Herr Kollege Sander, ich weiß, die Situation ist für Sie sehr peinlich.
Ich halte in der Tat die Strukturmaßnahmen, sowohl die normalen, also die Betriebsstrukturmaßnahmen, wie die Marktstrukturmaßnahmen für außerordentlich wichtig. Aber ich möchte Ihnen doch mal einen Rat geben. Sie haben sicher zum Teil auch die Bibel in Ihrem Hause oder in Ihrem Schubkasten. Sie täten besser, Sie läsen einmal nach in Matthäus 3, Vers 2 und handelten so, wie dort geschrieben steht.
Wo, meine Damen und Herren — die Frage geht auch die Bundesregierung an —, sind Ihre progressiven Forderungen? Es braucht sich dabei keineswegs um so spektakuläre Dinge wie um den Getreidepreis zu handeln. Keine. Forderung an unsere Partner ist berechtigter als die, mit den offenen und versteckten Exportsubventionen Schluß zu machen. Aus der Inaktivität der Bundesregierung auf diesem Gebiet läßt sich schließen, daß man in den Bonner Amtsstuben überhaupt nicht darüber Bescheid weiß, was in den Partnerländern vor sich geht.
Nicht minder erschütternd ist es zu sehen, wie unsere Delegation in Brüssel von ihren taktischen Möglichkeiten Gebrauch macht. Denken Sie beispielsweise an den Agrarfonds, der in wenigen Jahren mehrere Milliarden Mark enthalten wird und zu dem wir die größten Beiträge leisten sollen, aber das wenigste dafür zurückerhalten.
Die Krone des Ganzen ist aber die Sorglosigkeit, mit der man sich und anderen vormacht und vorge-
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Dr. Schmidt
macht hat, man habe noch genügend Zeit, aktiv zu werden. An Hand des Terminkalenders darf ich Ihnen das erläutern. Ihr Bundesminister Schmücker hat vor zehn Tagen im EWG-Ministerrat die Pläne vorgetragen. Danach sollen bis zum 1. Juli 1967 nicht nur die Getreidepreise angeglichen, sondern es soll auch die gemeinsame Agrarpolitik — ich zitiere wörtlich — „im wesentlichen zum Abschluß gebracht" werden.
Das bedeutet auch eine Harmonisierung der übrigen Richt- und Orientierungspreise. Das 'bedeutet weiter den Wegfall sämtlicher nationaler Schutzmaßnahmen. Und das bedeutet eine Verlagerung nahezu faller entscheidenden Kompetenzen nach Brüssel.
Der Wirtschaftsminister hat weiter die Hoffnung ausgedrückt, daß bis zum 1. Juli 1967 die inneren Zollgrenzen in der EWG verschwinden. Wie sich das ,auf den Agrarbereich auswirkt, wissen Sie genauso gut wie ich.
Herr Kollege Schmücker hat schließlich darauf hingewiesen, daß bis zu diesem Termin die KennedyRunde abgeschlossen sein wird, in die bekanntlich auch die Landwirtschaft einbezogen ist. Nebenbei bemerkt: diese Ideen des Herrn Schmücker sind nicht gerade neu. Sie decken sich weitgehend mit denen der EWG-Kommission. Sie dürfen sicher sein, daß sie sich ,auf landwirtschaftlichem Gebiet auch mit den Vorstellungen der Agrarexportländer der Gemeinschaft decken.
In 21/2 Jahren wird also der entscheidende Moment gekommen sein. Das heißt aber leider nicht, daß wir noch 21/2 Jahre Zeit haben, um unser Haus zu bestellen. Wenn man in der Integration vorankommen will — und das wollen die Kommission und die fünf Partner —, dann wird man die Entscheidung nicht auf die letzte Minute verlegen können; das ist schon deshalb unmöglich, weil im Vertrag und in den EWG-Verordnungen bestimmte Fristen gesetzt sind. Das wichtigste Datum ist der 1. Januar 1966, denn von diesem Tag an gilt die qualifizierte Mehrheit im Ministerrat. Wenn Sie sich vor Augen halten, wie viele Stimmen auf die Agrarexportländer entfallen, dann können Sie sich vorstellen, was dann passiert.
Wie hat sich die Bundesregierung — die Frage muß ich stellen — darauf vorbereitet? Trotz eines riesigen Apparates und trotz der nahezu unbeschränkten Mittel, die der Bundestag für wissenschaftliche Arbeiten zu bewilligen bereit ist, hat es das Bundesernährungsministerium noch nicht einmal fertiggebracht, eine saubere Analyse der Entwicklungstendenzen der deutschen Landwirtschaft aufzustellen. Eine solche Analyse müßte auf die Situation in den Jahren 1970 bis 1975 abzielen, wenn im Gemeinsamen Markt auch die letzten Hindernisse weggefallen sind. Spätestens bis zu diesem Zeitpunkt wird die Lage in vielen Bereichen unserer Landwirtschaft ganz anders aussehen als heute. Ein Teil der marktfernen Standorte wird auf einmal dem Markt näherrücken; ich denke dabei ,an Bayern. Für einen Teil unserer Produktion sehen die Chancen wesentlich schlechter aus, für andere dagegen besser.
Eine Analyse, die der Agrarpolitik helfen soll, muß aber noch weiter reichen. Man wird die Frage stellen müssen, wie sich das Preis-Kosten-Verhältnis voraussichtlich entwickeln wird, wie groß der Einfluß der Wettbewerbsverzerrungen ist und mit welchen Mitteln sie abgestellt werden können, wie es eigentlich mit den Kompetenzen zwischen Bonn und Brüssel bestellt ist und wie es mit den Finanzen aussieht. Wenn man das hat, kann man auch einigermaßen disponieren, Schwerpunkte schaffen usw. usf. Mir ,scheint es auf die Dauer unverantwortlich zu sein, mit der Stange im Nebel herumzustochern in dem naiven Vertrauen darauf, daß man schon nicht vom rechten Wege abkomme.
Selbst auf die Gefahr hin, Ihnen noch weiter auf die Nerven zu gehen, darf ich Sie daran erinnern, daß der Bundestag vor drei Jahren die Regierung aufgefordert hat, eine agrarpolitische Konzeption zu entwickeln, die dem Gemeinsamen Markt entspricht. Wie diese Konzeption ,aussieht, das ist uns und der Öffentlichkeit bis jetzt verborgen geblieben.
Es ist nicht meine Aufgabe, mir den Kopf darüber zu zerbrechen und der Regierung und der Koalition Vorschläge zu machen, was sie mit den zugesagten Milliarden anfangen sollen, die der Landwirtschaft in 'den nächsten beiden Jahren zufließen sollen. Die Probleme, die es anzupacken gilt, liegen ,auf der Straße; man braucht sie nur aufzuheben.
Ohne Ihnen hier die Einzelheiten eines SPDAgraranpassungsprogramms auseinanderzusetzen, möchte ich nur die Frage aufwerfen, ob Sie denn in der Strukturpolitik auch in Zukunft so weiterwursteln wollen wie bisher, ohne langfristiges Programm, ohne 'ausreichende Koordinierung der Maßnahmen von Bund und Ländern, ohne Einschaltung der landwirtschaftlichen Mitverantwortung, ohne ausreichende Kenntnis der weiteren Entwicklung. Die Antwort ist vielleicht darin zu suchen, daß sich die Strukturtitel des Einzelplans 10 als der beste Dispositionsfonds für Wahlgeschenke erwiesen hat. Das hatte den Vorteil, daß man die gleichen Beträge zweimal ,ausgeben konnte.
Wie stellen Sie sich eigentlich die Entwicklung der Marktstruktur vor? Glauben Sie allen Ernstes, daß sich nach der Methode des Herrn Struve eine Verbesserung erreichen läßt, die nach seinem eigenen Eingeständnis die öffentlichen Mittel dafür verwenden will, auf billige Importe mit subventionierten Exporten zu reagieren? Wieso hat es die Bundesregierung bisher für nicht notwendig gehalten, sich näher mit dem Gedanken eines Marktstrukturgesetzes zu befassen, das schließlich seit einem Jahr im Gespräch ist? Glauben Sie denn, es gelingt Ihnen in der kurzen Zeit, die noch zur Verfügung steht, die notwendige Initiative auch im kleinsten und entlegensten Dorf zu wecken, indem Sie einige Millionen in den Grünen Plan packen, die dann nicht ausgegeben werden, weil die Richtlinien nicht rechtzeitig herauskommen oder weil man das Geld für andere Dinge braucht?
Die Kartoffelwirtschaft z. B. hat dieser Tage einen Generalplan vorgelegt, der manchen Ansatzpunkt für vernünftige Maßnahmen enthält. Die Bundes-
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republik ist das größte Kartoffelland der EWG. Der Produktionswert der Kartoffelerzeugung ist größer als der Wert der gesamten Eisen- und Stahlerzeugung. Es wäre also der Mühe wert, sich darüber Gedanken zu machen und nicht nur Maßnahmen zu entwickeln, die den Bund Geld kosten. Warum ist der Bundesregierung auch hier nichts eingefallen?
Welche Konzeption hat die Bundesregierung auf sozialpolitischem Gebiet? Warten Sie auf andere? Wir wollen Sie nicht überfordern und Ihnen nicht zumuten, daß Sie unser Sozialprogramm für die Landwirtschaft übernehmen. Mit schönen Worten vom Familienbetrieb und von der bewährten Politik, wie sie ständig im Agrarbrief der CDU zu finden sind, kommen Sie jetzt doch nicht weiter. Wenn die Bundesregierung ein Konzept hätte, dann hätte sie für den Fall einer Getreidepreissenkung ein EWG-Anpassungsprogramm vorgelegt, bestehend aus einer Analyse, einem langfristigen Strukturplan einschließlich der Marktstruktur und einem Bündel vorbereiteter Gesetzentwürfe für die verschiedensten Bereiche. Dann hätte man sich nicht zu sorgen brauchen, was man mit den geplanten Mitteln anfangen soll. Dann, aber nur dann, hätte die Verzögerungstaktik in Brüssel noch einen gewissen Sinn gehabt. So aber wurden drei volle Jahre unnütz vergeudet. Diesen drei Jahren trauern wir nach, während Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, nur den Getreidepreis als Wahlparole beklagen.
Selbst wenn der Regierung und der Koalition jetzt noch etwas Vernünftiges einfallen sollte, wobei erhebliche Zweifel berechtigt sind, dann haben Sie noch einige Wochen Zeit, und dann kommt der Wahlkampf, dann kommt das neue Kabinett, und dann kommt der berühmte 1. Januar 1966, den Sie bis zuletzt negiert haben. Spätestens — das sei mein abschließender Satz — an diesem Tage wird die deutsche Landwirtschaft merken, daß die Agrarpolitik der Bundesregierung in der 4. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages einen riesigen Scherbenhaufen hinterlassen hat.