Die Bundesregierung muß alljährlich einen Bericht über die Lage der Nation geben. Und ich füge hinzu: Das Ergebnis der heutigen Bestandsaufnahme wäre weniger enttäuschend, als es ist, wenn sie eher, wenn sie rechtzeitig, wenn sie regelmäßig vorgenommen worden wäre.
Die Haushaltszahlen aus dieser Bestandsaufnahme sind uns allen geläufig. Der Bundestag hat — was in der Öffentlichkeit nicht recht gewürdigt worden ist — in der vorigen Woche eine Deckungslücke von beinahe 3 Milliarden DM bereits eliminiert. Trotzdem bleibt immer noch für den Haushalt 1967 eine weitere Deckungslücke in etwa der gleichen Größenordnung zu bewältigen.
Wenn behauptet wird, das Ausmaß der finanziellen Misere hätte schon im Februar dieses Jahres dem Finanzbericht entnommen werden können, dann muß ich dem widersprechen. Erst die Bestandsaufnahme hat — auf unser unnachgiebiges Drängen hin — dazu geführt, daß ein zwischenzeitlich amtierender Finanzminister endlich die wirklichen Zahlen für die nächsten Jahre auf den Tisch legte. Und als er sie auf den Tisch legte, da trugen sie zu dem Zeitpunkt immer noch den Stempel „Streng geheim", den er dann allerdings gelöscht hat. Diese
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Zahlen haben auf beiden Seiten des Verhandlungstisches blankes Entsetzen ausgelöst. Denn der Finanzbericht 1966 vom Februar hatte die tatsächliche Lage verschleiert und beschönigt.
Demgegenüber ist es mein Freund Alex Möller gewesen, der seit Jahr und Tag vor dem Weg in die finanzielle Anarchie gewarnt hat. Ich muß wohl nicht die Frage aufwerfen, wer damals in diesem Hause über Möller gespottet und gelacht hat.
Vom Tage der finanziellen Bestandsaufnahme an mußte die Lage von allen Beteiligten unter wesentlich anderen Vorzeichen bewertet werden.
In diesem Hause ist bei mancher Gelegenheit so getan worden, als seien die Gemeinden an allem schuld. Heute stehen wir vor dem allseits anerkannten Tatbestand, daß die Finanznot der Gemeinden nicht anders bewertet werden muß als diejenige des Bundes. In dieser Lage befinden wir uns inzwischen. Die von uns und von anderen seit Jahren zur Neuordnung der finanziellen Verhältnisse von Bund, Ländern und Gemeinden verlangte Finanzreform ist bisher zu sehr mit der linken Hand behandelt worden.
Zur Bestandsaufnahme gehören auch die Alarmzeichen in der Wirtschaft. Seit 1958 haben wir eine Bergbaukrise, die bis heute nicht bewältigt ist. Ihre Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft und auf die innenpolitische Lage in bestimmten Teilen unseres Landes werden von Monat zu Monat bedenklicher. Sie haben inzwischen nicht nur ganze Wirtschaftsregionen, sondern auch den gesamten Stahlbereich der Bundesrepublik in Mitleidenschaft gezogen.
Inzwischen sind weitere Wirtschaftsbereiche auf dem Wege teilweise in die Stagnation, teilweise in die Schrumpfung. In der Automobilindustrie sind allenthalben Produktionseinschränkunngen angekündigt worden.
Die exotischen Zinssätze haben fast alle Investitionsgüterindustrien schwer beeinträchtigt. Das Baugewerbe — Hochbau wie Tiefbau — steht im kommenden Jahr vor einer bedenklichen Auftragsschrumpfung. Die Zuwachsraten der Gesamtindustrieproduktion sind im letzten Vierteljahr der Regierung Erhard erstmals negativ, das heißt: die Produktion der deutschen Industrie schrumpft gegenwärtig. Für das kommende Frühjahr werden von wirtschaftswissenschaftlichen Instituten in München und in Berlin 600 000 oder 700 000 Arbeitslose vorhergesagt. Die Sorge um den Arbeitsplatz breitet sich aus.
Das alles beleuchtet, wie sehr wir bereits durch die von Bundeskanzler Kiesinger mit Recht gekennzeichneten Versäumnisse auf eine schiefe Ebene geraten sind.
Zur Bestandsaufnahme gehört auch die Feststellung, daß in der bisherigen Verteidigungspolitik nach innen wie nach außen manches fragwürdig geworden ist. Innerhalb des Bündnisses sind wir in der strategischen Debatte in die Gefahr der Isolierung geraten. Chancen zu einer gleichwertigen und gleichartigen Reduzierung der Streitkräfte in Ost und West sind weder gesucht noch genutzt worden. Statt dessen mußte die Bundesrepublik all ihren politischen Einfluß aufbieten, um der Gefahr einer einseitigen Truppenreduzierung zu begegnen. Die Großmächte haben sich in zunehmendem Maße am Abschluß eines Atomwaffen-Sperrvertrages interessiert gezeigt; aber die Bundesrepublik geriet immer mehr in die Gefahr, als Störenfried angesehen zu werden. Sie hat allzu lange den Anschein erweckt, als erstrebe sie eine nationale Verfügungsgewalt oder doch zumindest einen Mitbesitz an Atomwaffen.
Unser Verhältnis zu den Vereinigten. Staaten wurde durch unhaltbare Versprechungen zum Devisenproblem auf eine schwere Probe gestellt. Das Verhältnis zu Frankreich war verkümmert — nicht nur durch deutsche Schuld, aber auch durch deutsches Mitverschulden.
In den Beziehungen zu den Nachbarn im Osten hatte es einige gute Ansätze gegeben, insbesondere die Friedensnote vom März dieses Jahres. Sie ist hier mit Recht schon zitiert worden. Aber es ist bei diesen Anfängen geblieben. Sie sind nicht weiter verfolgt worden.
In der Deutschlandpolitik sind seit dem Beginn der 50er Jahre Hoffnungen geweckt worden, von denen wir heute nach dieser Bestandsaufnahme leider sagen müssen, daß sie einstweilen nicht zu verwirklichen sind. Es ist nicht Schuld der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bundesregierungen, wenn menschliche Erleichterungen wieder abgebaut worden sind, die in der Vergangenheit zu gewissen Zeiten den Menschen im geteilten Land das Leben erleichtert haben. Gleichwohl bleibt aber doch die Frage offen, ob in der Vergangenheit wirklich alles getan wurde, was möglich und vertretbar war.
Wir Sozialdemokraten sind durch diese Ergebnisse der Bestandsaufnahme nicht überrascht. Wir haben sie seit langem befürchtet und kommen sehen. Ich darf an dieser Stelle ein sozialdemokratisches Dokument zitieren. Es lautet:
Die deutschen Lebensinteressen müssen in realistischer Einsicht in die Notwendigkeiten und Möglichkeiten konsequent und kraftvoll vertreten werden. In den Fragen der nationalen Existenz müssen die verantwortlichen politischen Kräfte . . . zusammenstehen.
Dank der Mitarbeit aller steht das staatliche Gefüge der Bundesrepublik Deutschland fest ... Doch drohen Selbstzufriedenheit, Selbstsucht, Mangel an Vorausschau und Führungslosigkeit das Erreichte zu gefährden und weitere Fortschritte zu hemmen.
Wenn sich unser Land in einer Welt entscheidender Wandlungen behaupten soll, müssen alle Energien und Fähigkeiten, die unser Volk birgt, mobilisiert, auf neue Ziele gerichtet und unverbrauchte politische Kräfte in die Staatsführung eingebracht werden. Das deutsche Volk muß die Möglichkeit haben, sein Vertrauen in die Regierungsautorität und in die Beständigkeit der Regierungspolitik zurückzugewinnen.
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Wagemut, Tatkraft, Opfersinn, Verantwortungsbewußtsein sind dafür notwendig. Diese Tugenden sind in unserem Volk lebendig. Es gilt, die rechten Wege zu den vordringlichen Aufgaben zu weisen.
Dieses Zitat stammt nicht aus den letzten Wochen, sondern aus der Erklärung der Regierungsmannschaft der Sozialdemokratischen Partei vom 8. Januar 1965. Sie werden mir zugeben, daß diese Worte auch heute noch genau so gelten wie damals vor zwei Jahren. Sie zeigen, daß die Sozialdemokratische Partei ihre Politik in ungebrochener Kontinuität verficht und auch heute dem Gebot folgt, das sie damals schon erkannt und ausgesprochen hat.
Ich verzichte darauf, die Entwicklung des letzten Jahres noch einmal in Einzelheiten nachzuzeichnen. Aber man muß doch aussprechen, daß der Schlußstrich unter die Führungslosigkeit der letzten 18 Monate schließlich von denen gezogen worden ist, die noch vor einem Jahr die alte Regierung gebildet hatten und die am 27. Oktober dieses Jahres durch ihren Austritt aus der Bundesregierung und am 10. November dieses Jahres durch Nominierung eines Kanzlerkandidaten an Stelle des damals noch amtierenden alten Bundeskanzlers schließlich den Zusammenbruch der alten Regierung herbeigeführt haben.
Wir haben am 8. November dieses Jahres in diesem Hause erlebt, daß eine Mehrheit, zu der auch eine der bisherigen Regierungsparteien gehörte — wenn man Sie so gehört hat heute morgen, Herr Mischnick, hatte man allerdings das Gefühl, Sie seien für nichts verantwortlich, was hier in Deutschland besteht —,
eine der Parteien gehörte, die Verantwortung für das trägt, was heute in Deutschland ist, bei der Aufforderung an den Bundeskanzler mitwirkte, die Vertrauensfrage zu stellen. Wir Sozialdemokraten haben diesen Prozeß der letzten Zeit ohne Schadenfreude, sondern vielmehr mit ernster Sorge registriert. Wie berechtigt diese Sorgen sind — die ja nicht nur wir haben, das weiß ich wohl —, die auch Sie teilen,
das zeigte sich z. B. in den Wahlen in Hessen und in Bayern. Dort hat sich erwiesen, daß die permanente Krise letztlich keine der Parteien des Deutschen Bundestages begünstigt hat, sondern daß diese permanente Krise ein Schaden für die innere Stabilität der Gesellschaft und des Staates werden könnte.
Lassen Sie mich zu den Erscheinungen, die da eine Rolle spielen, ein Wort sagen. In der Geschichte unserer Nation hat der Nationalismus keine einheitsbildende Kraft bewiesen. Für den Nationalisten war meist nur derjenige national gesinnt, der möglichst viele eigene Landsleute für Reichsfeinde hielt und sie verfolgte.
Nationalismus war immer begleitet von dem latenten Versuch einer inneren Spaltung der Nation und immer begleitet von dem Risiko der Isolierung nach außen.
Nationalismus zerstört die Nation. Dieses Hohe Haus bekennt sich in allen seinen Gliedern zur Nation, aber es will keinen Nationalismus.
Weil wir ihn alle nicht wollen, war es für das Schicksal unseres Volkes von entscheidender Bedeutung, daß die Krise so schnell wie möglich beendet wurde, daß Aktionswille und Autorität der Bundesregierung wieder sichtbar wurden, um den hier und da aufkeimenden extremen Tendenzen einen wesentlichen Nährboden zu entziehen. Wie schon am 8. Januar 1965 in dem zuvor zitierten Dokument gesagt: Dem deutschen Volk mußte die Möglichkeit gegeben werden, sein Vertrauen in die Autorität der Regierung und in die Beständigkeit der Regierungspolitik wiederzugewinnen.
Nachdem eine gegen die Sozialdemokratie gebildete Regierung schließlich zur permanenten Krise geführt hatte, war es klar, daß die Wiederherstellung der inneren Stabilität jedenfalls nicht ohne die Beteiligung der Sozialdemokraten möglich war. Die Sozialdemokratie besaß damit in diesem Herbst den Schlüssel zu jenem neuen Anfang, der inzwischen mit der Bildung der neuen Regierung und mit ihrer Regierungserklärung gemacht worden ist.
Neue Regierung — das konnte nicht bloß personelle Auffrischung, nicht bloß Fortschleppen liebgewordener Gewohnheiten mit vertauschten Rollen bedeuten, sondern das mußte bedeuten: Generalüberprüfung der Politik und Entwicklung einer Gesamtkonzeption, die der gegenwärtigen Lage angemessen ist. Die politisch vernünftigste und die demokratisch angemessene Konsequenz aus einer so grundlegenden Neuorientierung wäre nach unserer Überzeugung Neuwahl zum Deutschen Bundestag gewesen. Hierzu haben sich die beiden anderen Fraktionen nicht durchringen wollen. So blieb also unter den nun einmal bestehendeen relativen Mehrheits-
und Minderheitsverhältnissen in diesem Hause, die keiner der drei Fraktionen die Möglichkeit zu einer Alleinregierung bieten, nur der Weg, eine Lösung der gestellten Aufgaben auf der Basis einer Koalition zu suchen. Es war klar, daß nur eine neue Koalition mit neuen Führungspersonen in Betracht kam.
Wir Sozialdemokraten haben nicht gezögert, den in unserer Hand liegenden Schlüssel zu benutzen. Bereits am 2. November hat meine Fraktion durch Herbert Wehner von dieser Stelle aus ein AchtPunkte-Programm zur politischen Neuorientierung vorgelegt, das wir dann ausführlich erläutert haben und das später die Verhandlungsgrundlage in all den nachfolgenden sogenannten Sachgesprächen gewesen ist, die wir mit Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, und mit Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, geführt haben. Wir haben mit diesem Acht-Punkte-Papier den Anstoß zu jener klärenden Bestandsaufnahme der deutschen Politik gegeben, die wir lange Jahre vorher vergeblich gefordert hatten.
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Unser Vorschlag, daß sich alle drei Fraktionen gemeinsam zu dieser Bestandsaufnahme zusammenfinden sollten, ist von Ihnen akzeptiert worden, von Ihnen (zur CDU/CSU) aber nicht. Wir haben deshalb in zweiseitigen Gesprächen versuchen müssen, zu einer Klärung zu kommen. Wir haben diesen Weg offen und unvoreingenommen beschritten. Am Ende der Sachgespräche ergaben sich weitgehende Übereinstimmungen mit den beiden anderen Fraktionen über die tatsächliche Lage, dagegen weniger weitgehende Übereinstimmungen über die Wege der nunmehr zu verfolgenden neuen Politik.
Bei diesem Ergebnis war es nötig, von den Sachgesprächen zu eigentlichen Koalitionsverhandlungen überzugehen. Da der Gedanke einer Allparteienregierung, der einmal im Spiel war, keinerlei Resonanz fand, waren für uns Sozialdemokraten zwei Lösungen denkbar, entweder die kleinste Koalition mit den Freien Demokraten oder die Große Koalition mit der CDU/CSU.
Es ist unwahr, was jemand von der Seite der FDP gesagt hat: wir Sozialdemokraten hätten eine Koalition mit den Freien Demokraten von vornherein nicht gewollt.
— Ich weiß, daß Herr Mischnik es heute morgen nicht gesagt hat; aber andere haben es draußen im Lande gesagt. Lassen Sie mich das klarstellen; ich will Ihnen nichts unterstellen. Ein solch negativer Vorsatz auf unserer Seite wäre abwegig gewesen; denn für eine solche Koalition sprachen doch verlockende Aspekte. Wir hätten z. B. den Bundeskanzler gestellt; Herr Kiesinger säße nicht auf seinem Stuhl;
es säße an der Stelle ein Sozialdemokrat.
— Darauf komme ich.
Wir hätten in dieser Regierung eine sehr viel stärkere Position gehabt, als wir sie gegenwärtig haben. Wir hätten auch den Vorsatz zum Wandel und den Vorsatz zu einem Neubeginn in der deutschen Politik nach außen hin vielleicht noch augenfälliger in Erscheinung treten lassen können, als es jetzt geschehen konnte.
Es hat sich jedoch gezeigt, daß eine Koalition mit den Freien Demokraten nicht realisierbar war. Dies ergab sich keineswegs etwa allein aus der hauchdünnen Mehrheit von nur zwei Mandaten bei der Kanzlerwahl und nur sechs Mandaten bei Gesetzesabstimmungen. Vielmehr war — ich sage das in aller Kollegialität; ich will Ihnen wirklich dabei nicht zu nahe treten — die Stabilität einer solchen Koalition vor allem wegen der vielfältigen politischen und 'taktischen Meinungsunterschiede fragwürdig geworden, die wir innerhalb der FDP erkannt haben und die uns im Laufe der Verhandlungen ziemlich deutlich demonstriert worden sind.
Darüber hinaus mußten wir allerdings feststellen, daß in wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik, aber auch der Finanzpolitik kein zulängliches, ich will besser sagen: kein verläßliches Übereinkommen mit der FDP zu erreichen war. Auch der ganz zweifellos vorhandene beste Wille der Fraktionsführung der Freien Demokratischen Partei hätte in kritischen Situationen die Gefahr eines Auseinanderfallens dieser Koalition oder abweichende Entscheidungen einzelner Mitglieder dieser Koalition nicht auszuschließen vermocht.
Allerdings hätte nun das Scheitern des riskanten Experiments einer Koalition der Sozialdemokratie mit den Freien Demokraten nicht nur uns, sondern dann dem ganzen Volk geschadet;
denn es hätte all die negativen Folgen der Regierungskrise vom Herbst 1966 wiederholt, verlängert und potenziert.
Es ist Ihnen, verehrte Kollegen von der FDP, schon gesagt worden — und ich darf es hier von dieser Stelle aus wiederholen —: Meine Fraktion hat sich diese Erkenntnis und diese Entscheidung wahrlich nicht leicht gemacht. Wir haben ungezählte Stunden mit der Analyse der Situation und mit der Diskussion dieser Analyse zugebracht. Im Ergebnis jedoch sind wir zu einer klaren Meinungsbildung gekommen.
Ich darf an dieser Stelle den Vorsitzenden meiner Fraktion, Fritz Erler, zitieren, der in einem Brief an Willy Brandt noch vor der endgültigen Entscheidung unserer Gremien dazu folgendes geschrieben hat:
Ich weiß, daß unsere Unterhändler sich redlich bemüht haben, ein Zusammengehen mit den Freien Demokraten zustande zu bringen. Das hat sich leider nicht als realisierbar erwiesen.
Erler zitiert dann eine Kölner Zeitung, die sich in einem langen Aufsatz zugunsten einer solchen Koalition eingesetzt hatte, und verweist auf den dort leicht zu übersehenden Kernsatz:
Würde sie jedesmal
— eben eine solche Koalition —
vor wichtigen Debatten und Beschlüssen am Rande einer Abstimmungsniederlage lavieren, so sollte sie lieber gar nicht erst anfangen. Weitgehende Übereinstimmung in der Finanz- und Wirtschaftspolitik ist die Voraussetzung für eine funktionierende Regierung aus Sozialdemokraten und Freien Demokraten.
Fritz Erler schreibt, diese Voraussetzung sei leider nicht erfüllt, und er fährt dann fort:
Wir haben jetzt die Chance der Änderung. Sie
wäre bei einem Zusammengehen mit der FDP
größer gewesen, wenn sich dies hätte verwirk-
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lichen lassen. Da das nicht der Fall ist, dürfen wir die andere Chance nicht ausschlagen.
Ich gebe gern zu, daß das keine Liebeserklärung an die Adresse der CDU/CSU ist, aber das soll es auch nicht sein, meine Damen und Herren!
Wir haben dann in der Tat diese andere Chance, von der Fritz Erler spricht, ergriffen. Diese Koalition, diese andere Chance, auf die wir dann bewußt, energisch und entschlossen zugegangen sind, nachdem wir lange genug beraten hatten, sie stellt für die Bundesrepublik Deutschland etwas völlig Neuartiges dar. Wir sind uns dessen sehr bewußt. Die Sozialdemokratie hat nach 36 Jahren erstmals wieder Regierungsverantwortung für das ganze deutsche Volk übernommen. Wir haben seit der Gründung der Bundesrepublik darum gerungen, nicht nur in der Rolle der kontrollierenden Opposition, sondern in der Rolle der handelnden Bundesregierung das Schicksal der Nation formen zu helfen. Wir haben darum gerungen, aber bis zur vorletzten Woche war meine Partei auf die Regierung in Ländern und Gemeinden beschränkt. Wir haben dort gezeigt, was wir können. Wir haben dabei reiche Erfahrungen gesammelt.
Wir haben 17 Jahre lang vergeblich die Festung der Bundesregierung belagert. Jetzt hat man uns die Tore öffnen müssen.
— Ich höre da eben den Zwischenruf „Kapitulation". Wenn einer etwa von einer Kapitulation der SPD spräche, so verkennt er gewiß, Herr Moersch, den wahren Hergang. Tatsächlich hat hier keiner von beiden kapituliert. Das ist ein ganz falsches Wort.
— Einen Satz noch, Herr Mende! — Es handelt sich in Wahrheit um einen von beiden großen Fraktionen dieses Hauses gewollten Brückenschlag über einen inzwischen gefährlich tief gewordenen Graben.
Herr Mende, wer es mit der inneren Aussöhnung unseres Volkes ernst meint, muß eigentlich diesen Brückenschlag begrüßen.