Meine Herren und Damen! Sie, Herr Minister, haben dem Hohen Hause nach jahrelanger Diskussion in Fachorganisationen und in der Öffentlichkeit über eine moderne, umfassende, neue Jugendgesetzgebung, die das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz aus dem Jahre 1922 ersetzen und verbessern sollte, nun die Drucksache 2226, die hier zur Debatte steht, vorgelegt, also wieder einmal eine Novelle — die zweite Novelle zum RJWG —, die wesentliche Bestimmungen des alten Gesetzes ändert, ohne auch nur einigermaßen die Erwartungen und Anforderungen unserer jungen Generation zu erfüllen.
Den Kern des Gesetzes, Herr Minister, bilden doch auch nach Ihrer Absicht die §§ 4 und 4 a. Doch nur um dieser Paragraphen willen haben Sie die sich nach den intensiven Diskussionen und Anregungen draußen bereits abzeichnenden Umrisse eines wirklich modernen und umfassenden Jugendhilfegesetzes fallengelassen und sich im übrigen wieder einmal mit einem Flicken auf einem alten Kleid begnügt.
— Ich darf es Ihnen erklären, Frau Dr. Weber. Herr
Minister, um die §§ 4 und 4 a zu rechtfertigen, pirschen Sie sich — zugegeben, in großen Umwegen — an diese Novelle heran.
Sie entwickeln dafür eigens eine Theorie vom „Wächteramt" des Staates, wie aus Ihren Erklärungen und Begründungen zu dem Gesetz hervorgeht. Sie gestatten diesem „Wächter" freundlicherweise, daß er ins Horn bläst, wenn es irgendwo brennt, damit sich dann die Löschhelfer — hoffentlich — einfinden. Sie wollen diesem Wächter — diesem Nachtwächter, möchte ich sagen —
nicht gestatten, selber die Feuerwehr zu sein, wollen nicht, daß er selbst aus seiner Verpflichtung heraus Notstände bekämpft oder ihnen vorbeugend entgegentritt.
— W i r möchten es aber, Frau Dr. Weber!
Dieser soziale Rechtsstaat — er ist es, in dem wir heute leben, den Sie auf diese Weise köpfen wollen —
wird in dieser Novelle vertreten durch die Gemeinden, durch die Kommunen, in denen der Bürger im Rahmen der Selbstverwaltung in einer übersehbaren Möglichkeit der Mitwirkung unmittelbar Einfluß nimmt oder mindestens nehmen kann, ohne Unterschied und in gleicher Weise.
Diesen Einrichtungen der kommunalen Selbstverwaltung wollen Sie also nach diesem Gesetz lediglich ein Wächteramt zubilligen. Von dieser Konstruktion, die Sie sich gebaut haben, kommen Sie dann hin zur „Position des Bürgers als selbständiger, sittlich verantwortlicher Persönlichkeit",
die eigentlich gerade in der gemeindlichen Selbstverwaltung voll zum Zuge kommt, aber Sie tun es nur und ausschließlich zu dem Zweck, Ihre Auslegung von Subsidiarität, die bei Ihnen eine Rangfolge in Staat und Gesellschaft bedeutet, für das Gebiet der Jugenderziehung zu rechtfertigen.
Die Schlußfolgerung, Frau Dr. Weber, aus dieser Gedankenkonstruktion ist, daß die Kernparagraphen dieser Novelle, die §§ 4 und 4 a, wie Sie dann sagen — wir wollen da ganz offen sein —,
eine „Fortentwicklung" der Auffassung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes von 1922 seien. Um viele
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Frau Keilhack
andere Bestimmungen brauchen wir uns bei dieser Novelle überhaupt nicht zu streiten, oder wir können sie in guter und hoffentlich auch fruchtbarer Diskussion im Ausschuß durchaus zu einem guten Ende bringen. Aber ich muß sagen, Herr Minister, mit den §§ 4 und 4 a haben Sie wirklich eine bessere Akrobatik vollbracht.
Diese Behauptung, das sei eine „Fortentwicklung", meine Herren und Damen, Herr Minister, ist etwa mit der Behauptung zu vergleichen, daß die Farbe schwarz eine Fortentwicklung der Farbe weiß sei.
Damit will ich — das möchte ich betonen — nichts in das Gesetz hineindeutein.
Ich meine, daß Ihre Auslegung Sinn und Text des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes von 1922 nicht fortentwickelt, sondern total auf den Kopf stellt.
- Darauf kommt es sicher an, aber dieser Betrachter muß ja die Möglichkeit haben, auch einmal seinen Standpunkt darzulegen.
Meine Herren und Damen, auch unsere Meinung ist es, daß das RJWG alt ist. Es ist 1922 unter ganz anderen Umständen gemacht worden — und tatsächlich in sehr vielem überholt. Es wäre also sehr verdienstvoll, es durch ein modernes, durchdachtes und zeitgemäßes Jugendgesetz zu ersetzen oder wenigstens zu verändern.
Die jetzt jedoch von Ihnen postulierte Rangfolge, Herr Minister, d. h. der Vorrang der freien Arbeit vor der öffentlichen, der kommunalen Jugendhilfe mit dem Rechtsanspruch der freien Verbände, der freien Träger auf Subventionierung durch die Länder und Gemeinden, ist weder aus dem Text noch aus dem Geist, aus dem heraus damals das Gesetz gestaltet worden ist, zu begründen.
— Das ist eine sehr freie Auslegung von „Fortentwicklung".
Meine Herren und Damen, da sich die Begründung dieses Gesetzes sehr auf das alte RJWG beruft, waren wir, wahrscheinlich alle, die wir heute morgen hier beraten, gehalten, die Debatten um das RJWG im damaligen Reichstag in den Protokollen nachzulesen. Das habe ich auch getan. Wenn Sie
nichts anderes überzeugt, Herr Minister, überzeugt Sie vielleicht eine Redepassage aus der damaligen Aussprache, die deutlich macht, daß Sie das damals Gemeinte völlig falsch interpretieren.
Ich greife aus einer Rede von Frau Neuhaus etwas heraus. Man kann mit Zitaten trefflich streiten; ich weiß es. Herr Minister, Sie haben es auch versucht. Aber ich glaube, daß ich dieses Zitat sinngemäß aus der Gesamtrede herausgenommen habe. Ich bemühe mich, hier keine demagogischen Beweise zu bringen, sondern die Zitate so anzuführen, daß sie das Gemeinte richtig wiedergeben. Frau Neuhaus war damals offenbar eine der aktiven Mitarbeiterinnen an diesem Gesetz.
— Sie wissen es, Frau Dr. Weber.
Frau Neuhaus hat damals gesagt:
Wenn das Gesetz die Jugendfürsorge in ihrem
ganzen Umfang auf behördlichen Boden stellt,
— das war damals das Neue —
so doch keineswegs in der Art, daß es die freie Wohlfahrtspflege verdrängt.
— verdrängen könnte, das war es, wovor damals die freien Träger Angst hatten, was sie infolge der vollen Umstellung der freien auf die öffentliche Verpflichtung befürchteten. —
Im Gegenteil,
— sagt Frau Neuhaus —
es verbindet vielmehr Behörden und freie Wohlfahrtspflege zu einem Ganzen und stellt sie vereint und geschlossen und darum in voller Wirkungsmöglichkeit in den Dienst unserer Jugend.
Beachten Sie dann bitte den folgenden Satz. Sie sagt:
Das ist die Tendenz, die durch das ganze Gesetz geht. Man müßte schon das Gesetz, ich möchte fast sagen: böswillig vergewaltigen, wenn man diese Zusammenarbeit ausschließen wollte.
Die Verpflichtung zur Zusammenarbeit, zur Heranziehung der freien Kräfte wurde nicht nur aus der Erkenntnis der Notwendigkeit — der wir uns voll anschließen —, auf keine Mitarbeit aus Organisationen und aus Verbänden zu verzichten, geschaffen, sondern auch, um die auf die öffentlichen Einrichtungen verpflichtend neu übertragenen und vielfachen Aufgaben aus finanziellen Gründen — es war damals Inflation, Sie wissen es sehr genau — zu begrenzen. Deshalb ist damals z. B. auch der § 4 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes als Kann-Aufgabe fixiert worden, und deshalb hat man dort den Begriff „gegebenenfalls" hineingebracht. Man wollte die gemeindliche Pflicht zur Schaffung von Einrichtungen und Veranstaltungen auf jugendpfle-
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Frau Keilhack
gerischem Gebiet begrenzen, um nicht einen Sturm von Anforderungen auf die Gemeinden zukommen zu lassen. Dieser Paragraph ist also nicht so zu verstehen, daß damit eine Nachrangigkeit der öffentlichen Jugendhilfe festgelegt werden sollte, wie Sie es jetzt auslegen und wie es aus dem Text und dem Sinn Ihrer Novelle, mindestens der §§ 4 und 4 a — denn das sind ja die Ausgangspunkte für die anderen Regelungen — hervorgeht. Hier liegt der Grund für die Verschiedenheit der Betrachtungsweise. Ich behaupte, daß unsere der sachlichen Situation von damals voll entspricht.
Der § 6 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes bestätigt übrigens ebenfalls, was ich von der damaligen Sachlage gesagt habe. Er besagt — genau wie es damals in den Reden zum Ausdruck gebracht wurde —, daß die freien Kräfte zur Mitarbeit heranzuziehen sind und auf ein planvolles Miteinander aller Organe und Einrichtungen hinzuwirken ist. Das ist das Vernünftigste und auch das bisher Praktizierte. Diese gute Zusammenarbeit ist, wenn Ihre Novelle so in Kraft treten sollte, wie sie vorliegt, in Gefahr, unheilbar zerstört zu werden. Davor warne ich alle hier im Hause.
Herr Minister, auch Ihre Interpretation des Elternrechts, dessen Wahrung nach Ihrer Ansicht die in Ihrem Gesetz fixierte Vorrangigkeit der freien Jugendpflege begründet, ist absolut willkürlich und weder aus einer Bestimmung des Grundgesetzes noch aus anderen bestehenden Gesetzen abzuleiten.
Mit dieser Novelle, Herr Minister, verzichten Sie außerdem für absehbare Zeit auf das von allen Seiten geforderte moderne und umfassende Jugendhilfegesetz.
Ich möchte noch einmal, damit Sie sich alle der Tragweite der Wirkung dieses Gesetzes — dessen Bedeutung leider Gottes nur in Fachkreisen voll erkannt wird — bewußt sind, deutlich machen: Sie verzichten wieder auf nachhaltige Bemühungen um Finanzhilfe für die Städte und Kommunen für die Jugendhilfe, die es möglich machen würde, daß zunächst einmal wenigstens die bisher schon bestehenden gesetzlichen Bestimmungen voll ausgeschöpft werden können. Herr Kemmer, Sie haben das berührt und gesagt, man müsse sich jetzt wirklich einmal bemühen, die Jugendhilfe in den Gemeinden finanziell möglich zu machen. Sie vertreten hier absolut die Meinung der Mehrheit. Sie haben seit 1953, seit der letzten Novelle, 7 Jahre Zeit dazu gehabt.
Warum haben Sie es bisher nie versucht? Hätten
Sie es getan, manche Dinge wären uns erspart ge-
blieben, auch diese völlig unzulängliche Novelle.
Auch in der jetzigen Novelle wird alles Deklaration bleiben, wenn Sie sich nicht um zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten für eine bessere Jugendhilfe bemühen.
Sie, Herr Minister, sichern in dieser Novelle nicht einmal den Rechtsanspruch für die materielle Minderjährigenhilfe, der bisher nach den Reichsgrundsätzen bestanden hat und der beim Sozialhilfegesetzentwurf ausdrücklich zur Regelung in dem erwarteten Jugenhilfegesetz ausgeklammert worden ist. Sie haben — das möchte ich Ihnen noch einmal ganz besonders vor Augen führen — die vordringlichen, für alle jungen Menschen entscheidend wichtigen Bestimmungen für allgemeine Berufsausbildungs-und Erziehungsbeihilfen, die allein ihnen allen gleiche Start- und Aufstiegschancen in ihrem Lebenskampfe sichern, völlig aus Ihrem Gesetzentwurf ausgeklammert, im Gegensatz zu Ihrem Vorhaben in den etlichen Entwürfen, die dieser Novelle vorausgegangen sind und die Sie nicht einbringen konnten, weil Sie im Kabinett damit nicht durchkamen. Sie verzichten also in dieser Novelle völlig auf die Regelung allgemeiner Berufsausbildungs-und Erziehungsbeihilfen — heute und hier das Allernotwendigste für die Jugend —, die auch der Bundestag auf Antrag der SPD-Fraktion vor zwei Jahren gefordert hat.
Ich finde nebenbei, daß es eine kolossale Mißachtung des Willens des Bundestages ist,
darauf überhaupt nicht einzugehen und uns diesen Gesetzentwurf hier vorzulegen.
Selbst die fürsorgerischen Bestimmungen in dieser Novelle, Herr Minister, sind zu einem sehr großen Teil völlig unzulänglich formuliert oder in ihrer Auswirkung so unzeitgemäß, daß man darüber allenfalls vor zehn Jahren einmal hätte diskutieren können; und in der Hast bei der Abfassung .dieser Novelle haben Sie die notwendige Neuformulierung des § 1 sowieso vergessen, der ja nur Idas Recht des Kindes und nicht das Recht des jungen Menschen, des Heranwachsenden also, fixiert. Sie haben das vollkommen unterlassen und damit den textierten Anspruch dieser Altersgruppen an das RJWG praktisch ohne Wirkung gelassen. Ich glaube, Sie wissen ,das auch selbst. Nebenbei sei bemerkt, daß der gesamte § 1 in der bestehenden Formulierung kaum mehr als einen programmatischen Anspruch zugesteht, während er doch zu einem durchsetzbaren Recht hätte gemacht werden müssen. Auch das haben Sie versäumt.
Zu dem Gesetz im ganzen möchte ich noch einmal sagen, daß es der Forderung — die die gesamte an der Jugendpolitik interessierte Öffentlichkeit seit 1949 an 'das Parlament und die Regierung gerichtet hat — und insbesondere natürlich der Forderung all derer, 'die mit 'der Jugend fachlich zu tun haben — ein lebendiges Jugendamt
zu begründen und zu entwickeln, den Todesstoß versetzt.
Denn mit diesem Gesetzentwurf lassen Sie die Jugendämter, die das Herz der Jugendpolitik in den
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Gemeinden und also auch in der Bundesrepublik sein sollten, total einschrumpfen.
Herr Minister, bei dieser Gesamtbetrachtung möchte ich Sie fragen: kommt das alles eigentlich daher, ,daß sie vor Ablauf Ihrer Ministertätigkeit draußen unbedingt noch etwas vorzeigen mußten?
Ich glaube, ,daß Sie sehr wenig Freude ran diesem Gesetzentwurf haben werden, wenn Sie versuchen, ihn im Ausschuß gegen eine große Minderheit durchzupeitschen.
— Sie können ja später dazu reden, Herr Schütz.
Warum wollen Sie 'eigentlich diese Auseinandersetzungen und ,diese Unstimmigkeiten auf einem Gebiet heraufbeschwören, auf dem auch nach Ihren eigenen Angaben — Sie haben es in Ihrer Rede noch einmal gesagt — nur wirklich loyale, faire und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen ,allen Einrichtungen, zwischen allen Parteien und zwischen allen Weltanschauungen der Jugend überhaupt helfen kann?
Ich möchte dazu noch ergänzend bemerken, daß Sie, Herr Minister, diese Meinung auch einmal in einem Brief an mich vertreten haben, als wir über eine bestimmte Sache aus Ihrem Ministerium polemisierten. Sie sagten, Sie hätten doch immer großen Wert darauf gelegt, im Ausschuß vor allem auch mit der Opposition gut zusammenzuarbeiten, und Sie wollten das auch künftig tun.— Ich hoffe, daß sich das bei den Beratungen dieses Gesetzes auch wirklich bemerkbar macht. Der explosive Inhalt dieses Gesetzentwurfs jedenfalls bewirkt das Gegenteil von Zusammenarbeit.
— Sie mögen vielleicht 'darüber lächeln; es ist aber leider so, wie Sie wahrscheinlich aus den Meinungsäußerungen 2. B. der kommunalen Spitzenverbände und auch der Ausschüsse ides Bundesrates inzwischen gemerkt haben.
Die Grundhaltung dieses Gesetzentwurfs, meine Herren und Damen, drückt eine Mißachtung und eine Unterbewertung der hervorragenden, ideenreichen und selbstlosen Arbeit der Männer und Frauen der öffentlichen Jugendarbeit in Ländern und Gemeinden aus, die ihre Fähigkeiten weit über einen gewöhnlichen Arbeitstag hinaus aus Hinneigung zur Jugend zur Verfügung stellten und versuchten, unsere Jugend zur Entfaltung ihrer individuellen Fähigkeiten und zur mitbürgerlichen Gesinnung zu erziehen.
Dieser Gesetzentwurf, Herr Minister, belohnt die vielfältige ehrenamtliche Arbeit der Stadtverordneten und Gemeindevertreter für die Bemühungen
schlecht, die sie auf sich nehmen, um aus dem, wie Sie alle wissen, immer sehr knapp gefüllten Haushaltssäckel der Kommunen und Kommunalverbände für die Jugend in ihren Dörfern, Kreisen und Städten vorbildliche Einrichtungen zu schaffen. Diese ehrenamtlichen Helfer sorgen dafür, daß familienergänzende Einrichtungen und solche geschaffen werden, die den Bildungs- und Gestaltungswillen der Jugend anregen, daß Räume für ihre Gruppenarbeit zur Verfügung gestellt werden, sorgen dafür, daß die Jugendlichen aus den verrauchten Wirtshäusern herauskommen und von der Straße gebracht werden.
— Ich komme darauf zurück! — Städte wie Frankfurt, Mannheim, München, Nürnberg, Kassel, Han-. nover, Bremen, Berlin und Hamburg mögen für alle die Gemeinden und Städte genannt sein, in denen aller Einfallsreichtum darauf verwandt wird, durch eine moderne öffentliche Jugendhilfe im Zusammenwirken mit allen auf diesem Gebiet Tätigen, natürlich vor allem den freien Kräften, den jungen Menschen zu dienen.
Ich frage Sie aus Anlaß der Beratung dieser Novelle: Ist denn das Feld dieser Arbeit für die Jugend nicht so groß, daß alle willigen Menschen, alle willigen Organisationen und Institutionen reichlich Betätigung finden auch ohne Deklarierung der Voroder Nachrangigkeit? Und wo, Herr Memmel, ist dieses Bestreben gehindert oder nicht auch durch öffentliche Mittel gefördert worden?
Im übrigen kommen von den freien Trägern auch keine oder nur sehr belanglose Klagen. Wie könnten sie aus innerstem Herzen wünschen, daß die Last der Verpflichtung, die ihnen in möglicher Erfüllung der Rechtsansprüche an Jugendhilfe aus diesem Gesetz aufgebürdet werden soll, auf sie zukommt? Sie können es nicht wünschen, denn diese Last werden sie im Grunde genommen gar nicht tragen können oder gar tragen wollen. Meine Herren und Damen, diese freien Verbände werden doch mit der Novelle um ihre eigentlichen Aufgaben gebracht, nämlich ihre Arbeitsgebiete nach Art und Umfang selbst zu bestimmen, und zwar da, wo sie sie — insbesondere rechtlich ungebunden — auch suchen wollen und sollen. Sie müssen vor allen Dingen auch da wirken können, wo die öffentliche Jugendhilfe die gesetzlichen Grenzen beachten muß. Hier handelt es sich um eine notwendige und menschlich und gesellschaftlich wichtige und unübertragbare Aufgabe, die ihnen erhalten bleiben muß, wenn sie funktionsfähig sein sollen. Wir wollen uns doch alle nichts vormachen, denn hier ist gar kein schuldhaftes Verhalten die Ursache. Wie steht es denn schon heute bei den freien Trägern um die Mitarbeiter und Mitglieder in ihren Organisationen und in ihren Verbänden? Sie werden doch zum allergrößten Teil nur durch die Maßnahmen der öffentlichen Jugendhilfe fähig gemacht, ihre Funktion in den freien Trägerorganisationen zu erfüllen, vergessen Sie das doch nicht!
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Es wird eine Gefährdung der besonderen Arbeitsgebiete der freien Trägerorganisationen und für diese eine Überforderung — auch ihrer Organisationskörper — durch die Verpflichtung aus Zuwendungen der öffentlichen Mittel entstehen, eine Verpflichtung, die aus den gebundenen Verwendungszwecken und den Abrechnungsverfahren infolge der strengen Richtlinien erwächst, denen sie sich natürlich alle unterwerfen müssen.
Wir wissen das alle. Wir haben Erfahrungen mit dem Bundesjugendplan. Wir wollen das hier gar nicht breittreten. Aber für uns, die wir in diesem Fach zu Hause sind, machen diese Erfahrungen deutlich, daß viele freie Organisationen sowohl hinsichtlich der an sie gestellten jugenderzieherischen Aufgaben als auch in verwaltungsmäßiger Hinsicht schon eindeutig überfordert sind. Wir haben uns — mindestens die Mitglieder des Ausschusses für Familien- und Jugendfragen — gerade in den letzten Jahren nicht wenig Sorgen gemacht und uns sehr bemüht, ihnen diese Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen, sie durch die öffentlichen Subventionen, die sie gerade in den letzten Jahren durch den Bundesjugendplan verhältnismäßig reichlich bekommen haben,
nicht zu verbürokratisieren, Frau Dr. Weber,
oder, wenn ich es noch deutlicher sagen darf, nicht zu korrumpieren. Wir wissen alle, was das heißt.
— Wir wollen alle vor unserer eigenen Tür kehren. Wir wollen uns hier nicht darüber auseinandersetzen. Wir schließen uns und die uns befreundeten Verbände gar nicht aus.
Es kommt darauf an, Tatsachen festzustellen, die wir sehen müssen, wenn wir ein solches Gesetz machen wollen.
Ich darf meinen Gedanken weiter ausführen. Herr Minister Wuermeling, sie, die Verbände selber, werden diese Sorgen mehr oder minder stark haben und auch zum Ausdruck bringen, denn — das ist doch völlig klar — sie werden bei immer größeren Anteilen öffentlicher Mittel noch stärker nach Richtlinien arbeiten und rechnen müssen und noch weniger frei sein für ihre selbstgewählten Aufgaben.
Ich möchte zur Erhärtung meiner Auffassung noch ein Beispiel vortragen. Herr Minister, Sie haben dem Bundesjugendring zur Zeit die Mittel gesperrt, was für den Bundesjugendring bedeutet, daß er möglicherweise mit seiner ganzen Organisation kopfüber geht, und zwar deshalb, weil der Bundesjugendring — ich lasse dahingestellt, aus welchem Grunde — die Richtlinien nicht einhalten konnte, die er innezuhalten oder auf deren Innehaltung zu achten er verpflichtet ist. Sie haben deshalb mit
dein Entzug der öffentlichen Gelder geantwortet. Ich lasse dahingestellt, ob das gerade die richtige Methode ist, ob man vom Ministerium aus dem Bundesjugendring nicht mit Rat und Hilfe über die Schwierigkeiten hätte hinweghelfen können. Ich nenne dies Beispiel nur, weil es ein Beispiel ist für die Gefahren, die jedem freien Verband drohen, der so wesentlich durch Subventionsmittel erhalten wird. Es droht die Gefahr, daß er seine Arbeit, die nach den Richtlinien über diese öffentlichen Mittel kanalisiert wird, nicht genügend nach seiner Vorstellung oder überhaupt so nicht machen kann, da er ein völlig anderes Aufgabengebiet gewählt hatte. Das wollte ich besonders deutlich machen. So ist es beim Bundesjugendring geschehen, und es ist auch schon einigen anderen freien Einrichtungen widerfahren.
Wenn ich Ihre Erinnerung auffrischen darf: Wir haben vor etwa einem Jahr mit den großen Verbänden der evangelischen und katholischen, sozialistischen und paritätischen Richtungen mit dem Ausschuß für Familien- und Jugendfragen und Haushaltsausschuß zusammengesessen, um zu versuchen, diese entsetzlichen und sie verbürokratisierenden Schwierigkeiten durch die Richtlinien aus der Welt zu schaffen, damit sie überhaupt weiter eine lebendige Arbeit leisten können. Sie wissen, daß wir uns immer wieder über die Anwendung des § 64 a der Reichshaushaltsordnung unterhalten haben, damit die Rechnungshofkontrolle in diesen Verbänden, die besonders beweglich, nämlich nahe am Menschen, arbeiten müssen, ausgesetzt oder erleichtert werden kann. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam und möchte diese Schwierigkeiten auch als möglichen künftigen Aspekt vor Augen der freien Träger stellen. Die Aufgaben werden natürlich immer verpflichtender für die Empfänger, je mehr sie von öffentlichen Mitteln leben.
Ich möchte noch ein Argument anführen, das Sie hoffentlich alle etwas beeindrucken wird. Die Verbände erfassen doch nur zirka 20 bis 25 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen 10 und 25 Jahren.
Ich glaube, daß die Elternmitgliedschaften in den Wohlfahrtsverbänden diesen Prozentsatz noch nicht einmal erreichen. Verehrte Frau Dr. Weber, wer verschafft denn den anderen, die nicht hier organisiert sind, die Erfüllung ihres Anspruches aus dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, wenn er nur über die Verbände realisiert werden kann?
— Doch, das sagt er.
— Jedenfalls ist es daraus herzuleiten, und es ist jedenfalls nur der gute Wille der Verbände, wenn sie es nicht in dieser Weise realisieren wollen.
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Wo bleibt das Recht dieser Eltern, meine Herren und Damen, die eventuell nicht verbandseigene Einrichtungen für ihre Kinder verlangen? Deren Ansprüche können doch nach der Sachlage nur von den Kommunen, nur von ihren Gemeinden erfüllt werden. Diese dürfen aber nach diesem Gesetz — und ich bitte Sie, Frau Dr. Weber, das Gesetz mit seinen Erläuterungen genau durchzusehen — nur über die freien Einrichtungen und eventuell, wenn diese überhaupt nicht schalten oder nicht wollen oder verzichten, nachrangig nach ihnen in Aktion treten.
Ich frage Sie, meine Herren und Damen: Ist diese Konstruktion nicht einfach absurd? Entspricht sie den Notwendigkeiten der Wirklichkeit, in der wir in diesem Staat leben?
Aber nicht nur der Anspruch der Eltern auf Gleichbehandlung nach dem Grundgesetz wird durch diese Konstruktion absolut verletzt, es wird auch der Anspruch der jungen Menschen auf Gleichbehandlung insoweit verletzt, als die Mitglieder der verschiedenen Organisationen quantitativ und qualitativ unterschiedliche Chancen in der Jugendhilfe bekommen, da die Einrichtungen und Veranstaltungen der freien Träger, der Verbände also, von dem selbst aufgebrachten Eigengeld abhängen. Die Folge ist also, daß reiche Verbände mit öffentlichen Mitteln gut ausgestattete Einrichtungen und Veranstaltungen — wohlgemerkt: mit Steuergeldern aller Bürger — schaffen können, während die armen Organisationen dazu — auch nicht in ähnlichem Maße
— nicht in der Lage sind, eine Erscheinung übrigens, die heute schon gang und gäbe ist und die eine absolute Ungerechtigkeit darstellt.
— Ich will überhaupt keine Nivellierung. Ich will die gleichen Chancen aller jungen Menschen und auch aller Eltern.
Ich kann mir auch nicht vorstellen — ich muß das aus den Zwischenrufen beinahe entnehmen —, daß Sie das auch nicht wollen. Das läßt sich meiner Ansicht nach auch mit dem Grundgesetz absolut nicht vereinbaren. Das möchte ich zu diesem Teil, ich will einmal sagen, zum pädagogischen Teil, über die Förderung der Jugend sagen.
Damit ist aber meine Kritik nicht erschöpft. Ich komme auf einige Rechtsüberlegungen, meine Herren und Damen, die ich Sie bitte, genau zur Kenntnis zu nehmen; sie haben übrigens auch bei der Ablehnung durch den Rechts- und Innenausschuß des Bundesrates im Mittelpunkt gestanden. Es ist durchaus berechtigt, daß man hier allgemein nach der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Jugendpflege gefragt hat. Es ist nicht gesagt, daß die Novelle von 1953 bier etwas präjudiziert hat. Wo kein Kläger ist, ist kein Richter. Das muß also durchaus nicht für alle Zeiten so sein. Sie kennen die Haltung
der kommunalen Spitzenverbände. Ich glaube nicht, daß diese die Novelle als zweiten Präzedenzfall so über die Bühne gehen lassen werden; sie muß also geändert werden. Es wird sicher eine Menge Rechtsgutachten geben, die eine erhebliche und, wie ich glaube, auch für uns als Parlamentarier verbindliche Aussagekraft haben; sie müssen wir im Ausschuß erörtern.
Die §§ 4 und 4a, die ich eben vom Gehalt her kritisiert habe, werfen aber auch rechtlich gesehen umstrittene Kompetenzfragen auf. Sie haben minde-siens erhebliche Eingriffe in die Haushaltspolitik der Gemeinden zur Folge. Deshalb muß auch hier eine Klärung durch Gutachten erfolgen. Das gleiche trifft für die §§ 16 und 17 zu. Sie vertragen sich ganz offensichtlich nicht mit dem Art. 83 des Grundgesetzes. Deshalb müssen auch deswegen eingehende rechtliche Überlegungen angestellt werden.
Mir scheint auch die gesetzliche Konstituierung des Beirats, des Kuratoriums für den Bundesjugendplan, ungewöhnlich zu sein. Es sollte geprüft werden, ob diese Form zulässig ist.
Den angekündigten Bericht über die Lage der Jugend in der Bundesrepublik und über das, was die Bundesrepublik zur Förderung der Jugend getan hat, begrüßen wir sehr. Es wäre nur zu überlegen, ob der Zeitraum von vier Jahren nicht zu lang ist.
Auf weitere Paragraphen möchte ich in der ersten Lesung nicht eingehen; ich müßte sonst meine Redezeit zu sehr ausweiten. Es wären sicher noch sehr wesentliche Bemerkungen zu machen. Das wollen wir aber dann im Ausschuß tun. Im Ausschuß werden wir auf eine sack- und fachgerechte, verantwortungsbewußte Beratung dieser Novelle achten. Wir hoffen, daß Sie das auch tun werden.
Wir hoffen weiter, daß bei der Beratung der Novelle und bei der Anhörung von Sachverständigen im Ausschuß auch bei den Mitgliedern der CDU/ CSU-Fraktion die Einsicht wächst, daß die Verabschiedung der Novelle in der vorliegenden Form einen Zusammenbruch der Jugendhilfe und der Jugendförderung in der Bundesrepublik zur Folge haben würde, der schwer reparabel wäre. Von einer Weiterentwicklung, die wir alle wünschen und von der viele, viele Jahre mit großen Hoffnungen gesprochen worden ist, kann nach der Novelle keine Rede mehr sein. Wenn sie Gesetz würde, würde eine so große Zersplitterung der Einrichtungen und Veranstaltungen in der Jugendhilfe eintreten, daß es moderne und leistungsfähige Einrichtungen, wie sie gerade in den letzten Jahren als Modelle und Beispiele in vielen Städten geschaffen worden sind, mit entsprechend hohen Einrichtungs- und Folgekosten, kaum mehr geben könnte.
Es würde nämlich die Gefahr bestehen, daß jede juristische Person, jeder Verband, jede Institution, der Sie in dieser Novelle bei entsprechender Eigenleistung einen Vorrang-und Rechtsanspruch auf Schaffung von Einrichtungen und Veranstaltungen, einschließlich der Errichtungs- und Folgekosten, geben — solche Vereine und Organisationen können auch eigens zu diesem Zweck gegründet werden —, in edlem
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) Wettbewerb und in Verkennung der für sie selbst drohenden Konsequenzen, an die Gemeinden mit solchen Forderungen herantreten würde. Das können Sie bei ehrlicher Betrachtung nicht verkennen. Eine solche Entwicklung würde nicht nur einen Rückschlag auf dem Weg zu einer modernen Jugendarbeit bedeuten, sondern auch eine unverantwortliche Verschwendung von öffentlichen Mitteln, von Steuern unserer Bürger.
Meine Herren und Damen, wir plädieren nochmals für eine gute und faire Zusammenarbeit, für eine fruchtbare Zusammenarbeit der öffentlichen und freien Jugendhilfe, so wie sie das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, seine Verfasser und auch seine Interpreten gewollt haben.
In diesem Sinne werden auch die Mitglieder der SPD-Fraktion ihren Pflichten als Abgeordnete auch bei den Ausschußberatungen nachkommen. Wir werden ernsthaft und gründlich beraten müssen und uns auch von Ihnen nicht drängen lassen — wir haben davon so zwischendurch einige Male etwas gehört —, weil Sie, Herr Minister, den Entwurf nicht eher zu Papier bringen konnten. Wir hoffen, daß Sie, Herr Minister, die faire Zusammenarbeit im Ausschuß für Familien- und Jugendfragen während der vergangenen elf Jahre aus Anlaß der Beratung dieser Novelle nicht aufs Spiel setzen wollen. Und Sie, meine Herren und Damen, haben Gelegenheit, die Reden Ihres Ministers in die Tat umzusetzen und hier, hier auch im Parlament, die Zusammenarbeit im Interesse unserer jungen Generation zu praktizieren. Sie ist immer das Postulat auf diesem Gebiet gewesen. Ich fand beim Lesen der Reichstagsprotokolle, die ich vorhin schon angeführt habe, auch die nachfolgenden Ausführungen unserer jetzigen Alterspräsidentin Frau Dr. Lüders, damals junge Abgeordnete, die über den Sinn des Gesetzes gesagt hat:
Die Pflicht aller Mitarbeiter in der Jugendwohlfahrt ist, im Geiste des Gesetzes tätig zu werden; denn Leben, Gesundheit und Sittlichkeit der Jugend sind nach unserer Auffassung kein Tummelplatz für die Kämpfe der Parteien und für die Kämpfe der Weltanschauungen. Die Jugend ist kein Objekt, auf deren Kosten politische und andere Zeloten ihre Experimente zu machen ein Recht hätten.
Dieser Auffassung, meine Herren und Damen, treten wir auch heute voll bei. Wir hoffen, daß Sie es
uns auch in den Ausschußberatungen ermöglichen.
Im übrigen beantragen wir aus den vorher angeführten Gründen und Überlegungen die Überweisung des Entwurfs an den Rechtsausschuß, damit dort die umstrittenen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Bestimmungen geprüft werden können.
— Ja, zusätzlich Überweisung auch an den Rechtsausschuß. Sie ersparen sich, meine Herren und Damen, dadurch ganz bestimmt die Anrufung des Vermittlungsausschusses nach Verabschiedung der Novelle durch den Bundestag. Die zusätzliche Überweisung an den Rechtsausschuß würde also, glaube
ich, praktisch ein Zeitgewinn sein. Ich bitte deshalb, diesem Antrag zuzustimmen.