Ich würde jedenfalls sagen, daß das Ergebnis, das Sie schildern, nicht gegen denjenigen spricht, der 17 Jahre belagert hat, Herr Mende.
Aber um das Bild vollständig zu machen: Sie waren während dieser 17 Jahre teilweise draußen, teilweise drin, dann wieder draußen, dann wieder drin, und jetzt sind Sie gerade mal wieder draußen.
— Ja, es war nie so ganz klar, Herr Mischnick, auf welcher Seite Sie wirklich standen.
Ihre Kollegen waren einesteils bei der Besatzung und anderenteils bei der Belagerung.
Aber ich will das nicht fortsetzen. Herr Mende hat mich nur provoziert.
Ich möchte an den Gedanken, den ich eben vortrug, anknüpfen. Der Händedruck zwischen dem-Bundeskanzler Kiesinger und dem Vizekanzler Brandt leitete ein neues Kapitel der politischen Geschichte der Bundesrepublik ein. Dieser Händedruck bezeichnete eine von uns gewollte Veränderung der politischen Struktur in unserem Lande, in unserer Gesellschaft.
Auch hier dürfen wir mit einem gewissen Stolz auf ein sozialdemokratisches Dokument hinweisen, das schon sechs Jahre in der Welt ist. Willy Brandt hat 1960 in einer Rede auf dem Parteitag in Hannover gesagt: „Unser Volk muß sich mit sich selbst aussöhnen." Ich füge hinzu: Die so oft beschworene „Bewältigung der Vergangenheit" darf nicht bloß darin bestehen, daß wir unsere Jugend über den Zusammenbruch der ersten Demokratie in Deutschland, über den Krieg und über die Greuel der Konzentrationslager unterrichten. Auch dies ist wahrlich nötig zu tun. Aber die Bewältigung der Vergangenheit muß auch darin gesucht werden, daß wir heute miteinander zu leben und für morgen miteinander zu arbeiten lernen, ganz gleich, welchen der sehr vielfältigen politischen Lebens- und Erfahrungswege der einzelne Deutsche gegangen ist.
3718 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, ,den 15. Dezember 1966
Schmidt
Dann gibt es den zweiten Einwand von der FDP, die große Koalition verletze angeblich demokratische Grundsätze.
— Gut, ich nehme den Zuruf auf und setze statt „FDP" „Frankfurter Rundschau".
Der Einwand sagt, es würden angeblich demokratische Grundsätze verletzt bei einer so großen Regierungsmehrheit und einer so kleinen Opposition. Wir sagen dazu: Ein demokratisches Wahlrecht und der politische Wille eines Wählervolkes, das von diesem Wahlrecht Gebrauch gemacht hat, haben uns nun einmal lange Jahre hindurch eine prinzipiell gleichartige Dreieckssituation in diesem Hause beschert, bei der über weiteste Strecken an allen drei Ecken je eine zur Alleinregierung unfähige Fraktion stand, an jeder Ecke eine Minderheitsfraktion, abgesehen von den zeitlichen Ausnahmen, die Sie kennen.
Tatsächlich, Herr Kollege Mende, haben sich bisher zur Koalition immer nur die gleichen beiden Fraktionen zusammengefunden. Sie waren sich häufig nur darin wirklich einig, daß sie die sozialdemokratische Fraktion von der Regierungsverantwortung ausschließen wollten.
Es gab niemals einen demokratischen Grundsatz, der dies geboten hätte. Alle diejenigen von Ihnen, die heute die große Koalition beklagen, hätten damals 17 Jahre lang Zeit und Gelegenheit genug gehabt, ihre Tränen zu vergießen.
Es ist nicht die Aufgabe der Sozialdemokratie, in diesem Hause für eine starke Opposition zu sorgen — das sage ich jetzt an die Adresse mancher Kritiker draußen —, sondern die Aufgabe dieser Partei wie aller Parteien in diesem Hause ist, die politischen Ziele der Partei und ihrer Wähler so weit wie möglich zu verwirklichen.
Es gibt keinen demokratischen Grundsatz, der einer der Parteien in diesem Hause eine Regierungsbildung verwehrt, die sie für richtig hält, um ihre politischen Ziele zu verwirklichen.
Aber wir begrüßen, daß aus unserem angeblich noch so obrigkeitsfrommen Volk in Wirklichkeit doch so viele Stimmen laut geworden sind, die heute nach der Kraft und nach der Chance der Opposition in diesem Parlament fragen, nachdem sich eine so breite Regierungsmehrheit gebildet hat. Ich begrüße das. Nur kann jemand, der eine Regierung, bauen will, sie allerdings nicht nach Oppositionsbedürfnissen bauen, sondern Regierung muß nach den Möglichkeiten einer arbeitsfähigen Mehrheit gebildet werden.
Auch wir bedauern, daß in diesem durch die Bundestagswahl 1965 auf vier Jahre so in diesen Mehrheitsverhältnissen fixierten Parlament jetzt nur 50 Abgeordnete für die Funktion der Opposition verbleiben. Wir bedauern das. Aber, meine Herren von der FDP, Sie, die 50 Abgeordneten der FDP, sind vor einem Jahr mit dem ausdrücklichen und immer wieder öffentlich erklärten Willen in den Bundestagswahlkampf gezogen, daß Sie den anderen Parteien ausreichende Mehrheiten für eine Regierung, entweder durch die Union allein oder durch uns allein, verweigern wollten. Das wir Ihr Zweck.
Wir sind gezwungen, diesem negativen taktischen Ziel der FDP, nämlich der Verhütung eindeutiger Mehrheitsverhältnisse, nun notgedrungen eine eindeutige Regierungsmehrheit gegenüberzustellen, damit die Aufgaben wirklich erfüllt werden können, die hier von uns gelöst werden müssen.