Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin wieder einmal, kurz vor der Weihnachtszeit, in der angenehmen Lage, manchen Ausführungen des Kollegen Stingl zustimmen zu können; manches von dem, was er gesagt hat, kann ich unterstreichen. Bei manchen Schlußfolgerungen kommen wir Sozialdemokraten aber zu anderen Ergebnissen.
Es ist richtig: wir haben die achte Rentenanpassung. Wir möchten aber mit aller Deutlichkeit feststellen, daß auf diese Rentenanpassung für die Versicherten ein Rechtsanspruch besteht, der bei den Rentenneuregelungsgesetzen beschlossen worden ist, und zwar — ich muß es wieder einmal sagen — oft sogar gegen den härtesten Widerstand der Koalition bzw. auch von Teilen der CDU. Wir haben damals festgelegt, daß die Renten eine Lohnersatzfunktion haben sollen; das ist in etwa auch durchgeführt worden. Man muß aber dabei auch berücksichtigen, daß die Lohnersatzfunktion nicht echt ist, Herr Kollege Stingl, weil nämlich eine nachträgliche Anpassung vorgenommen wird. Tatsächlich liegt die Rentenanpassung hinter der wirklichen Lohnentwicklung zwei bis drei Jahre zurück. Das muß bei dieser Debatte einmal gesagt werden.
Wir meinen auch, daß heute — 1965 — langsam der Zeitpunkt gekommen ist, wo man sich überlegen sollte, ob man nicht auch die Bestandsrenten der gleichen Prozedur unterwerfen muß, wie den Rentenzugang. Man sollte die Frage prüfen und möglichst eine automatische Anpassung an die jeweiligen Lohnentwicklungen nach den Feststellungen des Sozialbeirats beim Arbeitsministerium festlegen.
Erfreulicherweise hat sich das System dieses Gesetzes und haben sich auch seine Ausgaben in solchen Grenzen gehalten, daß wir unsere Voraussage bestätigt sehen und daß es deshalb nicht mehr notwendig ist — und 1957 schon nicht war —, daß etwa der Herr Bundeskanzler, damals als Bundeswirtschaftsminister, der Rentendynamik die „Giftzähne" ausbricht.
Aber bei aller wohlwollenden Betrachtung darf man nicht verkennen, daß das Ziel der Rentenreform immer noch nicht erreicht worden ist, nämlich das große Ziel, auch den auf ein Renteneinkommen angewiesenen Menschen am Ende ihres Arbeitslebens eine Rente zu gewähren, die 75 % des durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes beträgt. Was haben wir tatsächlich erreicht? Wir sind heute, nachdem die Zahl schon niedriger war, glücklicherweise wieder bei 50 % dieses Durchschnittsverdienstes angelangt. Es ist bedauerlich, daß weder der Sozialbericht der Bundesregierung noch das Gutachten des Sozialbeirats über diese bedauerliche Tatsache etwas aussagt. Wir hätten gewünscht, daß auch dieser Problemkreis einmal in den Mittelpunkt gestellt worden wäre.
Herr Kollege Stingl, Sie haben auch in diesem Jahr die Höhe der Durchschnittsrenten so bewegt dargelegt. Aber was steckt denn hinter den von Ihnen vorgetragenen Prozentzahlen? Was bedeuten diese Zahlen für die betroffenen Menschen, für ihre Lebenshaltung und für ihre Lebensgestaltung im allgemeinen? Diese Frage muß man in einen solchen Zusammenhang stellen. Dabei ist von Bedeutung, daß wir heute in der Invaliden- und Angestelltenversicherung — bei eigener Versicherung — noch folgende Rentenhöhen haben: bei den Männern in der Invalidenversicherung haben 36,3 % der Rentenempfänger eine Rente unter 200 DM, und 64,9 % der Empfänger einer Rente haben eine Rente unter 300 DM. Das ist doch eine aussagekräftigere Zahl, die die Dinge ganz anders erscheinen läßt, als es die von Ihnen genannten Durchschnittsrentenzahlen tun. 88.3 % aller Rentenempfänger in der Invalidenversicherung — ich betone: aus eigener Versicherung und nach einer jahrzehntelangen Beitragszahlung — bekommen eine Rente unter 400 DM. Bei der Angestelltenversicherung sieht es nicht viel anders aus. Dort sind es 15.7 % mit einer Rente unter 200 DM, 32.9 % unter 300 DM und 51,4 % unter 400 DM.
Wenn ich erst die Frauenrenten — aus eigener Versicherung, nicht etwa Witwenrenten — betrachte, zeigt sich, daß dort das Bild noch düsterer ist.
— Ich komme noch darauf, Herr Kollege Stingl. Es wird noch düsterer. Ich sage Ihnen nachher, warum das so düster aussieht. — 99,5 % der Frauenrenten sind in der Invalidenversicherung unter 300 DM. Das muß man sehen. Nur ganze 0,5 % haben einen Rentenbetrag zwischen 300 DM und 400 DM. Und warum denn?
Weil diese Frauen früher, als der Gleichheitsgrundsatz noch nicht gegolten hat, eben weniger ver-
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dient und sicher auch weniger Beiträge gezahlt haben.
Wir haben Ihnen einen entsprechenden Vorschlag bei der Regelung der Härtenovelle zur Verbesserung dieses schlechten Ergebnisses unterbreitet. Leider haben Sie diesen Vorschlag abgelehnt. Diese Zahlen, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind viel beweiskräftiger als etwa die genannten Durchschnittsrenten.
— Herr Kollege Ruf, Sie müssen etwas lauter rufen. Ich würde mich freuen, wenn ich Sie verstehen könnte.
Meine Damen und Herren! Besonders gravierend wirkt bei diesen niedrigen Renteneinkommen die Misere der fortgesetzt steigenden Preise. Die steigenden Preise treffen gerade die Rentnerhaushalte, die Menschen mit diesem geringen Einkommen wesentlich stärker als solche, die mehr verdienen. Wir haben allein im letzten Jahr, im Jahr 1965, eine Erhöhung der Lebenshaltungskosten für die ZweiPersonen-Rentnerhaushalte von 4 % festgestellt, nach dem amtlichen Index. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß 50 % der Erhöhung der Renten um 8,3 bzw. 8,9 v. H. schon fast ein ganzes Jahr vorweg verbraucht worden sind, bevor die Renten überhaupt erhöht werden. Für die Einkommensgruppe unter 200 DM haben sich die Lebenshaltungskosten sogar um 7,4 % erhöht. 90 % der Rentenerhöhung sind diesem Personenkreis allein schon durch diese Preisentwicklung weggenommen.
Diese Preiserhöhungen, meine sehr verehrten Damen und Herren, waren besonders stark auf einem Gebiet, das in erster Linie die Bundesregierung beeinflußt hat und auch künftig positiv beeinflussen könnte, wenn sie dazu den Willen hätte. Es waren in erster Linie die Güter des starren Bedarfs für die Rentnerhaushalte, die sich in dieser Weise verteuert haben. Es waren insbesondere die Maßnahmen der EWG, die Mieten, die Verkehrsmittel und eine ganze Fülle anderer Dinge; ich will Ihnen das gar nicht im einzelnen aufzählen. Die Bundesregierung hat es unterlassen, für eine aktive Preispolitik einzutreten.
ln einem solchen Zusammenhang helfen Appelle nicht, zumal dann nicht, Herr Kollege Ruf, wenn sie ständig an die falsche Seite gerichtet werden, nämlich an den Teil, der mit seinem mehr als niedrigen Einkommen von vornherein nicht nur zum Maßhalten, sondern manches Mal zu etwas mehr gezwungen ist. Das sollte man in diesem Zusammenhang auch einmal sagen.
Man muß vor allen Dingen bedenken, daß dieser Personenkreis bei dieser ungeheuren Preisentwicklung nicht etwa auf Beziehungskäufe ausweichen kann, wie es vielfach Menschen mit einem hohen oder ganz hohen Einkommen mit Leichtigkeit können. Da müssen all diese Preiserhöhungen aufgenommen werden, weil sie die ganz normalen Lebenshaltungskosten betreffen. Aber da hätte die Regierung eben Maßnahmen ergreifen müssen und es nicht so machen dürfen, wie es der Herr Innenminister, der jetzige Landwirtschaftsminister, Herr Höcherl, getan hat, der sagt, für einen Antrag bei der EWG zur Regulierung der Preise sei es jetzt zu spät. Sie hätten eben den Vorschlägen der SPD auch in der Vergangenheit ein bißchen mehr folgen müssen!
Mein Freund Dr. Schiller hat das noch einmal mit aller Deutlichkeit herausgestellt.
Aber, meine Damen und Herren, daß die Maßhalteappelle keinen Sinn gehabt haben und nicht gefruchtet haben, das ist nicht nur eine sozialdemokratische Feststellung. Das wird auch noch durch die Feststellung des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" erhärtet, der in seinem Gutachten ganz deutlich gesagt hat — ich will es noch einmal wiederholen —, daß die Maßhalteappelle keinen Erfolg hatten. Meine Damen und Herren, entscheidend ist nicht die relative Höhe der Rente, sondern die Kaufkraft, also das, was man für die Rente kaufen kann. Wenn die Kaufkraft so verfällt und keine Maßnahmen ergriffen werden, dann ist das besonders prekär. Hier meine ich, Herr Kollege Stingl, daß der Herr Bundeskanzler mit seiner „formierten Gesellschaft" beginnen und ein bißchen dafür sorgen könnte, daß gerade in diesem Bereich die Menschen ein anderes Einkommen bekommen. Aber zuweilen erhebt sich sogar der Eindruck, daß die Bundesregierung gar nicht den Willen zur Preisstabilität und zur Preisfestlegung hat, weil sie aus den steigenden Preisen und nachher aus den nachhinkenden Löhnen mehr Steuern zur Erfüllung mancher Aufgaben erhält.
Noch ein Wort zu der Frage des Geldwerts. Auch der Herr Kollege Stingl hat darauf aufmerksam gemacht, durch die Rentenerhöhungen wird die Geldwertstabilität nicht in Frage gestellt, weil aus den erhöhten Löhnen in der Vergangenheit schon erhöhte Beiträge an die Rentenversicherung gezahlt worden sind, ganz zu schweigen von den steigenden Rentenbemessungsgrundlagen und ganz zu schweigen von der Neufestsetzung für die Versicherungspflichtgrenze in der Angestelltenversicherung, die wir in der Härtenovelle vorgenommen haben. Der Sozialbeirat fürchtet, daß die Schere zwischen der Lohnentwicklung und der Rentenentwicklung größer wird. Das gilt es für die künftige Zeit zu verhindern.
Meine Damen und Herren! Die Solidargemeinschaft der Versicherten hatte einen großen Teil der Lasten aufzunehmen, dies sei in aller Klarheit festgestellt. Sie hat die Beitragssteigerung von 5,9 % im Jahre 1953 auf 14 % seit dem Jahre 1957 auch hingenommen in dem Wissen, daß das solidarische Einstehen füreinander die Möglichkeit gibt, in späterer Zeit ebenfalls eine solche Rentenleistung zu erhalten. Ich will besonders herausstellen, daß zur gleichen Zeit der Anteil, den der Staat pro Rente gewährt, eine rückläufige Tendenz zeigt, wie das überhaupt bei allen sozialen Einrichtungen zu beobachten ist. Für die soziale Sicherheit hatten wir 1953 5,7 v. H. des Sozialprodukts an Beiträgen
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aufzuwenden. Bei verhältnismäßig sinkenden Ausgaben des Bundes ist dieser Beitrag aber schon 1962 auf 8,2 % gestiegen.
Die Situation wird aber noch prekärer dadurch, daß die Schuldverschreibungen von 750 Millionen DM der Rentenversicherung die Erfüllung ihrer Aufgaben außerordentlich erschweren. Das trifft sowohl für die Vorsorgemaßnahmen als auch für landespolitische Aufgaben zu. Ich möchte den Herrn Arbeitsminister fragen, was denn der Beirat zu diesen Schuldverschreibungen ausgeführt hat, ob man ihn um seine Meinung gefragt hat und ob er dann seine Meinung mitgeteilt hat.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nur noch sagen, daß ich keinerlei Verständnis für Ihr Verhalten bezüglich unseres Antrags auf Nichtanrechnung von Rentenleistungen habe. Es gibt zwar einige technische Schwierigkeiten, aber Ihre Argumentation ist insofern falsch, als Sie bei jeder Rentengruppe die gleichen Argumente gebrauchen. Wenn wir über die Erhöhung der Kriegsopferrenten diskutieren, sagen Sie: Das kann man nicht in diesem Bereich regeln; das muß man im Rentenbereich regeln. Wird aber über die Rentenerhöhung debattiert, argumentieren Sie gerade umgekehrt. Sie hätten zumindest in diesem Jahr unserem Antrag folgen können, wenn das zutrifft, was der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in der letzten Legislaturperiode verkündet hat, nämlich daß in diesem Jahre die Kriegsopferrenten dynamisiert werden sollen. Dann wäre dieses Problem gelöst. Hier gibt es also keine Ausrede. Das sollte mit aller Deutlichkeit gesagt werden. Da geht es nicht um eine Tradition, sondern um eine Festlegung. Es handelt sich auch nicht nur um den Eindruck draußen, sondern es ist einfach wahr, wenn man sagt, daß die eine Hand etwas gibt, was die andere mehr oder weniger verschämt oder unverschämt wegnimmt. Aber dazu wird mein Kollege Killat noch Näheres ausführen.
Um was geht es uns für die Zukunft? Uns geht es zunächst einmal darum, daß die Rentenversicherung, die Sozialversicherung überhaupt, die Möglichkeit hat, den Menschen gesund und arbeitsfähig zu erhalten. Mein Freund Erler hat das in der Aussprache über die Regierungserklärung deutlich zum Ausdruck gebracht. Es geht vor allem auch darum, den Menschen, die ein Leben lang gearbeitet, Beiträge gezahlt haben, wenn sie aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden sind, eine Lebensmöglichkeit zu geben, die den Bedürfnissen und den Möglichkeiten des zweiten Drittels des 20. Jahrhunderts entspricht.
Wir meinen, wir sollten so entscheiden und diese Dinge bei den weiteren Beratungen dieses Gesetzes nicht vergessen.