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    Deutscher Bundestag 7. Sitzung Bonn, den 29. November 1965 Inhalt: Überweisung an den Haushaltsausschuß . . 69 A Erweiterung der Tagesordnung . . . . . 69 B Abwicklung der Fragestunde . . . . . . 69 B Fragestunde (Drucksache V/38) Frage des Abg. Biechele: Versuche zur Vermeidung von Gesundheitsschäden durch Auspuffgase Grund, Staatssekretär . . . . . 69 D Biechele (CDU/CSU) 70 A Frage des Abg. Biechele: Versuche mit CO-Kontrollplaketten Grund, Staatssekretär 70 B Biechele (CDU/CSU) 70 C Fragen des Abg. Dr. Kliesing (Honnef) : Änderung der Regelung des § 14 Kraftfahrzeugsteuergesetz Grund, Staatssekretär 71 A Frage des Abg. Ertl: Verhandlungen über die Agrarfinanzierung in Brüssel Grund, Staatssekretär 71 B Ertl (FDP) 71 B Frage des Abg. Dr. Schmidt (Wuppertal) : Steuerrechtliche Gleichbehandlung der Bandweber mit Gewerbetreibenden Grund, Staatssekretär . . . . . . 71 C Dr. Schmidt (Wuppertal) (CDU/CSU) 72 A Fragen des Abg. Folger: Erhebung der Sektsteuer Grund, Staatssekretär . . . . . . 72 B Felder (SPD) . . . . . . . . . 72 C Frage des Abg. Genscher: Bewertung von Halb- und Fertigfabrikaten 72 C Frage des Abg. Genscher: Anerkennung der Unterstellkosten für Kfz in Parkhäusern etc. in der Nähe des Arbeitsplatzes als Werbungskosten . . 72 C Fragen des Abg. Dr. Marx (Kaiserslautern): Schießplatz in Landstuhl, Kreis Kaiserslautern Grund, Staatssekretär . . . . . . 72 D Frage des Abg. Dr. Marx (Kaiserslautern): Entschädigung für Nutzungen von Forstflächen durch alliierte Streitkräfte 72 D II Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Montag, den 29. November 1965 Fragen des Abg. Dr. Wuermeling: Kürzung der Ausbildungszulage Grund, Staatssekretär . . . . . . 73 A Dr. Wuermeling (CDU/CSU) . . . . 73 C Dröscher (SPD) . . . . . . . 74 B Westphal (SPD) . . . . . . . . 74 C Frage des Abg. Sanger: Bericht über die Konzentration in der Wirtschaft Dr. Langer, Staatssekretär . . 74 D Sänger (SPD) 75 A Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . 75 C Fragen der Abg. Flämig und Dr. Tamblé: Maßnahmen zur Verhinderung eines durch längeren Stromausfall etwa entstehenden Chaos' Dr. Langer, Staatssekretär 76 A, 76 C Flämig (SPD) 76 B Fragen der Abg. Frau Schanzenbach:. Industrieansiedlungen im badischen Grenzland — Lieferbedingungen für neue Stromkraftwerke am Oberrhein . 76 D Frage des Abg. Dr. Müller-Hermann: Referenzpreise für Orangen Höcherl, Bundesminister 76 D Dr. Müller-Hermann (CDU/CSU) . 77 A Frage des Abg. Schmitt-Vockenhausen: Bekämpfung von Tierseuchen Höcherl, Bundesminister 77 C Fragen des Abg. Schwabe: Roggenmischbrot 77 C Frage des Abg. Dröscher: Beteiligung des Landes Rheinland-Pfalz an Mitteln aus dem Ausrichtungs- und Garantiefonds der EWG Höcherl, Bundesminister . . . . . 77 D Frage des Abg. Schmidt (Braunschweig) : Einfuhr von Zuckerschnitzeln Höcherl, Bundesminister . . . . . 77 D Fragen der Abg. Frau Dr. Krips: Verteuerung der Apfelsinen durch Referenzpreise Höcherl, Bundesminister . . . . . 78 A Frau Dr. Krips (SPD) . . . . . . 78 B Frage des Abg. Ertl: Verspätetes Erscheinen der Richtlinien für die landwirtschaftliche Anpassungshilfe Höcherl, Bundesminister . . . . 78 C Ertl (FDP) 78 C Frage des Abg. Ertl: Mittel für bauliche Maßnahmen in der Landwirtschaft Höcherl, Bundesminister 78 D Ertl (FDP) . . . . 78 D Fragen des Abg. Bading: Anpassungsbeihilfe für landwirtschaftliche Betriebsinhaber Höcherl, Bundesminister . 79 A, 79 B Bading (SPD) . . . . . . . . . 79 B Fragen des Abg. Leukert: Bindungsermächtigung in Höhe von 120 Mio DM für die ländliche Siedlung Höcherl, Bundesminister 79 D Leukert (CDU/CSU) . . . . . . 79 D Fragen des Abg. Reichmann: Ausformdaten für Butter Höcherl, Bundesminister 80 B Reichmann (FDP) . . . . . . . 80 B Fragen des Abg. Wächter: Notwendigkeit einer einheitlichen Regelung betr. Attestierung des Freiseins von Maul- und Klauenseuche bei der Einfuhr von Zucht- und Nutzvieh Höcherl, Bundesminister 80 C Wächter (FDP) . . . . . . . . . 81 A Fragen des Abg. Büttner: Moderne Mastmethoden bei Hühnern, Kälbern und Schweinen Höcherl, Bundesminister . 81 B, 81 D Büttner (SPD) . . . . . 81 B, 82 A Frage des Abg. Schmitt-Vockenhausen: Tierquälerische Methoden der fabrikmäßigen Aufzucht von Tieren Höcherl, Bundesminister 82 B Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . . 82 B Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Montag, den 29. November 1965 III Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung in Verbindung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung des Haushaltsausgleichs (Haushaltssicherungsgesetz) (Drucksache V/58) Dr. Barzel (CDU/CSU) 82 C Erler (SPD) 91 C Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundeskanzler 106 C Freiherr von Kühlmann-Stumm (FDP) 110 D Dr. Althammer (CDU/CSU) . . . . 119 B Dr. Schiller (SPD) 127 C Nächste Sitzung 136 D Anlagen 137 A Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode 7. Sitzung. Bonn, Montag, den 29. November 1965 69 7. Sitzung Bonn, den 29. November 1965 Stenographischer Bericht Beginn: 14.03 Uhr
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    Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Dr. Arndt /Berlin /Köln 2. 12. Bäuerle 29. 11. Dr.-Ing. Balke 29. 11. Frau Berger-Heise 7. 12. Dr. Birrenbach 2. 12. Blachstein 30. 11. Dr. Czaja 29. 11. Deringer 29. 11. Diekmann 29. 11. Eisenmann 29. 11. Dr. Freiwald 29. 11. Fritz /Welsheim 29. 11. Dr. h. c. Güde 2. 12. Haar /Stuttgart 29. 11. Hilbert 2. 12. Hörmann /Freiburg 30. 11. Jaschke 2. 12. Dr. Koch 29. 11. Koenen /Lippstadt 31. 12. Kubitza 29. 11. Lemmer 29. 11. Lücker /München * 30. 11. Marquardt 2. 12. Mauk * 30. 11. Memmel 29. 11. Dr. h. c. Menne /Frankfurt 29. 11. Dr. h. c. Dr.-Ing. Möller 29. 11. Dr. Morgenstern 29. 11. Dr. Müthling 30. 11. Paul ** 29. 11. Peters /Norden 29. 11. Rawe 8. 12. Dr. Reischl 29. 11. Röhner 30. 11. Sander 29. 1.1. Frau Schanzenbach 31. 12. Frau Schimschok 31. 12. Schmidt /Würgendorf 2. 12. Schultz 2. 12. Seither 29. 11. Dr. Siemer 30. 11. Spillecke 2. 12. Spitzmüller 2. 12. Dr. Vogel 29. 11. Dr. Wahl ** 3. 12. Wienand 29, 11. Dr. Wörner 3. 12. Zerbe 2. 12. b) Urlaubsanträge Kriedemann 31. 12. * Für die Teilnahme an einer Ausschußsitzung des Europäischen Parlaments ** Für die Teilnahme an einer Ausschußsitzung des Europarats Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Schriftliche Ergänzung zu den mündlichen Ausführungen des Abgeordneten Dr. Walter Althammer Gesetzentwürfe und kostenwirksame Anträge aus der SPD-Fraktion in Mio DM IV /273 Gesetz über die Gewährung von Sparbeiträgen 360 IV /415 Gesetz über die Ausbildungsförderung 750 IV /468 Bundeskindergeldgesetz 220 IV /562 2. Gesetz zur Änderung und Verbesserung des Mutterschutzgesetzes . 590 IV /694 Flüchtlingsgesetz 900 IV /1850 3. Wohnungsbaugesetz 800 IV /1855 Europäisches Jugendwerk 50 IV /1947 3. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Altershilfe für Landwirte 210 IV /2005 Änderung der Zuschußrichtlinien für Straßenbaumaßnahmen der Gemeinden 110 IV /2338 Kredit- und Bürgschaftsprogramm gegen Luftverschmutzung 15 IV /2575 Schiffbarmachung der Saar 48 IV /2608 Kindergeldgesetz - hier Wegfall der Einkommensgrenze - 780 IV /2626 Änderung des Gesetzes über Wohnbeihilfen 40 IV /2687 Änderung des Vermögensbildungsgesetzes 170 IV /2770 Änderung des Gesetzes über Weihnachtszuwendungen 90 IV /2782 Gesetz zur Änderung des Postverwaltungsgesetzes 820 IV /2822 Marktstrukturgesetz 600 IV /2751 Änderung des Bundesfernstraßengesetzes 40 IV /3605 Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz 500 dazu Einnahmeausfälle IV /64 Zuckersteuer 110 IV /65 Kaffeesteuer 1 000 IV /66 Teesteuer 32 IV /2047 EStG, erschwerte Haushaltsführung 273 IV /2687 Änderung des Vermögensbildungsgesetzes 170 IV /2782 Änderung des Postverwaltungsgesetzes 600 9 278 138 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Montag, den 29. November 1965 Abzusetzen Einnahmeerhöhungen entspresprechend den Anträgen IV /722, 1569, 1567 — 358 insgesamt 8 920 Bei den Anträgen IV /2687 und 2782 wurden Mehrkosten und Einnahmeausfälle getrennt aufgeführt. Mehrkosten nicht zu beziffern IV /358 Änderung des II. Vierjahresplanes zum Ausbau der Bundesfernstraßen (in 4 Jahren 3 Mrd. DM mehr) IV /406 Beseitigung sozialer Härten aus der Währungsreform IV /1347 Abzugsfähigkeit von Ausbildungskosten IV /1494 Förderung von Wissenschaft und Forschung IV /2332 16. Änderungsgesetz zum UStG
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Lothar Haase


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Nach dem Eingeständnis des Kollegen Lemmer wollten Sie erstmal die Wahl gewinnen und dann sehen, wie es aussieht.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Dennoch hat die Koalition 15 Mandate verloren, während die sozialdemokratische Opposition deren 13 gewonnen hat.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben sich mehr versprochen!)

    Auch wenn uns eine größere Stärkung lieber gewesen wäre, ging die Regierungskoalition geschwächt aus der Wahl hervor, die Opposition dagegen gestärkt.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Majonica: Ist aber Opposition geblieben, Herr Erler! — Weitere Zurufe von der Mitte.)




    Erler
    Das wird sich politisch auswirken — neben all den Problemen, die dem Kanzler durch die Opposition in den eigenen Reihen und seine eigene unklare Führung ohnehin gestellt sind.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir danken den 13,8 Millionen Wählern im freien Teil Deutschlands, die uns 217 sozialdemokratische Abgeordnete durch ihr Vertrauen hierher entsandt haben. Wir wollen und werden es nicht enttäuschen. Wir werden uns in unserer Arbeit leiten lassen von dem, was wir für unser ganzes deutsches Volk für notwendig halten — also auch zum Wohle derer, die uns ihre Stimme noch nicht gegeben haben, wie zum Wohle derer, die durch fremde Gewalt daran gehindert sind, überhaupt an einer freien Wahl zur deutschen Volksvertretung teilzunehmen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Regierungserklärung fällt — und darin unterscheidet sie sich insbesondere zu ihrem Nachteil von der soeben gehörten Rede unseres Kollegen Barzel — gegen die des Jahres 1963 ab. Zahlreiche Ankündigungen von damals sind nicht wiederzufinden, obwohl sie nicht verwirklicht wurden. Offenbar kann und will man diese Ankündigungen nicht mehr verwirklichen. Die guten Vorsätze über das Verhältnis zu den geistigen Kräften unseres Volkes oder zur demokratischen Opposition sind vom Kanzler selbst in der Hitze des Wahlkampfs verbrannt worden. Mit ein paar dürftigen Lippenbekenntnissen kann das nicht glaubwürdig wiederhergestellt werden.

    (Lebhafter Beifall von der SPD.)

    Der Nimbus vom Volkskanzler ist dahin.

    (Erneuter Beifall bei der SPD. — Lachen bei der CDU/CSU.)

    Diese Regierung hat keinen Anspruch auf eine neue Bewährungsprobe.

    (Lachen in der Mitte.)

    Es ist ja die alte!

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Wir haben zwei Jahre Zeit gehabt, zu sehen, was die Regierung Erhards an Wahlgeschenken einzubringen fähig war und was sie an Notwendigem unterließ. Und schließlich war der jetzige Kanzler ja auch vor zwei Jahren kein Neuling in der Regierung. Daß wir ihm dennoch eine faire Chance boten, wurde schlecht gelohnt. Die Zerstrittenheit der Koalition und die mangelnde Entschlußkraft des Kanzlers spiegeln sich in seiner schwunglosen Erklärung wider.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wo Übelstände gegeißelt werden, fehlt die Angabe von Roß und Reiter. Welche verzünftelten sogenannten Besitzstände z. B. sind eigentlich gemeint? Welche partiellen Interessen bedrohen unsere Leistungsgemeinschaft von innen? Welche Subventionen sind zu großzügig, und wo gibt es Nachsicht gegenüber protektionistischen Forderungen? Welche Unternehmen oder Branchen sollen nicht mehr künstlich erhalten werden? Oder sind etwa die
    Kollegen Strauß und Guttenberg jene Einzelgänger, deren illusionäre Aussagen nicht mehr verantwortbar seien, oder wer sonst?

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    So könnte ich weiter fragen — aber Antworten bekäme ich doch nicht. Denn Präzision ist nicht des Kanzlers starke Seite,

    (Beifall bei der SPD)

    und außerdem könnte sie auch Händel bringen. So muß eben ein wohldosierter, etwas wolkiger Gemeinplatz jenen Mut vortäuschen, an dem es in Wahrheit fehlt.
    In einer Richtung allerdings war die Regierungserklärung klar: Gegen die Arbeitnehmer.

    (Zustimmung bei der SPD. — Lachen und Zurufe bei den Regierungsparteien.)

    Die einzigen ausdrücklich als kürzbar genannten Subventionen sind die Sozialaufwendungen. Die einzige klare Aussage überhaupt betrifft die Ablehnung einer Ausweitung der Mitbestimmung. Überall sonst wird wenigstens Prüfung angekündigt. Hier nicht einmal dies. Hier wird gleich verworfen. Dabei ist der Kanzler inkonsequent. Er wehrt sich nämlich gegen die Aushöhlung der Mitbestimmung. Also kann sie so schlecht nicht sein. Von Abs über Adenauer das ganze Alphabet hindurch hört man, sie habe sich bewährt, sie habe dem Arbeitsfrieden, der Steigerung der Produktivität und damit der Wettbewerbsfähigkeit gedient und ein der modernen Industriegesellschaft angemessenes Partnerverhältnis von Kapital und Arbeit geschaffen. Fremdes Kapital ist aus den betroffenen Bereichen nicht wegen der Mitbestimmung abgeflossen, sondern nach wie vor in hohem Maße an der deutschen Montan-Industrie beteiligt. Oder hat der Kanzler etwa andere Informationen? Deshalb sollte die Regierung von den angebotenen Möglichkeiten einer unbefangenen Prüfung durch die vorgeschlagene vom Herrn Bundespräsidenten zu berufende Sachverständigenkommission Gebrauch machen, bevor sie sich festlegt. Das stünde ihr um so besser an, als das CDU-Präsidium am 18. Januar 1965

    (Zuruf von der SPD: Vor der Wahl!)

    sich positiv zur Erweiterung der Mitbestimmung geäußert hat.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Würde die Regierung ohne Prüfung verwerfen, dann würde es sich wieder schlicht um einen der zahlreichen Wortbrüche der Wählerschaft gegenüber handeln.

    (Beifall bei der SPD.)

    Vielleicht kann der Herr Bundeskanzler seine Parteifreunde Katzer, Grundmann und Dufhues einmal nach ihren Erfahrungen als Aufsichtsräte in mitbestimmten Industrieunternehmen befragen.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Nach den seinerzeit von dem Gewerkschaftsführer
    Böckler vertretenen Grundsätzen geht es doch wohl
    darum, daß die Gewerkschaften keine bloße Lohn-



    Erler
    und Tarifmaschine sein, sondern überall dabei sein wollten und sollten, wo an unserem Wiederaufbau mitgewirkt wird. Menschenwürde ist mehr als bloßes Konsumentendasein. Dabei war es klar, daß diese Bestrebungen — das möchte ich hier ausdrücklich betonen — nicht als Hintertreppe zur Übernahme der Unternehmen mißbraucht werden können und dürfen.
    Sehr seltsam muß dem Wirtschaftsprofessor bei seiner Forderung nach Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit um eine Stunde zumute gewesen sein. So einfach geht das — als ob es im Bergbau keine Feierschichten gäbe und man ohnehin nicht weiß, wohin mit den Kohlenhalden; als ob in der Stahlindustrie nicht Überkapazitäten und verkürzte Arbeitszeit Probleme wären und als ob es nicht doch wohl auf die tatsächliche und nicht auf die tarifliche Arbeitszeit ankäme; denn deren Verlängerung allein wäre nur ein verschleierter Lohnabbau ohne volkswirtschaftliche Mehrleistung.

    (Beifall bei der SPD.)

    Um diese Mehrleistung aber geht es — zu Recht. Das ist aber nicht einfach eine Frage der Länge der Arbeitszeit, sondern eine Frage des wirtschaftlichen Ergebnisses. Wie sehr das auseinanderfallen kann, sehen wir ja an der Regierungserklärung selbst: Sie war — übrigens ohne tarifliche Vereinbarung — eine Stunde länger, aber es stand weniger drin. Das war offenkundig die Buße für die vor der Wahl angekündigte 35-Stunden-Woche.

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Und wenn wir an die volkswirtschaftliche Gesamtleistung denken — auf die es ankommt —, dann sollte sich der Kanzler hinsichtlich der Arbeitszeitdauer auch einmal von Arbeitsphysiologen informieren lassen. Dann kann man die betrübliche Tatsache nicht einfach übergehen, daß etwa 62 % der arbeitenden Männer und 75 % der arbeitenden Frauen vor Vollendung des 65. Lebensjahres invalide werden. Pfleglicher Umgang mit der Arbeitskraft entscheidet auch über die Lebensleistung, nicht nur über die Stundenleistung.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Notwendigkeit der volkswirtschaftlichen Leistungssteigerung ist unbestritten. Der Weg dahin ist nicht ganz so simpel, wie der Regierungschef es darstellt.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Eine einseitige Politik gegen die Arbeitnehmer führt bestimmt nicht zum Ziel. Ihr guter Wille ist wie beim Aufbau der Vergangenheit unentbehrlich. Aber nur dann kann eine Regierung diesen Wert nutzen, wenn sie sich nicht zum Scharfmacher der Gegenseite macht. Ohne ein Klima vertrauensvoller Zusammenarbeit auch und gerade mit den Gewerkschaften sind die Probleme der volkswirtschaftlichen Leistungssteigerung nicht zu lösen. Der Kanzler hat im Wahlkampf alles getan, um dieses Klima zu zerstören.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Und die anderen nicht?)

    Es wird schwer sein, es wiederherzustellen. (Erneute Zurufe von der CDU/CSU.)

    Die Regierungserklärung deutet leider nicht auf Besserung hin. Der Regierungschef muß Gesprächspartner, aber nicht Partei in dem Ringen der verschiedenen sozialen Gruppen sein.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Rasner: Wie Herr Brenner!)

    — Herr Brenner ist Partei und nicht Regierungschef. Das ist doch der Unterschied; den bitte ich sehr wohl einzusehen.

    (Abg. Rasner: Herr Brenner ist Partei?!)

    — Weder Herr Brenner noch Herr Berg können leugnen, daß sie in diesem Ringen Partei sind, und wehe dem Regierungschef, der sich dann einseitig nur auf die Seite des einen oder des anderen schlagen würde!

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Schlägt der Regierungschef sich eindeutig auf eine Seite, so beraubt er sich selbst einer wichtigen ausgleichenden Funktion in der modernen Industriegesellschaft.
    Oder zieht der Herr Bundeskanzler vielleicht an Stelle unserer verantwortlich am Wiederaufbau mitwirkenden Gewerkschaften die Situation der meisten anderen westlichen Länder mit wesentlich mehr Arbeitskämpfen und daraus herkommenden Produktionsausfällen vor? Dann muß er sagen, welches System er vorzieht.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Natürlich ist es für die Regierung einfacher, allgemeine Appelle an alle zu richten, statt konkret zu sagen, was sie in ihrer Zuständigkeit selber zu tun gedenkt. Sie verspricht jetzt, vor allem zu prüfen und manchmal auch zu helfen, aber sie sagt nicht, wie. Dabei ist jetzt schon der Widerspruch sichtbar zwischen Wort und Tat so, wenn etwa der Wohnungsbau fortgeführt werden soll, aber gleichzeitig die Mittel gekürzt werden, oder wenn in einem bemerkenswert ausführlichen Kapitel — dem ich zustimme — der Nutzen der auswärtigen Kulturpolitik betont wird, obwohl gerade die Regierungsparteien die Mittel hierfür erbarmungslos beschnitten haben.
    Der Kanzler verlangt — wie auch früher — die Festlegung von Prioritäten, eine Rangfolge der Aufgaben. Das ist richtig. Aber er legt keine fest, obwohl er zwei Jahre Zeit dazu hatte. Die ganze Regierungserklärung liest sich wie der Ausspruch des österreichischen Generalstabschefs im Jahre 1 866 nach dem preußischen Einmarsch: Meine Herren, da muß doch was g'schehen! Er wußte nur nicht, was.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Aufschlußreich ist, was die Regierung schönfärberisch verschweigt. Zuversicht ist eine gute Sache, aber sie darf nicht in Selbsttäuschung entarten. Hier hat erfreulicherweise der Kollege Barzel heute einiges ergänzt. Nach der Regierungserklärung aber sind u. a. die folgenden Probleme überhaupt nicht vorhanden: die Krise der NATO, die Krise der EWG,



    Erler
    die Verschlechterung der außenpolitischen Position der Bundesrepublik Deutschland, die wachsende Neigung anderer, Probleme vorab zu unserem Nachteil zu entscheiden, deren Regelung zum Frieden für ganz Deutschland gehört, die zweite industrielle Revolution

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    — Sie lachen; Sie sind mitten drin! —, die Krise im Kohlenbergbau, das Zurückbleiben von Bildung und Forschung hinter den Erfordernissen unserer Zeit — das hängt nämlich mit der belachten zweiten industriellen Revolution zusammen, falls Sie das noch nicht gemerkt haben sollten —,

    (Beifall bei der SPD)

    'die unzureichende finanzielle Ausstattung der Gemeinden und deren dadurch entstandene Schuldenlast, das schnellere Sinken der Kaufkraft unserer 'D-Mark in den letzten beiden Jahren als je zuvor und die Verantwortung der Regierung für das von ihr selbst geschaffene finanzielle Chaos.

    (Oho-Rufe bei der CDU/CSU.)

    Über die meisten dieser Dinge wird so eisern geschwiegen, als gelte immer noch der Spruch zur Wahl: Augen zu — wählt CDU!

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ich merke, Ihnen macht es Spaß, daß ich endlich einmal die Aufforderung des Kollegen Barzel so ernsthaft befolge.

    (Erneute Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Herr Kollege Barzel hat zu einigen dieser Fragen ein paar nachdenkliche Kapitel beigesteuert, deren Studium man der Exekutive nur empfehlen kann. Hoffentlich werden daraus auch die richtigen Nutzanwendungen gezogen. Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten das von der Regierungsbank gehört.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Aber zu einigen Punkten, Herr Kollege Barzel, z. B. zum Thema der Geldwertstabilität muß ich Ihnen sagen: etwas weniger Selbstgefälligkeit wäre der Lage gerade heute angemessener gewesen.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Barzel: Herr Kollege Erler, würden Sie meinen, daß Ihre Vorschläge der Lage angemessener wären?)

    — Aber sicher.
    Statt dessen haben wir in der Regierungserklärung den seltsamen Satz vom Ende der Nachkriegszeit gehört. Natürlich stellen sich mit dem Abschluß des wirtschaftlichen Wiederaufbaus neue Probleme. Aber die 17 Millionen unserer Landsleute als Geiseln in fremder Hand und das in den Gerichtssälen bloßgelegte Grauen einer schrecklichen Zeit mit allen Verstrickungen in Schuld und Verbrechen, die Sorgen der Opfer des Krieges und der Verfolgung zeugen davon, daß Gewaltherrschaft und zweiter Weltkrieg noch keine völlig abgeschlossenen Kapitel unserer Geschichte sind.

    (Beifall bei der SPD.)

    An ihren Folgen trägt unser deutsches Volk noch heute. Das bleibt wahr, obwohl die Welt, in der wir leben, sich unerhört rasch verändert. Alte Konzepte und Formeln reichen für diese unsere Welt nicht aus.
    Das neue technische Zeitalter hat ungeahnte Möglichkeiten, aber gleichzeitig damit auch Gefahren geschaffen. Aufgabe schöpferischer Politik ist es, die Möglichkeiten zu nutzen und die Gefahren zu bannen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Aber wie?!)

    Die Entwicklung der Kernenergie verändert industrielle Standorte, erweitert unsere Produktionsfähigkeiten und erschließt neue Produktionsverfahren, — sie kann aber auch das Ende der Menschheit auslösen. Die Automation steigert die Ergiebigkeit der Arbeit und damit die Lebenshaltung aller, — sie kann zum Fluche werden, wenn nicht vorausschauend gehandelt wird und die sozialen, erzieherischen und wirtschaftspolitischen Voraussetzungen und Folgen rechtzeitig bedacht und vorbereitet werden. Menschlicher Forschergeist dringt in immer neue Horizonte vor. Das Zeitalter der Raumfahrt hat begonnen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Nein! — Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

    -- Das steht nun sogar in der Regierungserklärung. Ich verstehe Ihre Heiterkeit nicht ganz.
    Ein hochentwickeltes Industrieland wie das unsere wird — auch ohne jeden übertriebenen Ehrgeiz — sich nicht von der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung auf diesem Gebiet fernhalten können,

    (Zuruf von der Mitte: Sagen Sie es Herrn Lohmar!)

    wenn es nicht die zukünftige Leistung seiner Wirtschaft gefährden und seine begabtesten und wagemutigsten technischen Gehirne an andere verlieren will. Die Ergiebigkeit von Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungen hat das Leben der Menschen in den modernen Industriestaaten in den letzten 20 Jahren stärker verändert als im Jahrhundert zuvor. Unsere inneren Probleme nehmen sich dennoch klein aus angesichts von Hunger und Elend dort, wo die Zahl der Esser schneller wächst als die Nahrungsmittelproduktion. Die Bevölkerungsexplosion ist zu einer brennenden Sorge geworden.
    Unabhängigkeit allein stillt keinen Hunger, beseitigt keine Seuchen. Für viele junge Staaten hat eine schwere Prüfungszeit begonnen. Stolz und Leidenschaften aller Art lösen Konflikte aus und Wirren. Der uns drückende Ost-West-Konflikt wird überlagert von dem Nord-Süd-Gegensatz zwischen den entwickelten Industriestaaten der gemäßigten Zonen und den südlich davon darbenden vielen hundert Millionen Menschen der Entwicklungsländer. Mit ihrem Einzug in die Weltpolitik verändern sich die



    Erler
    Gewichte. Wenn wir nicht Verständnis haben für die Probleme der anderen und ihnen gegenüber unser Wort halten, werden wir bei unserem Ringen um Selbstbestimmung, Einheit und Freiheit vergeblich an jene Solidarität appellieren, die wir so bitter nötig 'brauchen.
    So ist Deutschland bei dieser Umwandlung unserer Welt kein bloßer Zuschauer. Wir tragen ein Stück Verantwortung mit. Dabei geht es nicht nur um eine natürliche menschliche Solidarität und schon gar nicht nur um Almosen, sondern um eine gemeinsame Aufgabe und um wohlverstandenes eigenes Interesse. Auch wer keine Weltmacht ist, wird vom Weltgeschehen berührt. Eine weltpolitische Explosionskatastrophe könnte uns alle verschlingen. Jene Hilfe, welche andere Völker befähigt, sich später selbst zu helfen und aus eigener Kraft ein menschenwürdiges Dasein zu erarbeiten und stabile politische Verhältnisse zu schaffen, ist eine wohlangelegte Versicherungsprämie — von der wachsenden Aufnahmefähigkeit kaufkräftiger werdender Märkte für unsere Erzeugnisse einmal ganz abgesehen.
    Haben wir in der Bundesrepublik Deutschland diese neuen Dimensionen der menschlichen Gesellschaft schon erkannt? Sind wir bereit, für unser eigenes Haus daraus die nötigen Folgerungen zu ziehen? Bestimmt nicht, wenn wir meinen, unsere innere Entwicklung sei ein Sonderfall oder — wie der Kanzler meint — gar ein deutsches Modell. Alle modernen Industriegesellschaften — Herr Kollege Barzel hat das mit Recht gesagt — stehen heute vor den gleichen Herausforderungen und damit vor ähnlichen Problemen. Überall geht es um neue Horizonte, auch wo man dies die neuen Grenzen nennt. Überall handelt es sich um die Modernisierung von Staat und Gesellschaft, um ihre Anpassung an die Herausforderungen unserer Zeit und um die Stellung der Menschen darin als bewußte Mitgestalter unserer freiheitlichen Ordnung.
    Der soziale Rechtsstaat in einer voll entwickelten demokratischen Gesellschaft, Verfassungsgebot und Ideal zugleich, gibt hierfür den richtigen Rahmen. Darin können Konflikte am besten und ohne gewaltsame Erschütterungen gelöst werden.
    Unsere reich gegliederte Gesellschaft darf nicht atomisiert werden. Die Freiheit des Bürgers geht 'verloren, wenn er nur als Einzelwesen der staatlichen Macht gegenübersteht. Deshalb müssen wir ja sagen zum machtverteilenden Prinzip unserer bundesstaatlichen Ordnung, zur Gemeindefreiheit und zu dem Wirken der vielfältigen Organisationen, in denen sich unsere Bürger zu den mannigfaltigsten Zwecken zusammenschließen. Wer — wie das leider geschieht — das freiwillige Wirken in diesen Organisationen verketzert, indem er glaubt, gegen „die Funktionäre" — damit meint er dann immer die auf der anderen Seite — ohne nähere Bezeichnung wettern zu können, der zerstört ein wichtiges Stück freiwilliger demokratischer Mitwirkung in unserem Lande.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ohne die Mitwirkung der Wissenschaft ist kein klares Bild von den Notwendigkeiten unserer Zeit zu gewinnen. Aber die Wissenschaft kann nur Alternativen bieten. Die politische Entscheidung nimmt sie der Regierung und uns in diesem Hause nicht ab. Zusätzlich zu der hergebrachten Nutzung der Erkenntnisse der Volkswirtschaftslehre, der Soziologie, der Rechtswissenschaft für unser politisches Handeln müssen wir, um die Freiheit der Menschen vor neuartigen Gefahren zu schützen, uns mit den Vorgängen bei der Bildung von Meinungen, mit den Unterschieden von Information und Propaganda, mit der wachsenden Bedeutung der Psychologie in unserer Zeit, ja mit allem befassen, was die Wissenschaft heute über den Menschen auszusagen vermag. Wer diese Probleme nicht erkennt, kann auch den daraus entspringenden Gefährdungen der Freiheit nicht wirksam begegnen.
    Nur von einer umfassenden Gesamtvorstellung her erhalten die einzelnen Aufgaben und Maßnahmen ihren richtigen Platz und Sinn. Dann erst ergeben sich Prioritäten; dann erst wird klar, daß ein Regierungsprogramm mehr sein muß als die Erfüllung von Gruppenwünschen oder die Aufzählung von Ressortzuständigkeiten. Dann erst wird auch klar, daß diese großen Aufgaben unserer inneren Ordnung das Herzstück wirklicher Politik sind. Ohne ihr beherztes Anpacken hat die Bundesrepublik Deutschland auch außenpolitisch keine ausreichende Statur. Leider wird ja oft in der öffentlichen Meinung nur der Außenpolitik der Rang des Politischen zuerkannt und der Zusammenhang zwischen moderner Innenpolitik, gesunder Gesellschaftsstruktur und außenpolitischer Handlungsfähigkeit übersehen.
    War nun, meine Damen und Herren, von einer solchen Gesamtbeurteilung der Lage unseres Volkes in den Umschichtungsprozessen unserer Zeit und von den daraus hergeleiteten Einzelaufgaben in der Regierungserklärung auch nur ein Hauch zu verspüren? Nein! Die vagen Andeutungen über die sogenannte formierte Gesellschaft sind hierfür kein Ersatz. Das wissen Sie alle. Geradezu erheiternd ist die Erläuterung, daß die Menschen aus Einsicht tun sollen, was sowieso ihrem eigenen Wohle dient. Das scheint mir keine taufrisch-neue Erkenntnis zu sein. Die undeutlichen Formeln des Kanzlers sind sehr reziplikativ. Sie werden fragen, was das heißt.

    (Lachen in der Mitte.)

    Das heißt gar nichts; das spricht sich nur so schön

    (Beifall und große Heiterkeit bei der SPD.)

    Eine deutsche Zeitung forderte mit Recht, daß Ludwig Erhard in seiner Regierungserklärung präzise Auskunft darüber gebe, wie er sich diese formierte Gesellschaft in concreto vorstelle und welche praktischen Maßnahmen er dabei im Auge habe. Sie schreibt wörtlich — ich zitiere —:
    Bis jetzt hat er mit seiner schillernden Vision nur Unordnung gestiftet. In seinem Interesse liegt es, allen Mißbräuchen den Boden zu entziehen, Wenn er dazu nicht in der Lage ist,



    Erler
    sollte er sich schleunigst von dieser merkwürdigen Vokabel trennen.
    So weit das Zitat des „Industriekurier". (Beifall bei der SPD.) Dem ist nichts hinzuzufügen.
    Der Kanzler glaubt, Marxens so oft verlästertes Ziel der klassenlosen Gesellschaft erreicht zu haben. In einem Staat, in dem Arbeiter- und Landkinder nur einen geringen Bruchteil der Studierenden und damit der künftigen Führungsschicht stellen, scheint mir dennoch einiges nachzuholen zu sein. Für die Modernisierung der Bundesrepublik Deutschland bedarf es großer Anstrengungen bei Bildung und Forschung, bei dem Gesamtgebiet Städtebau, Verkehr, Raumordnung und Strukturpolitik, bei zeitgemäßer Gesundheitsvorsorge und bei Abrundung unseres Gebäudes der sozialen Sicherheit. Für unseren künftigen Lebensstandard wird ein gesundes Gleichgewicht von privaten Anstrengungen und den Leistungen der öffentlichen Hand entscheidend sein. Individuum und Gemeinschaft sind keine Gegensätze; sie müssen zusammenwirken.
    Bei den notwendigen Investitionen auf diesen Gebieten darf man nicht nur fragen, was sie kosten, sondern auch und gerade was ihre Unterlassung kostet. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit wird abhängen von dem aus unserem Bildungswesen erwachsenden Stand der Wissenschaft und Technik. Sie wird auch abhängen von einem gesunden Wachstum unserer Wirtschaft durch eine Strukturpolitik, welche regionale Reserven erschließt, den Blutkreislauf des Güter- und Personenverkehrs den Anforderungen unserer Zeit anpaßt und es unseren Bürgern ermöglicht, ihre Kräfte an der für sie selber und für unsere Gemeinschaft ergiebigsten Stelle einzusetzen. Und schließlich wird unsere Wettbewerbsfähigkeit davon abhängen, daß die Gesundheit unserer Menschen länger erhalten bleibt als heute.
    Daß eine angemessene Beteiligung künftiger Generationen an den Kosten dieser für ihr künftiges Leben wichtigen Investitionen immer schwieriger wird, ist unbestritten. Verantwortlich dafür ist jene Regierungspolitik, die unter anderem mit der Kuponsteuer den Kapitalmarkt zerrüttete

    (Zurufe von der Mitte)

    und durch die Finanzpolitik zurückliegender Jahre die Gemeinden zur Verschuldung, oft bis zur Höchstgrenze, zwang,

    (Beifall bei der SPD)

    als der Bund noch seinen außerordentlichen Haushalt durch Überschüsse des ordentlichen Haushalts finanzierte und zusätzliches Vermögen aus Steuermitteln in der Form bildete, daß er mehr Darlehen auslieh als aufnahm.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    So ist die Finanzreform, die Aufteilung der Finanzmasse auf Bund, Länder und Gemeinden entsprechend ihren wirklichen Aufgaben, der Schlüssel zur Lösung der genannten Aufgaben überhaupt.
    Was sagt nun die Regierungserklärung zu diesen Aufgaben aus? Ihre klare Einordnung in ein Gesamtkonzept fehlt, und es bleibt im wesentlichen bei unbestimmten Appellen und Ankündigungen. Die Bundesregierung sagt nicht, wie sie dazu beitragen will, daß alle jungen Menschen die ihrem Bildungswillen, ihrer Begabung und Neigung entsprechende Ausbildung erhalten. Hoffentlich meint sie übrigens Bildung und Ausbildung — nicht nur Ausbildung —, denn ohne ein breites Bildungsfundament würde bloßes Spezialistentum zu geistiger Verarmung führen und der Demokratie ein Lebenselement fehlen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Eine moderne Jugendpolitik gehört hierzu. Sie muß durch Heranführen an eigene Verantwortung die Bildungsarbeit ergänzen. Dazu braucht man alle für die Jugend tätigen staatlichen und privaten Kräfte als Partner. Ohne das Vorbild der Führenden ist das Engagement der jungen Generation für die Demokratie nur schwer zu erreichen. Gerade sie müssen demokratisches Verhalten üben und sollten nicht nur in Regierungserklärungen, sondern auch. in Wahlkämpfen der anderen Meinung wenigstens den Respekt nicht versagen, auch wenn sie sie nicht teilen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Ausschöpfung der Begabungsreserven ist eine alte sozialdemokratische Forderung. Die Leistung unserer Wirtschaft wird davon abhängen. Den jungen Menschen sind wir gleiche Startchancen schuldig. Der Rang unseres Volkes unter anderen Völkern wird davon mehr bestimmt als von militärischer Kraft allein.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wie schwer haben wir Sozialdemokraten landauf landab gegen die konservativen Kräfte um Selbstverständlichkeiten kämpfen müssen: von der Schulgeld-, Lehr- und Lernmittelfreiheit über das neunte Schuljahr bis zur leistungsfähigen Mittelpunktschule auf dem Lande; alles mußte gegen Ihren (zu den Regierungsparteien) Widerstand durchgeführt werden.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Zuruf von der Mitte: Sie haben auch keine Bedenken gegen die Inflation gehabt! — Weitere Zurufe von der Mitte.)

    — Ich weiß, daß das weh tut. Aber das müssen Sie auch einmal ertragen.
    Qualitativ ist unser Arbeitsmarkt noch nicht ausgeschöpft. Die Vorausschau darf nicht nur die materiellen Produktionsfaktoren bedenken, sondern muß auch auf die menschlichen Reserven eingehen. Die heute Schulentlassenen werden bis über das Jahr 2000 im Arbeitsleben stehen. Was heute an ihnen unterlassen wird, geht unserer Leistungsfähigkeit über Jahrzehnte verloren.

    (Zurufe von der Mitte.)

    Wie steht denn die Bundesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeiten jetzt zur Verbesserung des Honnefer Modells? Warum sind immer noch nicht die vorhandenen kulturpolitischen Zuständigkeiten des Bundes in einem Ministerium zusammengefaßt



    Erler
    worden? — Ich gönn's dem Kollegen Stoltenberg; er wäre dafür der richtige Mann. — Welche anderen Wünsche will die Regierung begrenzen um des Vorranges von Bildung und Wissenschaft willen? Wird die Bundesregierung mit den Ländern eine nationale bildungspolitische Konzeption erarbeiten? Wird sie bei der Neuordnung der Finanzverfassung den Ländern und Gemeinden ermöglichen, ihre Aufgaben im Rahmen einer solchen anerkannten nationalen Bildungspolitik voll zu erfüllen?
    Ohne enge Zusammenarbeit mit den Ländern und Gemeinden, ja heute auch den Europäischen Gemeinschaften, ist auch keine Strukturpolitik, keine Raumordnung, keine Verkehrspolitik, keine Neugestaltung der Städte und Gemeinden möglich. Noch fehlt hierfür das finanzielle Fundament.
    Es bleibt schleierhaft, wie der soziale Wohnungsbau vom Bund fortgeführt werden soll, wenn die Bundesmittel hierfür gestrichen werden. Solange es an Wohnungen fehlt, gibt es noch keinen Markt, muß die Fortsetzung der öffentlichen Förderung des sozialen Wohnungsbaus eine öffentliche Aufgabe bleiben. Aber der gesamte Wohnungsbau wird immer schwieriger und das Mietniveau immer unerträglicher, wenn nicht endgültig der Bodenspekulation Einhalt geboten wird.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)

    Die Bundesregierung kündigt regionalpolitische Maßnahmen an, womit doch wohl die Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Struktur in den Zonenrandgebieten, im Grenzland und in den übrigen strukturell schwach entwickelten Gebieten gemeint ist. Mit der anderen Hand wird dieses Versprechen zurückgenommen, indem es von — nicht näher präzisierten — Einsparungen an anderer Stelle abhängig gemacht wird.
    Der Umstellungsprozeß der deutschen Verkehrswirtschaft ist in vollem Gange. Die Anpassung an die Marktverhältnisse der EWG wird mit dem Auslaufen der zweiten Übergangsperiode von Rom immer dringender. Diese Entwicklung verlangt klare politische Entscheidungen, die es der verladenden Wirtschaft und den Verkehrsträgern ermöglichen, langfristig zu disponieren.
    Ziel einer vernünftigen Verkehrspolitik muß die Aufteilung des Verkehrsstroms nach der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Verkehrsträger sein. Voraussetzung einer solchen sinnvollen Aufgabenteilung nach Leistungsfähigkeit ist die Herbeiführung gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle Verkehrsträger im deutschen und westeuropäischen Verkehrsmarkt. Die Bundesregierung hat — da hier soeben nach Detaillierung gerufen wurde — zur Verkehrspolitik einige gute Vorsätze verkündet, aber nichts über die Durchführung gesagt. Wir sind gespannt auf weitere Beiträge zur Debatte von der Regierungsbank her. Welche in ihrer Erklärung erwähnte Initiative hat denn die Regierung wirklich ergriffen, um den Gemeinden bei der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse zu helfen? Das Bundesbahndefizit ist genauso wenig neu wie die Regierung oder gar der Bundesverkehrsminister.

    (Beifall bei der SPD.) Warum werden wieder nur Pläne angekündigt statt vorgelegt? Über den Straßenbauanteil an der Mineralölsteuer war genauso wenig zu hören wie über das Transportpreisniveau oder die Wettbewerbsverzerrung.

    Für die Erhaltung des kostbaren Gutes Gesundheit ist mehr nötig als die in der Regierungserklärung angekündigte Fortsetzung der bisherigen Politik. Gesundheitsvorsorge kommt in der Regierungserklärung nur als Teil einer Zwischenüberschrift vor, im Inhalt überhaupt nicht. Dabei ist sie der Kern dessen, was heute not tut. Neue Bundeszentralen für die Aufklärung der Bevölkerung sind neben den von der Regierung hierfür bereits finanzierten Einrichtungen auf dem Gesundheitsgebiet nicht nötig. Ein Ausbau der Arbeitsmedizin z. B. wäre sinnvoller.
    Von der Förderung des Sports scheint sich die Regierung ganz zurückziehen zu wollen. Sie will die Frage erörtern, heißt es. Vom Bundesanteil am „Goldenen Plan" ist gar nicht mehr die Rede.
    Kürzlich meldete dpa folgende gute Erklärung zum Sozialstaat:
    Von den tragenden Grundprinzipien der Verfassung sei das Grundprinzip der Sozialstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland am wenigsten fertig und abgeschlossen. ... Der sozialstaatliche Verfassungsauftrag sei erst dann erfüllt, wenn man bei ehrlicher Prüfung sagen könne, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht nur ein demokratischer Staat und ein Rechtsstaat, sondern auch ein Sozialstaat im Sinne der Verfassung sei.
    Dieses Zitat stammt nicht von einem sozialdemokratischen Sprecher, sondern vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Franz Meyers. Es steht, meine Damen und Herren, in einem direkten Gegensatz zu den seit Jahren von den Regierungsparteien vertretenen und heute vom Kollegen Barzel aufgegebenen Auffassungen über die angeblich bereits erreichten Grenzen des sozialen Rechtsstaates.
    Unser bewährtes System der Alterssicherung muß abgerundet und vervollkommnet werden. Der einzige umfassende Vorschlag, der auf bewährten Grundlagen aufbaut, den bisher ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen den Zugang ermöglicht und die noch bestehenden Ungerechtigkeiten beseitigt sowie das komplizierte Recht wesentlich vereinfacht, findet sich in unserem Dokument über die Volksversicherung vom 26. April 1965.

    (Lachen bei den Regierungsparteien.)

    — Ich empfehle Ihnen, es einmal zu lesen. Sie werden dann feststellen, daß es nichts mit dem vom Kanzler beschworenen Schreckgespenst eines staatlichen Totalversicherungssystems zu tun hat.

    (Zuruf von der Mitte: Das ist doch mit eine Kostenfrage!)

    — Auch dieses Kapitel ist in unserem Dokument eingehend behandelt. Ich empfehle es dringend Ihrer Aufmerksamkeit.
    Zur Reform der Krankenversicherung enthält die Regierungserklärung fast nichts, außer der Fest-,



    Erler
    stellung, daß nicht an eine rechtliche Gleichstellung der Arbeiter bei der Lohnfortzahlung gedacht sei. Wir meinen, daß gleiches Recht und Menschenwürde zusammengehören. Der Grundsatz eines Ausgleichs der Belastungen der Betriebe auf versicherungsrechtlicher Grundlage bleibt auch bei arbeitsrechtlicher Lohnfortzahlung unbestritten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Regierungserklärung enthält kein Wort über die rechtliche Gleichstellung der Zonenflüchtlinge mit den Vertriebenen. Aber auch deren soziale und menschliche Situation erfordert unvermindert unsere Solidarität. Für sie ist nämlich die Nachkriegszeit leider auch noch nicht zu Ende.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die bei der Ankündigung einer 19. Lastenausgleichsnovelle gemachten Vorbehalte widersprechen den Erklärungen der Regierungsparteien vor der Wahl.

    (Sehr richtig! beider SPD.)

    Wir halten u. a. nach wie vor eine angemessene Angleichung der Hauptentschädigung, die Anpassung der Unterhaltshilfe an die allgemeine Einkommensentwicklung und die Altersversorgung der ehemals Selbständigen für dringend geboten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Beseitigung ungerechter Stichtage, die Eingliederung des vertriebenen Landvolks und die Familienzusammenführung verdienen unser besonderes Augenmerk genauso wie die Pflege des kulturellen Heimaterbes unserer vertriebenen und geflüchteten Landsleute.

    (Zuruf von der Mitte.)

    Es wäre übrigens ganz gut, wenn man beim Lastenausgleichsfonds endlich einmal einwandfreie und nicht lediglich zu diesem Zweck zugeschnittene Aufstellungen über die wirkliche Einnahmen- und Ausgabenentwicklung der nächsten Jahre bekäme. Sie wissen genau, daß die Vorausschätzungen der Regierungen bisher nie gestimmt haben.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir werden darüber wachen, daß die Bundesregierung die zugesagte Neuordnung der Kriegsopferversorgung unverzüglich vorlegt und die Abschlußnovelle zum Kriegsgefangenentschädigungsgesetz einbringt,

    (Zuruf von der Mitte: Noch mehr?)

    die entgegen klaren früheren Zusagen — wir werden Sie aus diesen Ihren Zusagen nicht so leicht entlassen — in der Regierungserklärung nicht genannt ist.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Dabei wird die Bundesregierung hoffentlich das herzlose Wort des Kanzlers von den zwei Berufen korrigieren, die den Kriegsopfern vorgeworfen wurden.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Natürlich können wir nicht mehr an öffentlichen und privaten Ausgaben bestreiten, als unsere Wirtschaft hergibt.

    (Zurufe von der Mitte: Aha!) Eine konsequente Politik des optimalen Wirtschaftswachstums und des stabilen Preisniveaus ist daher geboten.


    (Aha-Rufe und Lachen in der Mitte.)

    Leider hat die Bundesregierung das oft geforderte und von ihr mehrfach angekündigte konjunkturpolitische Instrumentarium weder geschaffen noch gar genützt. Appelle an andere sind kein Ersatz für eigenes Handeln.

    (Beifall bei der SPD.)

    So kam es, daß das Preisniveau unter der Regierung Erhard schneller stieg und steigt als vorher, obwohl stabile Preise noch nach der Wahl eine Art Oberwahlversprechen bei Ihnen waren.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    — Entschuldigen Sie, wer hat eigentlich in der Haushaltsdebatte für 21/2 Milliarden DM Anträge zurückgenommen oder für erledigt erklären lassen
    — wir oder Sie? Wer hat nachher das Haus mit Vorlagen überschüttet — die Regierung und Sie oder wir?

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Schmidt Die Preisentwicklung hat sich — wie bei vergangenen Wahlen — nach der Wahl beschleunigt, weil man manches mit Rücksicht auf die Regierungsparteien und ihre Wahlaussichten vertagte. Jetzt schickt sich die Regierung an, durch Erhöhung der Verkehrstarife mit ihren Folgen eine neue Preiswelle auszulösen. Der Handel versichert uns, die Politik sei an den höheren Lebensmittelpreisen schuld. Herr von Hases Trost, man habe ja auch mehr verdient, spricht nicht für Sorge um Stabilität. Und ob man mit Kienbaum das Weihnachtsfest verlegen kann, halte ich für mehr als fraglich. Die infolge der Regierungspolitik überdurchschnittlich gestiegenen Mieten haben das Preisniveau stark beeinflußt. Natürlich gibt es auch andere Ursachen. Aber die Regierung muß sich zunächst mit denen befassen, für die sie selbst verantwortlich ist. Damit sind wir beim Bundeshaushalt. Zu ihm schrieb „Die Welt" kürzlich: Durch die Erhöhung von Verbrauchsteuern sowie der Bahntarife und im Gefolge wahrscheinlich aller Verkehrstarife setzt sich eine neue Welle von Preissteigerungen in Bewegung, die auch das übrige Preisniveau nach sich ziehen kann. Die Preistendenz wird also zweifellos weiter nach oben gehen. Das hat „Die Welt" geschrieben. Sie ist kein sozialdemokratisches Parteiorgan. Das steht da: durch die Erhöhung der Verbrauchsteuern und Bahntarife. Das hat „Die Welt" auch geschrieben. Lesen Sie nur einmal nach. Wir SozialErler demokraten haben uns im Gegensatz zur Regierung und ihren Parteien verantwortungsbewußt verhalten. Wir haben rechtzeitig auf die bedrohliche Finanzentwicklung hingewiesen. Am 26. Februar 1965 haben wir Anträge mit einer Auswirkung von 1,6 Milliarden DM zurückgezogen und von 0,9 Milliarden DM für erledigt erklären lassen. Dieses gute Beispiel wurde von der anderen Seite des Hauses nicht befolgt. — Entschuldigen Sie, Ihre schönsten Zwischenrufe können nicht aus der Welt schaffen, daß Sie nach diesem Tage der Haushaltsdebatte hier das Haus mit Ihren Vorlagen und nicht wir mit unseren überschüttet haben. Ich gebe Ihnen die Zahlen: Von den in diesem Jahr beschlossenen 56 finanzwirksamen Gesetzen gehen 54 auf die Regierung und ihre Abgeordneten und nur zwei auf alle Fraktionen gemeinsam zurück. Aus diesen 56 Gesetzen wird der Bundeshaushalt 1966 mit 6 Milliarden DM belastet. (Zuruf von der CDU/CSU: Wieviel haben Sie abgelehnt?)


    (Wuppertal) : 18. Lastenausgleichsnovelle!)


    (Heiterkeit bei der SPD.)


    (Beifall bei der SPD.)


    (Widerspruch bei der CDU/CSU.)


    (Zuruf von der CDU/CSU: Die Ursachen!)





    (Lachen bei der CDU/CSU.)


    (Zurufe von der CDU/CSU.)


    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)


    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Sie sind die Hauptursache für das Finanzchaos. Dafür tragen also die Regierung und ihre Mehrheit die Verantwortung. Sie haben diese Vorlagen hier eingebracht und beschlossen.

    (Erregte Zurufe von der CDU/CSU.)

    Wir waren nicht imstande, Sie bei der Durchführung Ihrer Vorlagen zu behindern.

    (Beifall bei der SPD. — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Natürlich! Wer hat denn hier im Haus die Mehrheit?

    (Abg. Majonica: Haben Sie es denn versucht, Herr Erler?)

    — Wer hat hier im Haus die Mehrheit? Sie haben nur darauf gewartet, daß Sie eine Reihe der von Ihnen beabsichtigten Geschenke gegen unseren Widerstand hätten beschließen und dann außerdem noch draußen im Lande die 'betroffene Bevölkerung gegen uns hätten aufhetzen können. So einfach geht das hier nicht, meine Damen und Herren.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Majonica: Dann haben Sie aus Wahlgründen zugestimmt, Herr Erler!)

    So leicht kann es sich eine Regierung und eine Regierungsmehrheit nicht machen, daß sie ihr eigenes Verhalten in dieser Frage auf die Opposition abwälzen zu können glaubt.

    (Erneuter lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Um es noch präziser zu sagen: Heute fordert der Bundeskanzler jene Disziplin, die er gestern vermissen ließ.

    (Zustimmung bei der SPD.) Wo war er, als die Regierungsvorlagen im Kabinett beschlossen wurden, als in seiner Fraktion die Vorlagen beraten wurden, als im Bundestag darüber entschieden wurde? Ich erinnere an die zweite Lesung einer ganzen Reihe der Gesetze, wo wir unsere Bedenken vorgetragen haben und Sie sich von uns nicht überzeugen ließen.


    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    Damals hatte der Kanzler — denn er ist der Verantwortliche — die Pflicht zu kämpfen. Von dieser Verantwortung kann ihn niemand freisprechen.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der SPD: Schülergehalt!)

    Meine Damen und Herren: „Der Eindruck, als ob die Mehrausgaben ausschließlich oder vorrangig vom Parlament verursacht worden sind, ist falsch. Es handelt sich um Maßnahmen der Regierung oder Koalitionsbeschlüsse mit Zustimmung der Regierung oder Parlamentsbeschlüsse mit Duldung der Regierung." Das stammt nicht von mir, das hat der Kollege Strauß gesagt.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Dabei hatte der Kanzler 1963 angekündigt, den Art. 113 des Grundgesetzes anzuwenden, „um das deutsche Volk vor Schäden zu bewahren". Jetzt will er diesen Artikel nur noch ändern. Dabei ist das Problem seiner Anwendung keine Frage der juristischen Spitzfindigkeit, sondern der politischen Führungskraft.

    (Beifall bei der SPD.)

    Aufgabe des Kanzlers ist es, die ihn tragende Mehrheit vom politisch Notwendigen zu überzeugen. Wer das nicht schafft, dem hilft auch kein veränderter Art. 113.

    (Beifall bei der SPD.)

    Es ist ein Betrug an den Wählern, wenn jetzt rückgängig gemacht wird, was vor der Wahl beschlossen wurde, und wenn man jetzt nicht hält, was man vor der Wahl versprach.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Wer hat denn im. Wahlkampf bestritten, daß an ein Haushaltssicherungsgesetz gedacht sei? Wer hat denn im Wahlkampf bestritten, daß man die Mittel für den sozialen Wohnungsbau kürzen und Steuern und Tarife erhöhen wolle? Selten hatten Lügen so kurze Beine.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Die Regierungserklärung spricht wieder von langfristiger Haushaltsplanung, legt aber keine vor. Die SPD hat am 5. Juli 1965 der Öffentlichkeit detailliert die Einnahmeentwicklung und am 6. August 1965 die Ausgabeseite für eine vierjährige Legislaturperiode vorgelegt. Sie hat dabei nicht verschwiegen, daß das Jahr 1966 als Jahr der Wiederherstellung stabiler Finanzen benutzt werden muß. Der Bundeskanzler suchte wider besseres Wissen die realistische Darstellung der SPD lächerlich zu machen, und sagte am 13. August 1965: „Wenn die SPD von einer Finanzkatastrophe spricht, so nehmen Sie es nicht ernst, nehmen Sie es heiter" .

    (Hört! Hört! bei der SPD.)




    Erler
    Ist ihm heute auch noch so heiter zumute? Die von der Regierung angekündigten Maßnahmen sind nicht geeignet, eine solide Finanzwirtschaft herbeizuführen. Es wird auch diesmal nicht auf buchungstechnische Tricks mit fragwürdiger ökonomischer Auswirkung verzichtet. Darüber werden wir gemeinsam noch zu reden haben.
    Bemerkenswert ist die Selbstkritik eines Mannes, dér jetzt Bundeskanzler ist, ehemals Wirtschaftsminister war und laut „Bayernkurier" auch noch Honorarprofessor für Gegenwartsfragen der Wirtschaftspolitik ist, daß er sich jetzt dazu durchringt, daß der Bundeshaushalt — ich zitiere — „bewußter und wirksamer als bisher ein Instrument werden muß, um die Aufgaben der Zukunft zu meistern", und daß dies, so geht das Zitat weiter, „sowohl die Fixierung politischer Prioritäten als auch eine langfristige Haushaltsplanung" erfordert. Von all dem war bisher leider nichts zu spüren. Die SPD hat beides nicht nur gefordert, sondern sie hat für die gesamte 5. Wahlperiode ein Programm mit einer Rangordnung der Werte und zur Herbeiführung der Preisstabilität aufgestellt. Sie hat auch 1963 und 1964 Vorschläge unterbreitet, wie mit der Situation 1964 und 1965 fertig zu werden wäre. Die Bundesregierung hat sich weder diese Vorschläge noch die des Sachverständigenrates für eine den Konjunkturerfordernissen entsprechende Finanzpolitik zu eigen gemacht. Sie reagiert zu spät und mit einem Kürzungs- und Streckungsprogramm, das in seiner Dimension für den Bundeshaushalt 1965 berechtigt gewesen wäre, aber für 1966 anders zu bewerten ist. Wenn die Bundesregierung ihren Tatendrang und Offensivgeist nicht jeweils in Wahlkämpfen verschleißen würde, hätte sie vermutlich mehr Zeit und die geistige Konzentrationsfähigkeit für die Bewältigung der ungelösten Probleme.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die dringend notwendige Finanzreform ist durch die Untätigkeit der Regierung so lange verzögert worden. Die Leidtragenden sind die Gemeinden. Das Beteiligungsverhältnis von Bund, Ländern und Gemeinden an dem gesamten Steueraufkommen von 55 : 33 : 12 und an der Neuverschuldung von 28 : 15 : 57 kennzeichnet deutlich die unerträgliche Benachteiligung der Gemeinden. Vor einer Regelung dieses Problems können ihnen daher keine weiteren Belastungen zugemutet werden. Ohne den Druck der SPD gäbe es die sehr spät eingesetzte Sachverständigenkommission überhaupt nicht. Der Bundesregierung ist es aufgegeben, unverzüglich die notwendige Gesetzgebungsarbeit einzuleiten, zumal Ende 1966 die Vereinbarung mit den Ländern über die Steuerverteilung ausläuft.
    Mit Skepsis sind die eigenartigen Ideen des Kanzlers über die Finanzierung des Gemeinschaftswerks zu betrachten.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Sie dürfen die organische Finanzreform nicht gefährden. Die Regierung muß präzise darlegen, wie nach ihrer Ansicht das Gemeinschaftswerk dotiert, welche Ausgaben daraus bestritten werden sollen, wer für die Verwaltung zuständig ist und wie man sich
    die Zusammenarbeit mit den Ländern und Gemeinden denkt. Es kann dabei auch keine Aushöhlung der parlamentarischen Kontrolle geben.

    (Beifall bei der SPD.)

    Bei der Reform der Finanzverfassung wird darauf zu achten sein, daß die ausgewogene Verteilung der Gewichte von Bund und Ländern nicht zerstört wird. Den Versuchen, durch unklare Mischverwaltung und Mischfinanzierung die bundesstaatliche Ordnung zu verändern, muß widerstanden werden. Soweit in manchen Bereichen, in denen eine Regelung dringend erforderlich ist, die Zuständigkeit des Bundes fehlt oder umstritten ist, muß man nachdrücklich versuchen, die notwendigen Regelungen im Wege der Vereinbarung mit den Ländern zu treffen. Verfassungsänderungen dürfen stets nur die Ultima ratio, aber nicht das alltägliche Heilmittel sein. Eine Reform der Finanzverfassung mit klarer Abgrenzung der Aufgaben bedarf einer Zweidrittelmehrheit in Bundesrat und Bundestag. Hier wie in anderen Fällen muß die Regierung wissen, daß es Mehrheiten für Grundgesetzänderungen nur gibt, wenn zur rechten Zeit über die Prioritäten unserer Politik überhaupt, über die angestrebte neue Gesamtgestaltung des Grundgesetzes und dann über die Zweckmäßigkeit bestimmter Lösungen ausreichend auch in der Öffentlichkeit diskutiert und mit uns Übereinstimmung erzielt wird.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Die Opposition ist nicht bereit, auf Abruf zur Mehrheitsbildung immer gerade dann zur Verfügung zu stehen, wenn die Absichten der Bundesregierung dies erforderlich machen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ihre Entscheidung über Grundgesetzänderungen hängt vom Gesamtkurs der Politik ab.
    Dies gilt auch für die Verfassungsbestimmungen über den Notstand. Über sie kann nur im Zusammenhang mit den allgemeinen politischen Prioritäten und unter Beachtung der von der Regierung bisher zu diesem Thema nicht angepackten, in der letzten Legislaturperiode offengebliebenen Fragen — alliierte Vorbehaltsrechte auf dem Gebiete des Post-und Fernmeldewesens, einwandfreier Schutz der Pressefreiheit, rechtliche Sicherung der Arbeitnehmer — ernsthaft gesprochen werden. Diese Fragen können nicht kurz vor Neuwahlen sinnvoll erörtert werden.
    Zu rügen ist, daß man Änderungen des Grundgesetzes vorschlägt, aber klare Aufträge unerfüllt läßt, so die Reform des Unehelichen-Rechts und den Erlaß eines Parteiengesetzes, womit ich nicht etwa einen Zusammenhang zwischen den beiden Dingen herstellen möchte.

    (Heiterkeit.)

    Ein solches Parteiengesetz muß die Parteien auch dazu zwingen, über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel öffentlich Rechnung zu legen. Die Parteien können ihre Aufgaben nur dann erfüllen, wenn sie nicht in finanzielle Abhängigkeit von eben dem Staat geraten, den zu kontrollieren sie berufen sind. Deshalb darf es öffentliche Zuwendungen nur



    Erler
    für Zwecke der staatsbürgerlichen Bildung in einem die Eigenmittel der Parteien nicht übersteigenden Ausmaß und unter angemessener Rechnungslegung geben. Es ist Aufgabe der Parteien, für soviel Rückhalt bei ihren Freunden zu sorgen, daß sie ihre allgemeine Arbeit aus eigenen Mitteln finanzieren können.

    (Beifall bei der SPD.)

    Nicht nur hier, sondern überhaupt fehlt es der Regierung an einer rechtspolitischen Gesamtkonzeption. Darüber wie über vieles andere wird in dieser Debatte noch im einzelnen zu sprechen sein.
    Die großen Aufgaben der Modernisierung von Staat und Gesellschaft können nur gemeistert werden, wenn der öffentliche Dienst genug Anziehungskraft für fähige Menschen behält. Deshalb kommt der Neuordnung seiner Besoldung und dem Wirken einer Enquetekommission für die Fragen des öffentlichen Dienstes besondere Bedeutung zu.
    Ähnliches gilt für die Würdigung der Arbeit der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr. Sie haben unter großen Belastungen eine hingebungsvolle Arbeit für unser Volk geleistet. Das stellen wir gerade nach dem zehnten Jahrestag der Bundeswehr anerkennend fest.

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Wenn im Interesse des Ganzen Kritik zu üben ist, richtet sie sich an die verantwortliche politische Führung und nicht an die Ausführenden. Uns erfüllt Sorge um das Schicksal der Inneren Führung. Wird wirklich alles getan, um einer Aushölung der von diesem Hause vertretenen Prinzipien entgegenzuwirken? Die Haushaltsreste 1964 und 1965 zeugen nicht von guter Organisation und guter Arbeitsweise im Verteidigungsministerium. Wird die Bundesregierung bald einen neuen Entwurf für ein Organisationsgesetz vorlegen, und wird sie dabei auch zweckmäßige Gedanken der Opposition aufgreifen?
    Die Standardisierung von Waffen und Gerät hat keine Fortschritte gemacht, weder aus deutscher Produktion noch im Bündnis. Dabei macht sich der Mangel einer langfristigen Rüstungsplanung bemerkbar, die ja nur Bestandteil einer in die volkswirtschaftliche und finanzielle Entwicklung eingebauten Gesamtkonzeption der Landesverteidigung sein kann. Dazu gehört die Territorialverteidigung genauso wie der zivile Bevölkerungsschutz. Die Gesetze hierüber bleiben Papier, wenn es an Organisation und finanziellen Mitteln fehlt. Hier klaffen Worte und Taten der Regierung weit auseinander.
    Damit möchte ich diese inneren Aufgaben verlassen und bemerken, daß unser Volk nach der Bundestagswahl nicht nur in der Innenpolitik, sondern auch in der Außenpolitik vor den gleichen Problemen steht wie vorher. Keines ist leichter lösbar geworden.
    Das westliche Bündnis ist in wesentlichen Fragen erschüttert. Schönfärberei kann darüber nicht hinwegtäuschen. Mit den gewohnten Bekundungen der Übereinstimmung mit jedermann sind die Meinungsverschiedenheiten nicht mehr zu verdecken. Es gibt keine allen Partnern gemeinsame Verteidigungspolitik mehr. Die für unsere Sicherheit lebenswichtige Integration von Verteidigungsmitteln ist in Gefahr. Was aber nicht in normalen Zeiten vorbereitet und geübt wird, das kann im Falle einer akuten Bedrohung nicht mehr nachgeholt werden.
    Leider ist die Politik der Regierungsmehrheit nicht klar. Die Bundesregierung setzt sich für die Beibehaltung, ja für den Ausbau der Integration auch amerikanischer Kräfte für die europäische Sicherheit ein. Der stellvertretende Vorsitzende einer Koalitionsfraktion ist dagegen. Ist die Regierung mit Herrn Strauß für den Abzug der Hälfte der amerikanischen Truppen aus Europa, oder ist sie dagegen? Die Bundesregierung erstrebt ein gewisses deutsches Mitspracherecht über das von den USA der Verteidigung Europas gewidmete nukleare Arsenal. Der frühere Verteidigungsminister will eine unabhängige europäische Atommacht auf der Grundlage der französischen und der britischen Kernwaffen, obwohl weder die französische noch die britische Regierung die geringste Neigung dazu erkennen lassen. Es ist legitim, wenn sich die Regierung um eine angemessene Mitwirkung an allen für die Sicherheit und das Überleben unseres Landes wichtigen Verteidigungsvorkehrungen auch auf nuklearem Gebiet bemüht. Dazu gehört ein deutsches Vetorecht gegen den eventuellen Einsatz von Kernwaffen vom deutschen Gebiet aus oder auf deutsches Gebiet hin — wobei wir uns auch für das Schicksal der Deutschen jenseits der Demarkationslinie mitverantwortlich fühlen müssen. Die Bundesregierung hat diese legitimen deutschen Interessen so zu vertreten, daß unsere Absichten nicht entstellt werden können. Es darf uns auch kein Ehrgeiz nachgesagt werden können, nach eigener Verfügungsgewalt über Kernwaffen zu drängen

    (Beifall bei der SPD.)

    Es geht um ein Höchstmaß an Sicherheit durch vernünftige gemeinsame Vorkehrungen im Bündnis, nicht aber um nationales Prestige und damit um ein Status-Symbol.
    Die atlantische Gemeinschaft kann nicht gesunden, wenn Europa krank ist. Unsere Anregungen auf dem Sicherheitsgebiet dürfen daher das Maß an Solidarität, das im freien Europa noch vorhanden ist, nicht gefährden.
    Die europäische Gemeinschaft ist in eine schwere Krise geraten. Zauberformeln für ihre Lösung gibt es nicht. Wer das bereits Erreichte retten will — vom weiteren Ausbau ganz zu schweigen —, der darf vor allem nicht zur Aushöhlung der Gemeinschaftseinrichtungen beitragen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir begrüßen die Einladung der Fünf an Frankreich, seinen Platz am Tisch der Gemeinschaft wieder einzunehmen. Es lohnt auch der Versuch, in einer Zusammenkunft der Regierungen ohne die Kommission über einen Ausweg aus der Krise zu sprechen. Nur dürfen sich die Regierungen nicht dazu verleiten lassen, dabei unter Verletzung des Vertrages



    Erler
    innere Angelegenheiten der Gemeinschaft zu erörtern.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ministerbesprechungen dürfen keine Revisionsinstanz gegen Gemeinschaftsbeschlüsse werden.

    (Erneute Zustimmung bei der SPD.)

    Die Gemeinschaft kann man nur retten, wenn die fünf Partner Frankreichs fest zu den Römischen Verträgen stehen. Wer gegen sie handeln will, der muß dafür allein die Verantwortung tragen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Eine Aushöhlung der Verträge würde ein großes Werk zerschlagen und Hoffnungen unserer Völker enttäuschen. Ob es dann je einen Wiederbeginn geben würde, ist mehr als fraglich. Die deutschen Interessen sind in der Gemeinschaft besser aufgehoben als in einem nationalen Alleingang mit der Gefahr der völligen Isolierung.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wer zu den Verträgen stehen will, darf nicht selbst mit Gedanken zu ihrer Aushöhlung spielen, z. B. in der Frage von Mehrheitsbeschlüssen. Vertragstreue kann nur verlangen, wer sie selbst übt.
    Man darf nicht, wie der Bundeskanzler eis tat, den mangelnden Reifegrad der Völker für den Stillstand Europas verantwortlich machen, wenn in Wahrheit eine einzige Regierung den Fortschritt blockiert, aber die Völker weiter sind.

    (Beifall bei der SPD.)

    Nur wenn die Ursachen der Schwierigkeiten erkannt sind, kann man sie beheben. Es ist richtig, unseren Partnern den ernsthaften Willen der deutschen Politik zur Fortsetzung des europäischen Einigungswerkes zu zeigen. Uns geht es um die Festigung der Gemeinschaften, um ihre Demokratisierung, um ihren Ausbau in Zuständigkeit und Mitgliederzahl und um ihr partnerschaftliches Verhältnis zu den USA.
    Aber auch solange die Gemeinschaft es schwer hat, ist jede Bemühung zu begrüßen, auf praktischem Gebiet zu einer Zusammenarbeit der Mitglieder der EWG und der EFTA zu kommen. Der Graben innerhalb des freien Europa darf nicht noch tiefer werden. Ohne solche Zusammenarbeit gibt es keinen Erfolg der Kennedy-Runde, die den Weltmarkt von immer noch wirksamen Fesseln befreien soll.
    Die Schwierigkeiten der europäischen Politik enthüllen aufs neue die Bedeutung politischer Entscheidungen für die Wirtschaft. Eine unklare, widerspruchsvolle Außenpolitik hat böse wirtschaftliche Auswirkungen. In der modernen weltweiten Verflechtung, der Interdependenz, der gegenseitigen Abhängigkeit aller voneinander sichert nur eine gute, ausgewogene Außenpolitik ein Klima des Vertrauens, in dem der Kapitalmarkt und die Investitionslust gedeihen, weil man langfristig disponieren kann.
    Die unleugbaren Schwierigkeiten dürfen das Werk der Versöhnung zwischen den Völkern Frankreichs und Deutschlands nicht gefährden. Dies ist die Grundlage der europäischen Gemeinschaft. Die Bundesregierung sollte — ohne Beschönigung — darlegen, was wirklich aus dem deutsch-französischen Vertrag geworden ist. Die Sozialdemokraten beider Länder haben in diesem Bemühen der Aussöhnung eine alte Tradition. Für uns ging es dabei aber immer um die Zusammenarbeit von Freien und Gleichen und nicht um die Unterwerfung des einen unter den einseitig gebildeten Willen der politischen Führung des anderen.

    (Beifall bei der SPD.)

    In diesem Geist hat auch der Deutsche Bundestag die Präambel zum deutsch-französischen Vertrag beschlossen, welche diesen einbettet in die europäische Gemeinschaft und die atlantische Solidarität.
    Die deutsche Politik kann nicht teilnehmen an der Aushöhlung dieser beiden Gemeinschaftswerke. Solange aber in den Gemeinschaften nicht wieder ein gemeinsamer Weg gefunden ist, müssen wir alles tun, was trotzdem möglich ist, um Dinge zwischen Frankreich und Deutschland gemeinsam zu tun, wenn dadurch die Gemeinschaften nicht angetastet werden. Das gilt für die weiten Gebiete der Jugendbegegnung, der Erziehung, der Sprache, der Kultur, der Wissenschaft und vor allem auch der Technik und Forschung. Im Rahmen des Gemeinsamen Marktes lassen sich zusätzliche privatwirtschaftliche Verflechtungen gegenseitig und nicht nur einseitig zum Nutzen beider Länder entwickeln. Was könnten z. B. Frankreich und Deutschland nicht auf dem Gebiet der Elektronik zusammen tun, um den Vorsprung anderer etwas zu verringern!
    Ähnlichens gilt für das Verhältnis unserer beiden Länder zu den osteuropäischen Staaten. Das eine bringt die geographische Nachbarschaft und die daraus sich ergebenden wirtschaftlichen Möglichkeiten mit, das andere die Tradition guter Beziehungen und kultureller Verbindungen. Beide Länder könnten hier miteinander wirken, wenn — ich sage: wenn — sie ihre Erfahrungen austauschen und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. So sollte jeder seine besonderen Möglichkeiten auch zum Besten des anderen nutzen. Aber nichts auf diesen Feldern darf jene gemeinsamen Anstrengungen mit den anderen Partnern der europäischen Gemeinschaften behindern, die notwendig und möglich sind, um das Gemeinschaftswerk fortzuführen, solange — leider — der Stuhl unseres französischen Freundes leer bleibt.
    In der Deutschland-Politik sind wir nicht weitergekommen — im Gegenteil. Wichtige Positionen bröckeln ab. Fragen, die in den Zusammenhang eines Friedens mit dem wiedervereinigten Deutschland gehören, werden von einem wichtigen Verbündeten als vorab entschieden behandelt. Was hat die Bundesregierung getan, um bei unseren Verbündeten einer abträglichen Meinungsbildung gegenüber der deutschen Position in den Grenzfragen entgegenzuwirken und um Verständnis dafür zu werben, daß Interzonenhandel ein Rest deutscher Einheit und kein Außenhandel ist,

    (Beifall bei der SPD)




    Erler
    so daß die Ersetzung der Bundesrepublik Deutschland durch westliche Handels- und Kreditpartner die Spaltung Deutschlands zusätzlich vertieft?
    Ich stelle mit Genugtuung fest, daß einige Regierungsmitglieder befreundeter Länder bei ihren Begegnungen in Osteuropa mit Nachdruck die Bundesrepublik Deutschland und unsere Interessen verteidigt haben, obwohl im Bundestagswahlkampf jene Länder bedauerlicherweise zur Zielscheibe von Angriffen der Regierungsparteien gemacht worden sind.

    (Beifall bei der SPD.)

    Der Herr Bundespräsident hat bei der Ernennung der Minister die Vorbereitungen eines Friedensvertrages für ganz Deutschland als wichtige Aufgabe bezeichnet. Die Regierungserklärung enthält hierüber kein Wort, — wohl weil die Meinungen im Regierungslager in dieser Frage einander blockieren. Früher — 4963 noch — hat die Bundesregierungselbst solche Vorbereitungen gemeinsam mit unseren Verbündeten für notwendig erklärt. Jetzt wird offenbar dafür das etwas dramatischere Wort „Initiative" gewählt, um den anderen Ausdruck verschwinden zu lassen. Im Wahlkampf ist die Regierungspartei von den früheren Erklärungen der Regierung abgerückt. Wir hoffen, daß sie im Interesse unseres Volkes zu dieser Notwendigkeit zurückfindet. In Ermangelung eines deutschen Anstoßes wird die deutsche Frage sonst überhaupt nicht in Bewegung gebracht werden können, wobei es darum geht, zusammen mit unseren westlichen Freunden eine Verhandlungsplattform zu entwickeln, von der aus man die Sowjetunion erneut mit der deutschen Frage konfrontieren kann. Wir werden die deutsche Frage nicht lösen, wenn wir eine weltpolitische Entspannung zwischen Ost und West aufzuhalten trachten, solange Deutschland nicht wiedervereinigt ist. Dies schüfe eine Alliianz nahezu aller Völker gegen uns als den vermeintlichen Störenfried. Die Entspannung führt aber auch nicht automatisch zur deutschen Frage. Hier gibt es einen Zusammenhang wie zwischen Abrüstung und deutscher Frage. Es kommt auf unseren Einfluß an, um Entspannung und Abrüstung durch deutsche Gedanken so zu fördern, daß mit ihrer Hilfe die deutsche Frage einen Schritt vorangebracht wird und nicht etwa durch ihren Fortgang die Spaltung unseres Landes sich verfestigt. Wenn wir die Wahl haben zwischen Isolierung oder Beeinflussung eines Vorganges, müssen wir im Interesse unseres Volkes das letztere wählen.
    Dies gilt auch für die Intensivierung unserer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten. Wir stünden allein, wenn wir uns dort heraushalten wollten. Die Regierungserklärung ist dürftig, weil sie nicht gleichzeitig die Meinung sowohl derer wiedergeben kann, welche Beziehungen intensivieren wollen, als auch derer, die bremsen. Wir müssen unsere Interessen so wahrnehmen, wie es der Bundestag 1961 bei der Verabschiedung des sogenannten Jaksch-Berichts beschlossen hat. Es kommt auf unsere Präsenz ohne Preisgabe lebenswichtiger Interessen an. Wir müssen eine Kettenreaktion anderer Länder zugunsten des kommunisteischen Regimes auf deutschem Boden verhindern und dürfen keine Vorentscheidungen von Fragen hinnehmen, die dem Friedensvertrag vorbehalten sind. In diesem Rahmen aber geht es um einen Abbau der Furcht vor Deutschland und um die Korrektur des von der Zonenpropaganda verzerrten Deutschlandbildes. Zur Lösung der deutschen Frage müssen wir das Vertrauen des Westens bewahren, aber das Zutrauen unserer östlichen Nachbarn gewinnen. Der wirkliche Schlüssel liegt selbstverständlich in Moskau. Aber an einer Verfeindung zwischen der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten darf uns nichts liegen. Die Wiedervereinigung Deutschlands soll ja den Rest der Spannungen in Europa ausräumen und keine neuen schaffen.
    Eine solche Politik — des bin ich gewiß — wird die Zustimmung unserer vertriebenen Landsleute haben, wenn sie wissen, daß nicht hinter ihrem Rücken operiert wird. Wir müssen uns dabei an die Obhutserklärung des Deutschen Bundestages vom Jahre 1950 halten. Dabei handelt es sich immer um eine Politik des ganzen deutschen Volkes und für das ganze deutsche Volk. Wer diese Frage allein in der Verantwortung einer Gruppe läßt, der entläßt den anderen Teil unseres Volkes und verhindert damit die notwendige breite Grundlage. Deshalb hat die von der Evangelischen Kirche Deutschlands publizierte Denkschrift einen wichtigen Beitrag zur Diskussion der Lage der Vertriebenen und unserer Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarvölkern geleistet. Sie hat klargemacht, was 'bei der Eingliederung der Vertriebenen noch alles fehlt und wieviel menschliche und politische Solidarität vonnöten ist. Sie hat von einem Verzicht auf Rechtsansprüche abgeraten — ich hebe das hervor —, aber zu einer Erörterung aufgefordert, wie der tote Punkt überwunden werden könne. Bei allem Wissen um die Einseitigkeit mancher Gedanken und um die Lücken in der Darstellung ist eis dennoch verwunderlich, daß eine Regierung von Parteien, die sich christlich nennen, im Bundestag kein Regierungswort zu der Denkschrift der Evangelischen Kirche gefunden hat.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die ganze Nation trägt am guten und bösen Erbe unserer Geschichte, nicht nur die Vertriebenen und auch nicht nur die 17 Millionen Mitteldeutschen. Wir dürfen vor allem die Geiseln des Zonenregimes nicht als Verlierer alleinlassen. Sie entbehren die politische Freiheit, aber sie sind stolz auf die von ihnen vollbrachten wirtschaftlichen Leistungen ohne
    fremde Hilfe, nach mehrfachen brutalen Demontagen und trotz der ,ständigen Benachteiligung durch von der Sowjetunion manipulierte Außenhandelspreise. Darin zeigt sich, daß sie Glieder des gleichen Volkes sind wie wir, an dieser ihrer Leistung unter großen Schwierigkeiten, daß sie aber den härteren Teil deis gemeinsamen Schicksals erleiden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Solange wir nicht in einem Hause in Freiheit vereint sind, müssen wir die menschliche Zusammengehörigkeit erhalten. Dazu gehören Geduld und Zähigkeit. Von den Gefängniswärtern gibt es nichts umsonst. Es kann aber jene Grenze nicht überschritten werden, welche die Stellung Berlins und die Zukunft der 'deutschen Frage gefährden würde. Jederzeit rücknehmbare Erleichterungen können



    Erler
    nicht mit dauerhaften Verschlechterungen unserer Zukunft bezahlt werden. Davon haben sich der Senat von Berlin und die Bundesregierung gleichermaßen leiten lassen. Aber sonst sollten wir uns an den Satz des früheren Bundeskanzlers erinnern, daß wir über vieles mit uns reden lassen, wenn die Deutschen in der Zone wieder ein vernünftiges Maß von Freiheit, Menschenwürde und materiellem Wohlstand zurückbekämen.
    Dies gilt auch für den Verkehr zwischen den beiden Teilen Berlins. Er muß so gestaltet bleiben, daß kein Zweifel an dem Status Berlins im freien Deutschland besteht, aber in dem abgegrenzten Rahmen alles getan wird, um so viel wie möglich für die Menschen herauszuholen. Die Freiheit des Landes Berlin ist die Voraussetzung jeder Politik der deutschen Einheit in Freiheit. Dazu gehören nicht nur die Anwesenheit der westlichen Schutzmächte, der freie Zugang und die gewachsenen Bindungen mit der übrigen Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die Lebensfähigkeit Berlins. Die Hilfe des Bundes für Berlin ist kein Almosen, sondern ein Stück Deutschland-Politik, also Zukunftssicherung für uns alle, und sollte auch :bei den Haushaltsberatungen entsprechend gewertet werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Uns hat es mißfallen, wie die Position des Bundesbevollmächtigten zur Erörterung gekommen ist. Man sollte mit ihr kein leichtfertiges Spiel treiben, das den Status Berlins verändert. Der Bundesbevollmächtigte muß für ein gutes Verhältnis zwischen Bundesregierung und Berliner Landesregierung sorgen und darf sich nicht als ein Vertreter der Landes-opposition fühlen. Leider hat das Amt seit der Zeit des Bundesbevollmächtigten Vockel nicht annähernd mehr so gut gewirkt.
    Meine Damen und Herren, die Ubersicht über Außenpolitik, Deutschlandfrage und Berlin zeigt, wie notwendig eine nüchterne gemeinsame Bestandsaufnahme wäre, — jetzt allerdings unter noch ungünstigeren Umständen als 1960. Herr Kollege Barzel hat vor einiger Zeit eine Flurbereinigung gefordert. Es wäre nützlich, zu wissen, was er darunter präzise versteht und ob es sich dabei nicht auch um die früher abgelehnte Bestandsaufnahme als Voraussetzung handelt.
    Den von mir geschilderten Notwendigkeiten nach innen und außen wird die Regierungserklärung nicht gerecht. Das liegt auch daran, daß die Regierung ja vor der Wahl gar kein Sachprogramm hatte und deshalb der Streit um Sachfragen und Personen die vorhandene Lähmung andauern läßt. Wir Sozialdemokraten sind mit einem klaren Sachprogramm zu allen wesentlichen politischen Problemen vor die Wähler getreten;

    (Beifall bei der SPD — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)

    daran halten wir uns auch nach der Wahl, und dies — jetzt dürfen Sie gleich noch einmal entrüstet rufen — unterscheidet uns von den Regierungsparteien.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)

    Weil in den meisten wichtigen politischen Fragen innerhalb der Regierungsparteien, aber auch innerhalb der Unionsparteien selbst, schwere Gegensätze bestehen, flüchtet sich die Regierungserklärung weitgehend in unverbindliche Floskeln. Damit spiegelt sie die Verworrenheit, Zerrissenheit und Schwäche der Koalition wider. Sie läßt auch den Führungswillen des Mannes vermissen, der die Richtlinien der Politik bestimmen soll. 1963 hat Professor Erhard noch erklärt — heute hat das Herr Barzel aufgenommen, aber doch wohl nur mit sehr schwerem Herzen —:
    Diese Regierung ist eine Koalitionsregierung, die auf vertrauensvoller Partnerschaft beruht. Sie stützt sich auf gemeinsam erarbeitete Grundsätze, wie sie auch in dieser Erklärung ihren Ausdruck finden.
    Das haben Sie auch heute gesagt; ich muß sagen, hier war der Kanzler ehrlicher.

    (Abg. Dr. Barzel: Etwas anders!)

    Davon ist diesmal nämlich nach den traurigen Erfahrungen der letzten zwei Jahre ehrlicherweise nicht mehr die Rede, denn Partnerschaft gibt's gar nicht, sondern nur den gemeinsamen Gegensatz zur SPD.

    (Beifall bei der SPD.)

    Natürlich können Sie ohne und gegen uns regieren. Das ist das Recht der Mehrheit. Das Votum des Wählers verdient Respekt. Sie können aber nicht erwarten, daß die Opposition Ihnen immer dann hilft, wenn Sie sie gerade brauchen. Die Opposition wird nicht einfach einspringen, wenn sich ein Teil der Regierungsmehrheit versagt. Es ist Aufgabe des Kanzlers, seine Mehrheit zusammenzuhalten. Er muß selbst mit denen fertig werden, die Opposition in der Koalition spielen wollen oder die meinen, sich bei unbequemen Entscheidungen drücken zu können. Wer die Minister stellt, muß auch die unbequeme Seite der Regierungstätigkeit mitverantworten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wie sieht es in einer Fraktion aus, deren stellvertretender Vorsitzender einen persönlichen Referenten anstellen wollte, gerade weil dieser als Beamter des Auswärtigen Amts die Politik des der gleichen Fraktion angehörenden Außenministers zu durchkreuzen sucht! Wie sieht es in einer Fraktion aus, deren bayerischer Teil in seinem Hausorgan Politik und Person des Bundeskanzlers in einer Weise attackiert, die, wenn ich sie hier gebrauchte, Entrüstungsstürme hervorrufen würde. Wie steht eigentlich die CSU zur Außenpolitik der Bundesregierung und ihres Außenministers? Ist Opposition in der Koalition eine gute Grundlage für unser Verhältnis zur Umwelt — z. B. zu Großbritannien? Das alles bleibt auch dann wahr, wenn nachträglich abgeschwächt wird. Wie sieht es denn auch im krausen Gemüt jener aus, die erst mit Professor Erhard ihren Wahlkampf bestreiten und ihm nach der Wahl dann auf die eben geschilderte Weise die Qualifikation absprechen! Was soll man von einem Kanzler sagen, der Entschlossenheit im Munde führt, aber dem jeweils jüngsten Druck nur allzu bereitwillig nach-



    Erler
    gibt, wie die Tragikomödie der Regierungsbildung gezeigt hat! Mende: Erst nein, dann ja. Aber wenn schon, dann zum Ausgleich fünf CSU-Minister.

    (Lachen bei der SPD.)

    Oder der dem früheren Verteidigungsminister mit dem Innenministerium ausgerechnet die Zuständigkeiten für den Verfassungsschutz anbot.

    (Lachen bei der SPD.)

    Anscheinend hat er vergessen, wie großzügig jener Minister Zuständigkeiten auslegt.

    (Lachen bei der SPD.)

    Die Sache wird dadurch nicht besser, daß das Angebot nicht ernst gemeint gewesen ist, weil die Ablehnung feststand.

    (Lachen bei der SPD.)

    Der Klarheit des Regierungskurses hat es auch nicht gedient, dem Abgeordneten Dr. Jaeger das Justizressort anzuvertrauen. Als außenpolitischer Aufpasser der CSU wird er offensichtlich nicht für voll genommen, denn diese fühlt sich immer noch nicht außenpolitisch vertreten — zumal seit dem Weggang von Graf Huyn. Und trotz seiner überraschend maßvollen Erklärungen nach der Amtsübernahme dürfte es Dr. Jaeger schwerfallen, von einigen — milde gesagt — ultrakonservativen und autoritären Neigungen Abschied zu nehmen. Wem Gott ein Amt gegeben, dem gibt er auch Verstand — daran besteht gar kein Zweifel —, aber doch kein anderes Herz.

    (Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)

    Im In- und Ausland hat gerade diese Ernennung Befremden ausgelöst. Es hätte sich doch wohl ein Ressort finden lassen, in dem Herr Dr. Jaeger weniger Gewissenkonflikten ausgesetzt gewesen wäre.
    Eine andere Ernennung wirft diffizile Fragen auf. Herr Dr. Krone ist nicht mehr Sonderminister, sondern ausdrücklich Minister für den Verteidigungsrat. Will sich der Bundeskanzler auf diesem wichtigen Gebiet seiner Richtlinienkompetenz begeben? Soll Herr Dr. Krone nunmehr eine Art Überaußen- und Überverteidigungsminister sein, oder welchen Sinn hat diese Änderung? Hängt sie vielleicht auch mit dem Proporz der verschiedenen Lehrmeinungen in der CDU zusammen?

    (Lachen bei der SPD.)

    Es wäre ganz interessant, das einmal zu erfahren.
    Die Freien Demokraten schließlich haben gar nicht um Meinungen, sondern nur um Posten gekämpft.

    (Beifall und Lachen bei der SPD.)

    Von den Dingen, die sie im Wahlkampf vor allem in der Ost- und Deutschland-Politik von der CDU unterschieden, findet sich in der Regierungserklärung überhaupt nichts mehr. Nach dem FDP-Persil-Schein für den CSU-Vorsitzenden war das ja auch nicht anders zu erwarten.

    (Beifall und Lachen bei der SPD.)

    Ich komme zum Schluß. Noch einige Worte zur Stellung des Bundestages in der parlamentarischen
    Demokratie. Alles Gerede von Parlamentsreform ist sinnlos, wenn die Bundesregierung nicht das Parlament als den ersten Ort der Bekanntgabe von wichtigen Informationen, Absichten und Meinungen behandelt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Es war ungehörig, daß die Regierungserklärung vor dem Bundestag verschoben wurde und man statt dessen ans Fernsehen und dann vor die Presse ging. Nach dem Inhalt der Erklärung hätte sie am vorgesehenen Tag wahrscheinlich ohne jede Änderung abgegeben werden können.


Rede von Dr. Thomas Dehler
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Es wird der Wunsch nach einer Zwischenfrage geäußert. Sind Sie bereit, diese Frage zuzulassen, Herr Kollege Erler?

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Fritz Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Ich bin jetzt gleich zu Ende, Herr Kollege Schulze-Vorberg; wir haben nachher ohnehin ein Gespräch miteinander.

    (Zurufe von der Mitte.) — Nein, nein, also bitte.


    (Erneute Zurufe von der Mitte. — Zuruf von der SPD: Jungfernfrage des Herrn Schulze-Vorberg!)

    — Gut, also Ihre Jungfernfrage; kommen Sie.

    (Heiterkeit.)