Ich will Sie nicht über Gebühr aufhalten.
Vielleicht darf ich aber in Kürze noch sagen, was mir am Herzen liegt. Ich fragte nach dem Geist dieser Koalition. Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese hier vertretenen Anschauungen zusammenklingen können. Man darf ja nicht nur, Herr Schmidt, von der Regierung Kiesinger-Brandt sprechen; man muß Kiesinger-Brandt-Katzer-Wehner sagen.
Vielleicht gewöhnen wir uns daran: KiesingerBrandt-Katzer-Wehner.
Ich frage mich, wie man diese Meinungen und Richtungen unter eine Decke bringt. Ich habe mir überlegt, welche Patrone, welche Schutzheiligen — ich bin ein guter Katholik; Sie wissen das —
hat wohl dieses Kabinett.
— Das wäre ja meine! Ich bin doch ein alter Artillerist. Vielleicht ist es Alexis de Tocqueville oder Karl Schmitt? Ich weiß es nicht.
— Nein, nicht unser Carlo, sondern ein ganz anderer Professor. Sie werden wissen, was er bedeutet. Ist es Thomas von Aquin — —
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Dezember 1966 3735
Dr. Dehler
— Das ist nicht böse; das ist sehr bewußt gesagt! Wir können einmal darüber sprechen, lieber Herr Kollege Schmidt. Das ist sehr bewußt gesagt.
— Es ist nicht gesagt, daß das gegen Sie gerichtet ist. Ich hoffe, Sie haben mich richtig verstanden, Herr Schmidt, und wissen, was ich damit sagen wollte. Ist es Marx? Ist es Engels? Ist es Lassalle? Ich weiß es nicht.
— Natürlich, langsam werde ich in den Rang des Säulenheiligen erhoben. Das ist das Schicksal des alternden Politikers.
Ist die Bestandsaufnahme, die uns die Regierung gegeben hat, wirklich erschöpfend? Geht sie wirklich auf den Grund? Ich will einmal ganz elementar nur einige Fragen anrühren: deutsche Einheit — das große Ziel, das uns gestellt ist. Führt das, was die Regierung uns hier gesagt hat, irgendwie weiter gegenüber dem, was in der Vergangenheit erklärt worden ist? Immer noch stehen die Reden des jetzigen Justizministers — ich sehe ihn gern in meinem Sessel auf der Rosenburg — ohne Entgegnung.
Nun ja, ich habe diesen Sessel gekauft, nicht aus meinen Mitteln,
aber nach meinem Geschmack. Auf die Rede vom Januar 1958 und auf meine Rede mit bittersten Anklagen ist niemals erwidert worden, mit keinem Satz. Der Herr Bundeskanzler war damals außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU. Niemals ist erwidert worden auf das, was wir damals an Vorwürfen bis zur Anklage hin erhoben haben: Aus vielen Fakten ergibt sich, man will die Wiedervereinigung nicht, man geht ihr aus dem Wege, man hat Möglichkeiten nicht geprüft, man hat Möglichkeiten nicht getestet.
Wie kann man glauben, es komme zur deutschen Wiedervereinigung, wenn man die jetzige Verteidigungskonzeption fortsetzt? Wie kann man glauben, daß durch die Bindung des einen Teils Deutschlands, der Bundesrepublik, in der NATO, durch die Bindung des anderen Teils im Warschauer Pakt der Weg zur Wiedervereinigung geöffnet und nicht in Wirklichkeit verbaut wird?
— Was sonst? Eine andere Regelung über unsere Sicherheit. Wir haben sehr konkrete Vorstellungen. Sicher ist Ihnen zugänglich, was die Koalition zwischen CDU/CSU und FDP 1961 in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt hat. Lesen Sie es nach! Das war
nicht nur — ich war damals sehr mitbestimmend dabei, weil es mir ein Herzensanliegen ist — aus meinem Willen entstanden, sondern gab wieder, was der Präsident dieses Hauses in einer geschichtlichen Rede am 30. Juni 1961 am Schluß der 3. Legislaturperiode im Auftrag und mit Zustimmung des ganzen Hauses erklärt hatte: Anstreben eines Friedensvertrages mit dem Ziele einer anderen militärischen Organisation und Sicherheit für uns. Selbstverständlich! Das ist doch der einzige Weg.
— Wann ist darüber jemals mit denen, auf die es ankommt, gesprochen worden?
Ich will nicht auf die Verhandlungen, die im Oktober 1955 in Moskau stattgefunden haben, eingehen. Auf jeden Fall sind die damals geschaffenen diplomatischen Beziehungen noch niemals genützt worden!
— Ist es meine Schuld? Das ist ja hochinteressant, daß die eine Seite uns vorwirft, wir seien unzuverlässig und brächen dauernd aus der Regierung aus, und Sie meinen, wir hätten noch viel öfter ausbrechen müssen.
Natürlich, das hätten wir 1961 schon einige Tage — verehrter Herr Schmidt, hören Sie zu, wenn ich Ihnen antworte — nach dem Beginn der Koalition tun müssen, denn damals ist von gewissen Damen und Herren der CDU/CSU der damalige Bundeskanzler Adenauer bedrängt worden wegen der Vereinbarungen, unter die er zusammen mit den Herren Strauß und Mende seine Unterschrift gesetzt hatte; er hat es dann abgewertet: „Dat FDP-Papier!" Ich glaube, Herr Ludwig Erhard, Sie haben sich einmal gerühmt, diesen Koalitionsvertrag niemals gelesen zu haben. Sie hatten es schwer! Ich warne Sie, Herr Helmut Schmidt; an Ihrer Stelle hätte ich es mir schwarz auf weiß geben lassen. Nein, nein, ich halte nichts von der Gemeinschaft der — —
Bestandsaufnahme! Gehört zur Bestandsaufnahme nicht eine Überprüfung des Sicherheitssystems? Die NATO ist sehr fragwürdig geworden. Frankreich ist aus der Militärorganisation ausgeschieden, die Beteiligung der anderen ist immerhin zurückhaltend. Keiner weiß es besser als der Bundeskanzler, auf welche Vorstellungen dieses ganze System zurückgeht. Es ist interessanterweise in dem Kopf eines Leiters des State Department in Washington erfunden worden: Man müsse die Politik des containment, die Politik des roll-back machen, man müsse den kommunistischen Block auf allen Seiten einkreisen; dann werde der Kommunismus gehindert werden, sich nach außen auszuweiten, und die Diversion, die Zersetzung werde sich nach innen richten. Das war die Spekulation.
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Dr. Dehler
In Vietnam müssen es jeden Tag arme amerikanische Soldaten büßen. Man hat geglaubt, man brauchte dort 1956 den Gürtel nur zu schließen und könne dann den Zersetzungsprozeß abwarten. Ist nicht die Frage aufzuwerfen, ob dieses Verteidigungssystem heute noch sinnvoll ist, ob unser Beitrag in der NATO in dieser Form fortzuführen ist? Muß man nicht Phantasie haben, um die Dinge im Interesse des Friedens und im Interesse des deutschen Volkes anders zu ordnen?
Europa! Können wir mit derselben Nomenklatur immer noch von Europa sprechen? Die Politik in Europa hat dazu geführt, daß Europa gespalten ist, unheilvoll gespalten ist. Ich glaube nicht, daß jemals die Brücke zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der EFTA und den anderen, die noch draußen stehen, geschlagen werden kann. Die Dinge sind viel zu sehr fixiert. Das Ziel der politischen Integration Europas, an das die deutsche Jugend geglaubt hat, ist gescheitert; es ist nichts herausgekommen. Auch der letzte Versuch, wenigstens die Bindung zwischen Frankreich und uns zu verstärken, ist gefährdet. Wir haben ein völliges Versagen der Europa-Politik. Es wird nichts darüber gesagt, wie die Dinge weitergeführt werden sollen, abgesehen von allgemeinen Worten. Sollen die gewaltigen finanziellen Opfer, die wir bringen, ohne europäisches Ziel weiterhin gebracht werden?
Sie wissen, keine Partei war so wie die Freie Demokratische Partei skeptisch gegenüber den Römischen Verträgen. Die CDU/CSU glaubte damals, sie könne ein katholisches Europa schaffen.
— Natürlich, das hören Sie nicht gern; ich weiß das genau. Denken Sie doch an die handelnden Staatsmänner!
Das war Alcide de Gasperi, der Vorsitzende der Democrazia Cristiana, das war Robert Schuman, der Vorsitzende der katholischen Partei, des MRP in Frankreich, das war Konrad Adenauer, das waren die katholischen Ministerpräsidenten der Beneluxstaaten. — Selbstverständlich!
Ich will Ihnen die Tatsache auch gern — —
— Ich weiß, das hören Sie nicht gern.
Wir haben die Verträge abgelehnt, weil wir wußten, daß die Römischen Verträge gerade zur Spaltung Europas und zu großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen würden. Ludwig Erhard hat damals ein großes Wort gesagt: wirtschaftlicher Unsinn, aber politisch notwendig. Was er jetzt in Skandinavien in Erinnerung an seine damalige Haltung gesagt hat, das bestätigt durchaus unseren Standpunkt.
Ich denke an eine Szene, die ich mit dem Herrn Bundeskanzler 1954 in einer Besprechung im State Department in Washington hatte. Die Saar-Frage war damals aktuell. — Wir wollen doch ein bißchen Bestandsaufnahme machen. — Ich blieb allein —
Jaeger war noch dabei — mit meiner Erklärung: Die Saar ist ein deutsches Land und darf niemals, auch nicht unter der Etikette der Europäisierung, unter den Einfluß Frankreichs kommen. Ohne uns gäbe es keine deutsche Saar. Leugnen Sie auch das, unseren Einsatz mit Leidenschaft, von Max Becker, Heinrich Schneider und vielen anderen?
Zu den wirtschaftlichen Dingen habe ich schon eine Reihe von Tatsachen gesagt. Vielleicht noch ein Wort über die staatspolitischen Fragen, die besonders auch Helmut Schmidt angeschnitten hat und die ich durchaus unterstütze. Ich bin nur skeptisch, Herr Schmidt, daß die Demokratie in unserem Volke, ich glaube, Sie sagten: verankert oder tief verwurzelt sei. Ich glaube es nicht.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort zu den Wahlen. Wenn die Menschen am Ende über die Gewerkschaft sozialdemokratisch wählen, wenn die Berufsverbände für den Menschen auch bei seiner politischen Bildung im Vordergrund stehen und wenn ein anderer Teil unseres Volkes, und kein unbeträchtlicher, für seine politische Entscheidung über das Bekenntnis zur Kirche und seiner Konfession stimmt, wächst kein Staatsgefühl. Noch einmal: Wenn es keine Liberalität gibt, wenn es keine wirksame liberale Kraft gibt, wird dieser Staat Schaden nehmen.
Wir werden selbstverständlich eine klare, ich hoffe auch arbeitsame Opposition zu führen versuchen. Am Ende — das gibt uns das Recht zur Opposition, dann zur harten Opposition — werden wir das Maß setzen. Auf das, was wir wollen — nationalpolitisch, staatspolitisch, wirtschaftspolitisch — kommt es an. Noch einmal: wir sind die Hüter der richtigen Gedanken.
Es gibt für das politische Leben unseres Volkes kein höheres Gesetz als das, was in den Grundsätzen der Liberalen niedergelegt ist: die geistige, die politische und die nationale Freiheit. Ob Sie ihnen entsprechen, Herr Bundeskanzler, danach werden wir Sie und die Bundesregierung messen.