufenden Prüfung und Anpassung an die sich wandelnde Welt unterliegen müssen.
Meine Damen und Herren, die lange schwelende Sonderkrise der deutschen Montanwirtschaft an Ruhr und Saar muß durch diese Bundesregierung beendet werden. Die Halden sind Anklage und Mahnung. Krise ist im Steinkohlenbergbau nicht allein die Anpassung an eine veränderte Nachfrage nach den einzelnen Energieträgern, sondern Krise heißt in diesem Fall, daß statt eines geordneten Rückzuges auf dauerhafte Positionen eine heillose Flucht ins Ungewisse Platz gegriffen hat.
Um hier die notwendige Ordnung wiederherzustellen, die ungenügenden Wachstumsraten zu beseitigen und Wanderungsverluste aufzuheben, müssen schnellstens die beschlossenen oder vorbereiteten Maßnahmen der Absatzsicherung der Kohle in der Elektrizitätswirtschaft und in der Stahlindustrie wirksam werden. Das gleiche gilt für die Ansiedlung von Ersatzindustrien bei unvermeidbaren Zechenstillegungen;. z. B. müssen die Richtlinien zu den Verstromungsgesetzen nun herausgegeben werden. Es ist erfreulich, daß sich die neue Landesregierung von Nordrhein-Westfalen trotz ihrer schwierigen Finanzlage entschließen wird, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen. Es sei noch hinzugefügt, daß eine derartige Politik der vorsichtigen Anpassung nicht zu einer Steigerung der deutschen Energiepreise zu führen braucht. In Regionalplänen sind die engen Wechselbeziehungen zwischen einer wettbewerbsfähigen und leistungsstarken Gesamtwirtschaft und den berechtigten Interessen der im Steinkohlenbergbau sowie in der Stahlindustrie hart arbeitenden Menschen klarzumachen.
Bevor ich zum Schluß noch ein Wort zur Reform unserer Finanzverfassung sage, lassen Sie mich für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion erklären, daß wir mit Dankbarkeit die Zusage der Bundesregierung zur Kenntnis genommen haben, die Stellung des Landes Berlin innerhalb der Bundesrepublik zu stärken.
Die Zielsetzung, die Wirtschaftskraft dieser Stadt weiter zu festigen, wird notwendige Impulse für das Wachstum der Berliner Wirtschaft geben, wobei es für uns selbstverständlich ist, daß bisher bewährte Maßnahmen in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Senat fortgeführt werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun auch von meiner Seite noch einige wenige Bemerkungen zu der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers machen, daß diese Regierung die Reform der Finanzverfassung als eine der großen innenpolitischen Aufgaben betrachtet und verwirklichen will. Gerade in diesem Punkt haben Regierung und Koalition eine Bewährungsprobe abzulegen.
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Seit bald einem Jahr liegt das Sachverständigengutachten zur Finanzreform vor. Man hat den Eindruck — ich will mich ganz vorsichtig ausdrücken —, daß noch nicht viel geschehen ist.
Wir müssen umgehend — und damit wäre anzufangen — das Beteiligungsverhältnis zwischen Bund und Ländern nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Gemeindefinanzen in Ordnung bringen, und das hoffentlich diesmal ohne Vermittlungsausschuß.
Ich freue mich, daß ich durch die Zeitung erfahren konnte, daß der Herr Bundeskanzler beabsichtige, in den nächsten Tagen mit den Ministerpräsidenten der Länder und Stadtstaaten zusammenzukommen. Sicher wird in dieser Besprechung die Regelung des Beteiligungsverhältnisses eine entscheidende Rolle spielen. Ich meine, in den Koalitionsgesprächen ist eine Verständigungsbasis gefunden worden. Ich möchte, um Mißverständnisse zu vermeiden, noch einmal die Zahlen anführen, um die es sich bei dieser Differenz von 35 : 39 % handelt. Bei dieser Differenz um 2 Milliarden DM zugunsten der Länder sind wir davon ausgegangen, daß eine sogenannte Entflechtung erfolgen müsse, d. h. daß Länderaufgaben, die im Bundeshaushalt etatisiert werden, wenigstens zum Teil auf die Länderhaushalte übertragen werden, und zwar ohne daß dabei der Vorgang der Regelung der Gemeinschaftsaufgaben im Sinne des Gutachtens zur Finanzreform berührt wird. Dabei hat es sich um einen Betrag von 700 Millionen DM gehandelt oder anders ausgedrückt, das Beteiligungsverhältnis des Bundes würde dann, wenn man diese 700 Millionen DM berücksichtigt, nicht auf 35 % zurückgehen, sondern etwa bei 36,6 % liegen. Wenn es jetzt infolge der Zeitnot nicht zu einer Entflechtung kommt, muß man also diesen Ausgangspunkt berücksichtigen, und deswegen schien uns eine Verständigung auf der Linie eines Anteils von 37 % durchaus vertretbar.
Meine Damen und Herren! Hinsichtlich der Finanzreform sollte der Bundestag recht bald in einem Zwischenbericht Kenntnis nehmen vom Stand der gesetzgeberischen Arbeiten, die sich aus dem Gutachten der Finanzreformer ergeben. Dieser Überblick ist für den Bundestag unerläßlich, damit er die Spannweite dieser Aufgabenstellung erkennt und sich frühzeitig auf eine Lösung der gesetzgeberischen Aufgaben einstellt. Ich sage Ihnen: Wenn es gelingt, die vordringliche Aufgabe der Reformbemühungen befriedigend zu lösen, nämlich die Finanzausstattung der Gemeinden ausreichend zu verbessern, dann kann es nicht mehr schwer sein, in allen anderen wichtigen Punkten zu einer Verständigung zwischen Bund und Ländern zu kommen.
Am 28. Januar 1959 habe ich dem Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Kurt Georg Kiesinger, in meiner Stellungnahme zu seiner Regierungserklärung aufgefordert, die Vermittlerrolle im Streit um die Finanzmasse und um die Finanzreform zu übernehmen. Ich wiederhole heute — nach beinahe acht Jahren — diese Aufforderung an den Bundeskanzler Kiesinger. Nur wenn bald und konstruktiv gehandelt wird, kommen wir zu dem gewünschten Ziel. Die Gelegenheit ist nach unserer Meinung günstig.
Meine Damen und Herren! Bevor ich eine Schlußbemerkung mache, sei es mir gestattet, noch auf einige Ausführungen des Herrn Kollegen Dr. Dehler einzugehen. Herr Dr. Dehler hat sich zunächst mit dem Wahlrecht, wie es in der Erklärung der Bundesregierung angekündigt war, auseinandergesetzt, ist aber dabei der Stellungnahme der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion nicht gerecht geworden. Ich darf noch einmal wiederholen, was mein Kollege und Freund Helmut Schmidt hierzu gesagt hat:
Zu dem Inhalt dieser letzten Verfassungsänderung gibt es jedoch einstweilen sehr verschiedene Meinungen ... Die Regierung hat ihre Absicht erklärt, ein Wahlrecht zu schaffen, das klare Mehrheiten im Bundestag ermöglicht. Auch diese Absichtserklärung findet in beiden regierungstragenden Fraktionen sehr unterschiedliche Beurteilung. Meine Fraktion ... wird auf einer sehr gründlichen Prüfung dieser schwierigen Materie bestehen, ehe sie zu einer Entscheidung bereit ist. Meine Partei wird diese Frage auch auf einem Bundesparteitag behandeln. Wir erkennen im Augenblick sowohl Vorteile als auch Nachteile.
Ich finde, daß Herr Kollege Dehler diesen entscheidenden Passus aus der Rede meines Fraktionsfreundes Helmut Schmidt einfach nicht zur Kenntnis genommen hat.
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Erklärung dann auch zu folgendem Punkt geäußert: „Die Möglichkeit für ein Übergangswahlrecht für die Bundestagswahl 1969 wird von der Regierung geprüft." Gegen diese Prüfung durch die Regierung haben wir keine Einwendungen, und wenn das Prüfungsergebnis vorliegt, werden sich alle drei Fraktionen dieses Hohen Hauses mit dem Prüfungsergebnis auseinanderzusetzen haben.
Ich sagte, daß wir beispielsweise die Frage des Wahlrechts vor unseren Parteitag bringen. Seien Sie, meine Damen und Herren von der FDP, davon überzeugt, daß es in unseren Reihen ebenso eigenwillige Persönlichkeiten gibt wie trotzige Liberale bei Ihnen.
Warten Sie erst einmal ab, was unsere Parteiinstanzen zu diesem Wahlrecht sagen, von dem Sie allerdings, wenn Sie es jetzt einmal ganz unabhängig von der Interessenlage beurteilen, auch nicht gerade beglückt sein sollten.
Wir haben beispielsweise in Baden-Württemberg schon vor vielen Jahren den „Sanitätswagen" abgeschafft, die Landesliste; das müßten Sie als BadenWürttemberger wissen. Wir haben bei uns die Zweitausteilung, durch die jeder einem Wahlkreis verpflichtet bleibt; er muß sich anstrengen, wenig-
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stens über die Zweitausteilung zum Zuge zu kommen.
— Ja, Herr Dr. Starke, Ihnen imponiert das nicht. Aber uns in Baden-Württemberg hat das ganz gut gefallen. Es hat einen Kontakt zwischen dem Abgeordneten und dem Wähler hergestellt, weil es notwendig ist, daß sich die Abgeordneten dauernd um den Wahlkreis kümmern, ganz gleich, ob sie in der Erst- oder in der Zweitausteilung zum Zuge gekommen sind.
— Sofort. — Es kann doch niemand behaupten
— auch ich bin über die Landesliste in diesen Bundestag hineingekommen —, daß das ein beglückender Zustand sei.
Ich jedenfalls empfinde das nicht als einen beglükkenden Zustand. Es gibt sehr viele Wählerinnen und. Wähler in meinem Wahlkreis, die sagen: Na, der ist schon über die Landesliste gewählt, da werden wir mal dafür sorgen, daß auch die andere große Partei zum Zuge kommt. Das ist der Tatbestand, das ist die Realität.