Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Geschichte ist nichts zufällig. Sie ist im Guten und sie ist im Bösen vom Geiste her bestimmt. Wir wissen das aus den bitteren Erfahrungen unseres Volkes. Das gilt auch für die Bildung dieser Koalition zwischen der CDU/CSU und der SPD. Sie ist ein Teil einer Entwicklung — man kann vielleicht sagen: Krisis - der Liberalität, ich meine des Kampfes gegen die Liberalität und gegen eine Partei, die sie trägt. Das ist bedeutsam. Ich habe das alles schon einmal erlebt, und manchmal erscheint es einem gespenstisch. Immerhin habe ich fast fünfzig Jahre politische Erfahrung, und ich weiß, woran die Weimarer Demokratie zugrunde gegangen, ist. Herr Kollege Barzel hat gesagt, wir wissen, was Hitler war. Viel wichtiger ist es, zu fragen, wie es zu Hitler kam.
Ein ganz kurzer Rückblick: Die Weimarer Zeit begann mit starken liberalen Impulsen. Die Weimarer Verfassung war erfüllt von dem Geiste ausgezeichneter liberaler Männer und Frauen. Und die Entwicklung war dann ein Rückgang dieser liberalen Haltung, des liberalen Bewußtseins, der liberalen Partei, auch als Folge eines bitterbösen Kampfes gegen die Liberalität von kirchlicher Seite, nicht zuletzt von katholischer Seite, die im Liberalen etwas Liberalistisch-Atheistisches sah, und von sozialistischer Seite, die im Liberalen das Liberalistisch-Manchesterliche sah. So ist die politische Substanz unseres Volkes am Ende verkümmert, so wurde der Weg zum schauerlichen Abenteuer gebahnt, mit schlimmen Folgen für unser Volk und für die Welt.
Darum ist die augenblickliche Situation nach meiner Meinung so sehr charakterisiert durch die Erklärung der Regierung zum Wahlrecht. Es ist für mich besonders beklemmend, daß eine Regierungserklärung die Frage des Wahlrechts an die Spitze ihres Programms stellt. Wie sonderbar! Man will mit einem manipulierten Wahlrecht die Partei, die sich der Liberalität, der geistigen, politischen, wirtschaftlichen und nationalen Freiheit verpflichtet hat, erledigen.
Noch einmal: Wir haben das stolze Gefühl, daß wir die unverlierbaren geistigen und seelischen
Kräfte hüten, denen Europa als Vollendung von dreitausend Jahren Geschichte seine kulturelle, seine politische, seine wirtschaftliche Entwicklung verdankt. Es ist unsere Überzeugung, daß das, was wir vertreten, nach wie vor die bestimmende, fruchtbare Leitvorstellung unserer Zeit ist
und daß das, was die beiden Parteien vertreten, die sich hier jetzt zusammengefunden haben, der Versuch der christlichen Demokratie, der Versuch der sozialistischen Demokratie — wenn ich es ein klein wenig leitbildmäßig ausdrücke —, zwar in Deutschland entstanden ist, aber, wie ich meine, eine Fehlentwicklung war und ist. Und durch die Kumulation von Leitbildern, die — so sagte es ja Herr Kollege Barzel — nicht kongruent sind, entsteht nichts Positives; im Gegenteil, damit wird die Fehlentwicklung, das Fehlerhafte kumuliert.
— Ach nein, meinen Segen hat sie nicht gehabt. Ganz im Gegenteil! Auch wenn ich mir überlege, was heute gesagt worden ist, muß ich feststellen: Die Lösung, die ich angestrebt habe als bittere Konsequenz dessen, was geschehen war, die Koalition mit der SPD, wäre als Alternative, als Weg zum Lebendigmachen unserer Demokratie die bessere gewesen. Denn hier wird nichts Neues geboten, das ist kein neuer Anfang, sondern das ist fast im Gegenteil eine Steigerung passiver Ergebnisse der Entwicklung. Das ist meine Sorge.
— Nun, das dürfen Sie nicht sagen, daß das albern sei. Das ist keine faire Kritik. Ich glaube, es ist richtig, was ich sage.
Dr. Dehler
— Ich glaube auch, was ich sage; selbstverständlich! Sonst wäre ich nicht da. — Das, was wir in Frankfurt mit Ludwig Erhard geschaffen haben, die Marktwirtschaft, die liberale Marktwirtschaft — —
— Die liberale! Es gibt ja doch nur eine.
Die soziale Marktwirtschaft ist ja doch leider — aus den Ausführungen des Kollegen Bauer klang das wieder hervor — von vornherein der Versuch einer Exkulpation, der Versuch, sich von den ehernen Gesetzen des Marktes zu lösen. Wie hat Herr Kollege Bauer gesagt — sehr interessant! — „Soziale" Marktwirtschaft, mit den notwendigen Angleichungen an die Forderungen des Tages. Nein! Die Marktwirtschaft ist eben immer das Richtige. Aber ich komme noch darauf zurück. — Nein, damals waren Sie nicht koalitionswürdig, Herr Kollege Schmidt, weil Sie wirtschaftspolitische Auffassungen vertreten haben, die zum Unheil für das deutsche Volk, auch für die deutschen Arbeiter, geworden wären.
— Herr Kollege Dr. Schäfer, lesen Sie doch einmal nach, was im Wirtschaftsrat mein verehrter Kollege Schoettle oder Kollege Dr. Kreyssig aus München in ihren Angriffen gegen Ludwig Erhard damals erklärt haben! Die haben nämlich den Antrag gestellt, daß er von seinem Amt als Leiter des Wirtschaftsamtes im Wirtschaftsrat abberufen werde; sie stellten in Aussicht Chaos, Hunger von Millionen von Menschen. Das waren ihre Auffassungen. Ich will ja doch nur motivieren, warum wir 1949 glaubten, mit der CDU/CSU, die sich damals halt doch von ihrem Ahlener Programm, von den Irrtümern ihrer Düsseldorfer Leitsätze mindestens zum Teil — Herr Katzer bis heute noch nicht — abzusetzen versucht hatte, wirtschaftspolitisch Gutes erreichen zu können. Wir haben es auf Kosten der Außenpolitik, und ich meine, auch ein bißchen der Staatspolitik tun müssen.
1953, Herr Kollege Schmidt, war die CDU/CSU die stärkste Partei. Daß sie die Koalitionsbildung in die Hand nahm, war doch zwingend. 1957 hatte sie die absolute Mehrheit. 1961 fehlten ihr zur absoluten Mehrheit drei Stimmen. 1965 fehlten ihr acht Stimmen. Immer war sie die stärkste Partei. Ich will Ihnen nur einmal das Trauma nehmen, daß wir unsere Funktion nur in der Aufgabe gesehen hätten, zu verhindern, daß Sie zum Zuge kamen. Das ist sachlich und funktionell falsch. — Ich bin in Zeitnot, Herr Kollege Schmidt; lassen Sie mich diese zwanzig Minuten bis 1 Uhr dazu benutzen, das zu sagen, was mir am Herzen liegt.
Diese Wahlrechtsmanipulation ist eine schlechte Sache, eine schlimme Sache, Ausdruck einer Gesinnung, die ich von dem so ehrenhaften, von mir geschätzten Herrn Dr. Kiesinger nicht erwartet hätte. Das ist ein böser Geist, der wieder hochkommt. Es ist ja nicht das erste Mal, daß man diesen Versuch macht. 1955/1956 — ich komme auf das zurück, was ich soeben gesagt habe — geriet die Koalition in ernsten Konflikt wegen der Außenpolitik. Natürlich, es wurde mir bewußt, daß das, was Herr Dr. Adenauer erstrebte, nicht den Erklärungen entsprach, auch keinesfalls das Ziel der deutschen Einheit ins Auge faßte, sondern daß alle Dinge in eine ganz andere Richtung gingen: Bindung dieser Bundesrepublik an westliche Organisationen und damit zwangsläufig Verzicht auf die deutsche Einheit. Es gab dramatische Verhandlungen. Sie wurden drüben im Palais Schaumburg auf Tonbändern aufgenommen. Weil ich damals widerspenstig war, schwang man die Waffe des Wahlrechts: Grabensystem! Wie aktuell die Dinge wieder sind! Damals bestand so wie heute in Düsseldorf die Koalition von SPD und FDP aus Abwehr dieses bösen und, wie ich meine, tückischen Versuchs, die liberale Partei, weil sie nicht parierte, weil ihr die nationale Forderung heilig war, mit der Tücke des Wahlrechts auf die Knie zu zwingen. Und wie war es denn 1962? War es um ein Haar anders, als wir meinten, ein Minister sei nicht tragbar, und wir unsere fünf Minister zurückzogen? Was war die Antwort? Nun, die Verhandlungen mit Ihnen über die Änderung des Wahlrechts.
Nun möchte ich das ein bißchen korrigieren, was Sie, Herr Helmut Schmidt, über die Ansicht des von uns so vermißten Herrn Kollegen Fritz Erler gesagt haben. Ich möchte wiedergeben — ich nehme an, die Frau Präsidentin ist einverstanden —, was er damals trefflich gesagt hat:
Nach Aussagen sehr prominenter FDP-Abgeordneter hat es 1958 eine Absprache gegeben, die der damalige FDP-Vorsitzende — —O nein, ich habe die falsche Seite; das stammt von Herrn Wehner.
— Ich komme auf Sie, Herr Wehner, gern in einem anderen Zusammenhang zurück.
Fritz Erler hat damals erklärt:
Ich habe schon klargemacht, daß wir Sozialdemokraten nicht bereit sind, im Zuge von Verhandlungen über eine Regierungsbildung Wahlrechtsabsprachen mit dem Ziel zu treffen, den früheren Koalitionspartner einer Partei damit von der politischen Bildfläche verschwinden zu lassen.
— Ich will das einmal vorlesen, damit Sie das ganz begreifen. —
Ein solcher Trick ist mit Fairness im politischen Ringen nicht zu vereinbaren.
Ich bin weiter der Meinung, daß ohnehin Wahlrechtsänderungen nur von einem Bundestag verabschiedet werden sollten, wenn sie nicht für die nächste, sondern nur für die übernächste Bundestagswahl gelten,
8732 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Dezember 1966
Dr. Dehler
— also kein Übergangswahlrecht; kein Übergangswahlrecht, Herr Bundeskanzler, es ist keine gute Sache! —
weil nur dann Diskussionen über das Wahlrecht im Parlament, rein unter den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und der Zweckmäßigkeit und der politischen Wirkung eines Wahlrechts geführt werden, für die Weiterentwicklung der Demokratie und nicht im Blick auf den Schlitz der Wahlurnen schon für die nächste Bundestagswahl. Wahlrechtsdiskussionen muß man aus diesen rein parteitaktischen Erwägungen herausholen.
Ich bin im Zweifel, ob wir für die Sicherung einer stabilen Entwicklung in unserem Lande in der Weise, wie es manchen Christlichen Demokraten vorschwebt, das Mehrheitswahlrecht tatsächlich brauchen.
— „Ich bin im Zweifel", sagt Herr Erler. —
Die Frage ist ja sogar in der CDU keineswegs unumstritten. Große Teile der CDU halten das Mehrheitswohlrecht nicht für das geeigneteste Mittel für diesen Zweck und fürchten sogar für den Bestand ihrer Partei in einigen Gebieten der Bundesrepublik.
... Es gibt Länder, die trotz des Mehrheitswahlrechtes in politische Krisen hineingekommen sind, und es gibt andere Länder, wie die skandinavischen, die mit einem Verhältniswahlrecht zu einem außerordentlichen Maß an politischer Stabilität ... gekommen sind. Ich glaube, daß es eine falsche Vorstellung ist, allein mit dem Wahlrecht einen Gesellschaftskörper, der krank wäre, heilen oder einen gesunden Gesellschaftskörper vor Krankheiten schützen zu können. Das Wahlrecht ist dabei immer nur ein Faktor neben vielen anderen.