Rede:
ID0400100700

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    Deutscher Bundestag 1. Sitzung Bonn, den 17. Oktober 1961 Inhalt: Eröffnungsansprache des Alterspräsidenten Dr. h. c. Pferdmenges 1 A Geschäftliche Mitteilungen 1 B Namensaufruf der Abgeordneten und Wahl des Präsidenten 2 C Alterspräsident Dr. h. c. Pferdmenges 2 C, 2 D, 3 A, 3 B Dr. Krone (CDU/CSU) 2 D D. Dr. Gerstenmaier (CDU/CSU) . 3 B Amtsübernahme und Ansprache des Präsidenten D. Dr. Gerstenmaier 3 B Wahl der Stellvertreter des Präsidenten 6 C Dr. Mommer (SPD) 6 D Dr. Mende (FDP) 7 A Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . 7 B Dir. Jaeger (CDU/CSU) 7 C Dr. Dehler (FDP) 7 C Schoettle (SPD) . . . . . . . 7 C Zusammensetzung des Ältestenrates . . 7 C Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 1. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Oktober 1961 1 1. Sitzung Bonn, den 17. Oktober 1961 Stenographischer Bericht Beginn: 15.01 Uhr
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  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Ich nehme die Wahl an.

    (Allseitiger Beifall.)



Rede von Dr. Robert Pferdmenges
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident, ich bitte Sie, Ihren Platz einzunehmen, und spreche Ihnen die Glückwünsche des Hauses aus.

(Beifall auf allen Seiten.)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Meine Damen und Herren! Ihr Vertrauen beruft mich heute zum drittenmal in das Amt des Präsidenten des Deutschen Bundestages. Ich danke Ihnen für die Ehre, die Sie mir erneut damit erwiesen haben. Ich will mir auch fortan alle Mühe geben, dieses Amt in gewissenhafter Gerechtigkeit gegen jedermann zu führen. Die alten wie die neuen Mitglieder des Hauses bitte ich, mir dabei durch ihre vertrauensvolle Mitarbeit zu helfen.
    Dem Herrn Alterspräsidenten danke ich für die ernsten Worte, mit denen er den 4. Deutschen Bundestag eröffnet hat. Neben den alten, wohlvertrauten Mitgliedern des Hauses heiße ich herzlich willkommen die neuen, die zum erstenmal hier ihren Sitz einnehmen. Ich begrüße sie mit dem lapidaren Satz aus dem Artikel 38 des Grundgesetzes: „Sie sind Vertreter des ganz en Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Ich weiß, meine Damen und Herren, es gibt Leute, die diesen Satz für so etwas wie eine doch nicht mehr ganz zeitgemäße politische Kultformel halten. Aber ich bin glücklicherweise nicht allein des Glaubens, daß an seiner Geltung schließlich der Rang des deutschen Parlamentarismus hängt.

    (Allseitiger Beifall.)

    Zum erstenmal sind in diesem Bundestag nicht mehr als drei Fraktionen vertreten. Das ist, wie ich glaube, keineswegs nur das automatische Ergebnis der 5 %-Klausel unseres Wahlgesetzes, sondern es ist weit darüber hinaus die Folge einer Konzentration auf das politisch Wesentliche, für die sich die deutschen Stimmbürger entschieden haben. Die natürliche Konsequenz, die sich daraus für die im Bundestag vertretenen Parteien ergibt, ist, daß sie immer weiträumiger sein müssen. Sie stehen vor der Notwendigkeit, nicht nur für viele sehr verschiedene Menschen eine attraktive politische Zweckgemeinschaft zu sein, sondern vielen eben auch eine verläßliche politische Heimat zu bieten. Das aber stellt die Parteien, die unseren heutigen Rechtsstaat mittragen und mitgestalten, vor die Notwendigkeit, in ihren eigenen Reihen, insbesondere in ihren Fraktionen, Freiheit und Bindung so miteinander in Einklang zu bringen, daß einerseits der Wille der Verfassung, wie er in Artikel 38 des Grundgesetzes zum Ausdruck kommt, voll respektiert, andererseits aber auch zwingenden parlamentarisch-politischen Notwendigkeiten Rechnung getragen wird. Eine Fraktion, die sich nicht zur leidlich einheitlichen Willensbildung durchringen kann, nützt auch dem Hause nicht viel. Und ein Parlament, das keine ausreichenden Mehrheiten zu bilden vermag, ist handlungsunfähig. Die parlamentarische Demokratie ist deshalb darauf angewiesen, daß in ihr nicht nur die Loyalität gegenüber dem eigenen Gewissen respektiert wird, wie es der Artikel 38 des Grundgesetzes verlangt, sondern daß eben auch die Loyalität gegenüber der eigenen politischen Aktionsgemeinschaft in Kraft und Geltung steht. Denn ohne sie wird jene Konzentration des Willens schwerlich bewirkt werden, die zur Bildung ausreichender parlamentarischer Mehrheiten und damit zum Funktionieren einer parlamentarischen Demokratie nun einmal erforderlich ist.
    Ich weiß natürlich auch, meine Damen und Herren, daß der deutsche Parlamentarismus und die deutschen Parteien im allgemeinen nicht dem Vorwurf ausgesetzt sind, daß sie es an diesem Willen zur Konzentration und Integration in sich fehlen ließen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Vorwurf ist viel häufiger: die Parteien seien zu eng, zu zwanghaft. Ein Beispiel dafür ist die in der öffentlichen Diskussion immer wiederkehrende Frage nach dem Fraktionszwang. Ich begrüße es, daß die öffentlichen Sympathien in Deutschland — wie mir scheint — deutlich an dem Bild des Abgeordneten hängen, das der Artikel 38 des Grundgesetzes für verbindlich



    Präsident D. Dr. Gerstenmaier
    erklärt. Aber wer ihm Nachachtung verschaffen will, der darf nicht übersehen, daß es eben nicht nur die dort auf den Leuchter gestellte Loyalität gegenüber dem eigenen Gewissen gibt, sondern auch die Loyalität gegenüber der eigenen Partei und Fraktion und ihrer frei bejahten Programmatik. Von entscheidender Bedeutung bleibt jedoch, daß unsere Verfassung im Zweifels- und im Konfliktsfall — und auf sie kommt es hier schließlich an — die Loyalität gegenüber dem eigenen Gewissen allen anderen Loyalitätsverpflichtungen souverän überordnet. Das ist nicht ein Ausdruck von überholtem Subjektivismus oder Individualismus, sondern es ist die Probe auf den Charakter unseres freiheitlichen Rechtsstaates; er ist dem Geist der Knechtschaft in jeder Gestalt abhold.
    Indessen wird uns mit diesem Satz des Artikels 38 des Grundgesetzes noch ein Verfassungsauftrag zuteil, der den vierten Bundestag in einem möglicherweise noch härteren Maße in Pflicht nehmen und in Atem halten wird als seine drei Vorgänger. „Sie sind Vertreter des g a n z en Volkes", so will es unsere Verfassung von uns. Also nicht nur über den Wahlkreis hinaus, den wir vertreten, nicht nur über die Gruppe und die Schicht hinaus, der wir nahestehen, nicht nur über die Partei hinweg, in deren Reihen wir sind, sondern auch über den Bereich der Bundesrepublik hinaus fordert die Verfassung damit jeden einzelnen von uns vor den Lebens- und Schicksalsbereich der ganzen Nation.

    (Lebhafter Beifall.)

    Es ist mithin nicht in unser Belieben gestellt, ob wir gesamtdeutsch denken, ob wir unser politisches Tun und Lassen im Blick auf das Schicksal der ganzen Nation verantworten wollen oder nicht. Nein, das steht gerade nicht in dem Belieben des einzelnen Mitglieds dieses Hauses, es steht nicht einmal im Belieben einer noch so großen Mehrheit, es ist vielmehr ein uns alle verpflichtender Verfassungsauftrag. Der Abgeordnete des Bundestages, der sich ihm entzöge, würde, wie ich glaube, eine Grundverpflichtung seines Mandats verletzen und verfassungswidrig handeln.
    Der Herr Bundespräsident hat kürzlich in einer bedeutenden Rede in Hamburg an den Absatz 5 der Londoner Schlußakte von 1954 erinnert. In ihm wurde festgestellt, daß die Regierung der Bundesrepublik allein legitimiert ist, als Vertreterin des ganzen deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen. Der Bundestag folgt nur dem durchgängigen Selbstverständnis des Grundgesetzes, wenn er sich seiner gesamtdeutschen Verpflichtung bewußt ist. Es ist uns jedenfalls zur Pflicht gemacht, unser Mandat in dem Bewußtsein der Verantwortung für das ganze deutsche Volk wahrzunehmen, also auch für die, denen — um noch einmal mit der Präambel des Grundgesetzes zu sprechen — hier in diesem Hause mitzuwirken versagt ist.
    Die Erinnerung daran kommt in dieser Stunde natürlich nicht von ungefähr. Jeder weiß, daß diesem Haus in der neuen Legislaturperiode mit großer Wahrscheinlichkeit Entscheidungen abverlangt werden, in denen es um das Schicksal unseres ganzen
    Volkes, um Krieg oder Frieden und damit um das Sein oder Nichtsein von vielen Millionen Menschen weit über Deutschland hinaus geht. Schillers Wort bleibt schrecklich wahr: „Es ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären." Die deutschen Generationen, die hier in diesem Saale vertreten sind, wird es bis in das Grab bedrücken, daß der Teufelskreis, der heute wieder die Völker schreckt, in Deutschland gründet. Zwar ist es nicht unsere Schuld, daß er sich zum Weltdrama auszuweiten droht, aber wir sind mit einer Dringlichkeit sondergleichen aufgerufen, das Unsere dazu beizutragen, um dieses Drama abzuwenden. Vor dieser Pflicht und dem, was dabei auf dem Spiele steht, treten alle anderen Aufgaben dieses Hauses, so notwendig sie auch sind, in die zweite Linie. Selbstverständlich müssen sie dennoch mit Fleiß und mit Hingabe erfüllt werden. Die legitimen Bedürfnisse — ich sage: die legitimen Bedürfnisse — des inner-politischen Machtkampfes, populäre Wohlstandswünsche und anderes mehr aber werden notfalls rigoros zurücktreten müssen hinter die Risiken und Opfer, die uns möglicherweise abverlangt werden. Diese Stunde, meine Kolleginnen und Kollegen, bedarf gar keiner Dramatisierung, sie verträgt sie auch nicht. Dem Wissenden ist es ohnehin klar und die Unwissenden ahnen es, daß jetzt eine große Probe darauf gemacht wird, ob sich die Welt des Rechts vor der nackten Drohung beugen oder sie unter möglicherweise kaum mehr kalkulierbaren Risiken brechen muß. Es ist nur recht und billig, daß wir mit der Frage, was dazu geschehen könne und müsse, bei uns selber anfangen, daß wir uns also fragen, was können wir, was müssen wir dafür tun. Es ist unumgänglich, daß wir das Risiko eines jeden Schrittes, den wir in der einen oder in der anderen Richtung tun, klar erfassen und hinter keinem unserer Partner zurückstehen in dem, was wir für Deutschland wie für die Sache der Freiheit in der Welt für notwendig halten. Es genügt nicht, wenn wir nach einer kritischen Überprüfung unserer eigenen politischen Entscheidungen und Methoden der vergangenen Jahre zu dem Ergebnis kommen, daß sie im ganzen richtig waren. Ich sehe z. B. keine Veranlassung, von dem abzugehen, was ich am 30. Juni dieses Jahres die Ehre hatte vor dem Hause darzulegen.

    (Beifall.)

    Aber es genügt nicht, sich dergestalt zu berufen. Wir müssen das Kommende bestehen. Das ist noch wichtiger und auch etwas anderes, als das Vergangene zu rechtfertigen.
    Der Zufall will es, meine Damen und Herren, daß, während sich hier in dieser Stunde der 4. Deutsche Bundestag konstituiert, in Moskau der 22. Parteikongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zusammentritt, um ein neues Parteiprogramm anzunehmen. Es ginge zu weit, sich hier damit im einzelnen zu befassen. Aber ich möchte doch empfehlen, dieses Werk des heutigen Kommunismus nicht zu ignorieren, und zwar mindestens aus zwei Gründen. Ich glaube zunächst, daß dieses Programm dazu angetan ist, auch jenen Kleinmütigen den Rücken zu steifen, die dazu neigen, den kommunisti-



    Präsident D. Dr. Gerstenmaier
    schen Osten schon deshalb für überlegen zu halten, weil er im Unterschied zum Westen eine „Idee" besitze. Nun, in diesem seinem neuen Programm versucht der russische Kommunismus so etwas wie einen „wissenschaftlichen Beweis" dafür zu liefern, daß der Entwicklungsweg der Menschheit unvermeidlich zum Sieg des Kommunismus führen werde, daß sich die Weltgeschichte zwangsläufig in der Herrschaft des Weltkommunismus vollende. Der Beweis dafür besteht in der Behauptung, daß der Weltkapitalismus — sprich: die freie Welt — am Verfaulen sei. In diesem Programm heißt es wörtlich, das bürgerliche Märchen von der Vollbeschäftigung habe sich als bitterer Hohn erwiesen. Die Arbeiterklasse leide unter ständiger Massenarbeitslosigkeit. Die kapitalistische Automatisierung mache die Arbeiter brotlos. Der Lebensstandard sinke. Millionen Farmer und Bauern würden von der Scholle vertrieben. Unglaubliche Entbehrungen und Elend seien das Los der Bauernschaft. Der kapitalistische Weltmarkt werde von zahlreichen Zollschranken und Restriktionswällen durchschnitten. Gebilde wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellten in Wirklichkeit nur neue Aufteilungen des kapitalistischen Weltmarktes dar und würden zu Herden schwerer Reibungen und Konflikte.
    Nun, meine Damen und Herren, auch der furchtsamste und kleinmütigste Zeitgenosse kann auf den ersten Blick erkennen, von welch haarsträubender Qualität dieser sogenannte wissenschaftliche Beweis für den Sieg des Kommunismus in der Welt ist! Und eine solche bornierte Mißhandlung der Wirklichkeit soll dem Wahrheitsbewußtsein, soll der Denk- und Tatkraft der freien Welt über sein? Nein, dieser Popanz kann uns ebenso kalt lassen wie die in dem Programm verheißene Verwirklichung des Vollkommunismus in den Sowjetstaaten. Beides hätte für uns höchstens theoretisches Interesse, wenn nicht beides ein Licht, wie ich meine, wahrscheinlich sogar ein höchst intensives Licht werfen würde auf die gegenwärtige Außenpolitik der Sowjetunion. In diesem Lichte jedenfalls erscheint sie zwar auf brutale Einschüchterung, aber nicht auf den Krieg hin entworfen und geplant. Denn dieses neueste Programm der Sowjets ist nach meiner Erkenntnis trotz allem eben kein Kriegsprogramm! Wieso auch! Warum sollten die Sowjets denn das unerhörte Risiko eines großen Krieges laufen, wenn nach der kommunistischen Doktrin der Westen ohnehin am Verfaulen ist? Und wie könnte zu der von Chruschtschow persönlich noch dieser Generation verheißenen Überschußwirtschaft des Vollkommunismus gelangt werden, wenn man Krieg führen will?
    Ich könnte mir vorstellen, daß diese simplen Überlegungen dem kritischen Betrachter mehr besagen als Chruschtschows offizielles Abrücken von der Kriegstheorie Lenins und Stalins. Es sind zwar durchaus einleuchtende Argumente, mit denen Chruschtschow den Gedanken an den großen Krieg wie an den lokalen Krieg seit 1956 in seinen öffentlichen Reden immer wieder abgelehnt hat. Dennoch müssen diese Erklärungen so lange dem größten Mißtrauen begegnen, solange sich Moskau nicht dazu versteht, auf seine Drohungen zu verzichten undan der Einleitung effektiver Abrüstungsmaßnahmen teilzunehmen. Die einseitige Wiederaufnahme der Atomwaffentests durch Sowjetrußland bleibt auch dann eine Provokation des Friedenswillens, ja eine „schamlose Mißachtung" der ganzen Welt, wie Paul Nitze, der Amerikaner, kürzlich mit Recht gesagt hat, wenn sie „nur" der Einschüchterung im Nervenkrieg dienen soll.
    Selbstverständlich wird das alles hier nicht gesagt, um den aufgeschreckten Westen und vorab uns Deutsche in sanften Schlummer zu wiegen. Nein, jetzt, da die Sowjets nach Berlin greifen und der Kommunismus zur großen Kraftprobe ansetzt, jetzt ist nicht die Zeit zum Schlafen. Jetzt heißt es wachsamer und entschlossener sein als je zuvor! Denn kommunistische Parteiprogramme und KremlReden sind leider noch keine Garantie für den Frieden! Im Gegenteil, isle könnten auch die Instrumente einer bewußten Täuschung sein! Dennoch, meine Damen und Herren, erscheint es mir auch heute nicht nur erlaubt, sondern geboten, eben nicht nur darauf und auf die Waffen zu starren. Die Waffen sind ohne allen Zweifel von größter Wichtigkeit, so wie diese Welt beschaffen ist. Wir könnten im Kampf um Berlin einpacken, wenn wir nicht des Wortes unserer Verbündeten und der Realität der NATO mit ihrem ganzen Instrumentarium von Abschreckungsmitteln gewiß sein könnten. Die Aufgabe dieses Bundestages besteht aber nicht nur darin, alles Mögliche zu tun, um diese Verteidigungskraft noch zu steigern, sondern auch Kräfte und Ideen zu entbinden, mit denen die Sache Deutschlands, die Sache des Friedens und der Freiheit vor der Wand der Waffen politisch und diplomatisch weitergebracht werden kann.

    (Beifall.)

    Wir sind dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, ebenso wie der englischen und französischen Regierung und allen unseren Verbündeten dankbar für das, was sie dafür tun.
    Wenn das heute in Moskau vorgelegte Programm nicht eitel Schall und Rauch ist, könnte man sich sogar vorstellen, daß es von der russischen Seite her vielleicht einen, wenn auch bescheidenen Ansatz bietet, um die Welt aus der Krisis herauszuführen, in die sie durch die Sowjets gestürzt wurde. Denn in diesem Programm stehen nicht nur groteske Torheiten, sondern eben auch einige goldene Worte. Wenn da z. B. der grundsätzliche Verzicht auf Kriege als Mittel zur Entscheidung von Streitigkeiten proklamiert und statt dessen ihre Entscheidung durch Verhandlungen gefordert wird, dann können wir Deutsche mit der gesamten zivilisierten Welt dazu doch nur ja sagen. Trübe stimmt dabei nur die Erinnerung an die vergangenen 11/2 Jahrzehnte mit ihrer Kette gescheiterter Verhandlungen. Oder wenn da z. B. die Rede ist vom Ausbau der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit auf der Grundlage der vollständigen Gleichheit und ides gegenseitigen Vorteils der Völker — nun, so würden wir Deutsche auch dazu nur allzugern ja sagen. Schon allein deshalb, um mit dem russischen Volk ohne Rücksicht auf seine politische Ideologie endlich wieder in nachbarlichem



    Präsident D. Dr. Gerstenmaier
    Frieden zu leben. Aber wenn wir gar in dem neuen Programm der Sowjetunion den Satz lesen — ich zitiere wörtlich —, „daß man einem freien Volk keine Beglückung aufzwingen kann, ohne damit seinen eigenen Sieg zu untergraben" — nun, so wissen wir nicht, ob wir 'darüber lachen oder weinen sollen. Denn während wir diesen Satz lesen, haben wir seine tägliche Verhöhnung durch Moskaus Statthalter Ulbricht und seine Leute vor uns. Tag und Nacht sehen wir die Mauern und die Todesstreifen, hinter denen Deutschlands großes Elend haust.
    Wir haben freilich allen Anlaß, anzunehmen, daß das die Programmatiker im Kreml mindestens ebenso kühl läßt wie jene Zeitgenossen in anderen Ländern, die zwar vor dem Kreml das Kreuz machen, sich aber auch dem dürren Kalkül ergeben: Deutschland muß geteilt bleiben, damit die Deutschen ohne Gefahr niedergehalten werden können! — Meine Damen und Herren, es sind Rechnungen dieser Art, die die Welt an den Rand eines neuen Krieges gebracht haben. Denjenigen, die diese Rechnung in der freien Welt aufgemacht haben, ist mindestens entgangen, daß unser Ja zur europäischen Integration eben nicht nur ein Beispiel dafür ist, wie man aus der Not eine Tugend macht, sondern daß es die freie Folge einer tiefen Einsicht ist in die Tragik, in die Schuld und in die Notwendigkeit unserer und der ganzen europäischen Geschichte. Die Absage an alte Leitmotive und Vorstellungen deutscher Politik hat sich darin ebenso ausgedrückt wie unsere Sehnsucht, in der Gemeinschaft der europäischen Völker einen neuen Weg des Friedens und der Freiheit zu gehen. Ich bin ganz gewiß, daß das deutsche Volk in dem gleichen Geist auch Sowjetrußland jede vertretbare Garantie zu geben willens war und ist. Aber es ist uns nicht erlaubt — auch der Artikel 38 des Grundgesetzes erinnert uns wieder daran —, zu verzichten auf das untilgbare Urrecht eines jeden Volkes, das sich nicht selbst aufgegeben hat, auf das Recht also auch des unseren, auf seine Selbstbestimmung und seine Einheit.

    (Starker Beifall.)

    Meine Damen und Herren! Dieses Haus wird in den nächsten vier Jahren die Erfahrung machen: „Der Dienst der Freiheit ist ein strenger Dienst!" Wir sehen uns einer Herausforderung gegenüber, die nicht nur Berlin, nicht Deutschland allein, sondern nahezu allem gilt, was nach unserer gemeinsamen Überzeugung das Leben auf dieser Welt lebenswert macht. Diese Herausforderung muß angenommen werden. Wir gedenken sie zu bestehen in der Gemeinschaft der freien Welt, furchtlos, besonnen und im Vertrauen auf Gott, der das Recht liebt.
    Ich danke Ihnen.

    (Lebhafter Beifall.)

    Meine Damen und Herren. Einer interfraktionellen Vereinbarung folgend, unterbreche ich die Sitzung vor dem Aufruf des nächsten Tagesordnungspunktes für dreißig Minuten. Wir treten wieder zusammen um 17.20 Uhr.
    Die Sitzung ist bis 17.20 Uhr unterbrochen. (Unterbrechung von 16.50 bis 17.30 Uhr.)

    Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
    Ich rufe auf den Punkt 5 der Tagesordnung: Wahl der Stellvertreter des Präsidenten.
    Es ist eine Übereinstimmung darüber zustande gekommen, daß vier Stellvertreter gewählt werden sollen.

    (Lachen bei der SPD.)

    — Dabei hat mir die SPD nachdrücklich mitgeteilt, daß sie es für weit besser halte, wenn nur zwei Stellvertreter gewählt würden. In Anbetracht dessen, daß in dieser konstituierenden Sitzung eine lange und ausgiebige Geschäftsordnungsdebatte über diesen außerordentlich wichtigen Punkt von keiner Seite gewünscht wird, ist aber auch die SPD insoweit damit einverstanden und beteiligt sich entsprechend an dieser Wahl.

    (Unruhe bei der SPD.)

    Sie schlägt für die Wahl zu Vizepräsidenten

    (anhaltende Unruhe bei der SPD)

    — meine Herren, hören Sie Ihre Vorschläge an! — Herrn Professor Carlo Schmid und Herrn Erwin Schoettle vor. Die CDU/CSU schlägt Herrn Dr. Richard Jaeger vor.

    (Buh-Rufe von der SPD.)

    — Das ist gegen das Protokoll.

    (Heiterkeit bei der SPD.)

    Die FDP schlägt Herrn Dr. Thomas Dehler vor.
    Weitere Vorschläge werden nicht gemacht.

    (Abg. Dr. Mommer: Zur Geschäftsordnung!)

    — Herr Abgeordneter Mommer, wollen Sie doch eine Geschäftsordnungsdebatte? — Keine Debatte, aber eine kurze Erklärung.

    (Abg. Dr. Mommer: Eine kurze Erklärung!)

    — Bitte sehr!