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ID0312202900

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    Deutscher Bundestag 122. Sitzung Bonn, den 30. Juni 1960 Inhalt: Entgegennahme einer Erklärung der Bundesregierung Dr. von Brentano, Bundesminister 7037 A Majonica (CDU/CSU) 7046 B Wehner (SPD) . . . . 7052 B, 7102 D Dr. Schröder, Bundesminister . . . 7061 C Dr. Mende (FDP) 7062 D Schneider (Bremerhaven) (DP) . . 7068 C Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) 7076 A Strauß, Bundesminister 7085 D Erler (SPD) 7091 D Dr. Jaeger (CDU/CSU) 7097 C Dr. Bucher (FDP) 7102 C Nächste Sitzung 7103 D Anlage 7105 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Juni 1960 7037 122. Sitzung Bonn, den 30. Juni 1960 Stenographischer Bericht Beginn: 10.02 Uhr
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    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Juni 1960 7105 Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Graf Adelmann 2. 7. Dr. Becker (Hersfeld) 2. 7. Benda 2. 7. Bergmann* 2. 7. Berkhan* 2. 7. Birkelbach* 2. 7. Dr. Birrenbach* 2. 7. Dr. Böhm 2. 7. Frau Brauksiepe 2. 7. Brüns 2. 7. Dr. Burgbacher* 2. 7. Corterier 2. 7. Dr. Dahlgrün 2. 7. Dr. Deist* 2. 7. Deringer* 2. 7. Dopatka 2. 7. Dröscher 2. 7. Eilers (Oldenburg) 2. 7. Eisenmann 2. 7. Engelbrecht-Greve* 2. 7. Frau Engländer 2. 7. Even (Köln) 2. 7. Dr. Friedensburg* 2. 7. Dr. Furler* 2. 7. Geiger (München)* 2. 7. Dr. Greve 2. 7. Hahn* 2. 7. Frau Herklotz 30. 6. Holla 2. 7. Illerhaus* 2. 7. Jahn (Frankfurt) 2. 7. Kalbitzer* 2. 7. Frau Klemmert 2. 7. Koenen (Lippstadt) 2. 7. Dr. Kopf* 2. 7. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Kreyssig* 2. 7. Kühlthau 2. 7. Lenz (Brühl)* 2. 7. Dr. Lindenberg* 2. 7. Lücker (München) * 2. 7. Frau Dr. Dr. h. c. Lüders 2. 7. Maier (Freiburg) 2. 7. Margulies* 2. 7. Metzger* 2. 7. Müller-Hermann* 2. 7. Neuburger 2. 7. Odenthal* 2. 7. Dr. Philipp* 2. 7. Dr. Preusker 2. 7. Frau Dr. Probst* 2. 7. Rademacher 2. 7. Rasch 2. 7. Richarts* 2. 7. Sander 2. 7. Scheel* 2. 7. Dr. Schild* 2. 7. Dr. Schmidt (Gellersen)* 2. 7. Schmidt (Hamburg)* 2. 7. Dr. Schneider (Saarbrücken) 20. 7. Schultz 2. 7. Schüttler 2. 7. Stahl 2. 7. Dr. Starke* 2. 7. Storch* 2. 7. Sträter* 2. 7. Frau Strobel* 2. 7. Walter 2. 7. Frau Dr. h. c. Weber (Essen) 2. 7. Weinkamm* 2. 7. Frau Wessel 2. 7. Dr. Zimmermann 8. 7. * für die Teilnahme an der Tagung des Europäischen Parlaments
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    Rede von Fritz Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es tut mir aufrichtig leid, daß der Herr Kollege Guttenberg offenbar keine Zeit mehr hatte, seine Rede nach dem Anhören der Rede unseres Kollegen Herbert Wehner noch ein bißchen umzuformen. Es wäre sicher manches anders gewesen, wenn er etwas mehr Zeit dafür zur Verfügung gehabt hätte. Ich möchte vorschlagen, daß Sie einmal in einer Mußestunde diese beiden Reden nebeneinanderlegen. Der Vergleich wird außerordentlich interessant sein. Vielleicht gehört gerade dieser Vergleich der beiden Reden zu der Bestandsaufnahme, um die oder um deren Einleitung, es ja doch wohl in Wahrheit heute gehen sollte.
    Die Rede des Kollegen von Guttenberg war eine Rede der Selbstgerechtigkeit:

    (Beifall bei der SPD.)

    Auf der einen Seite des Hauses hat es nie Probleme, nie Schwierigkeiten gegeben; der Weg in die Zukunft ist so glasklar, als ob wir uns in der Welt nicht einer Fülle von Problemen gegenübersähen, die gemeinsames Nachdenken geradezu zur Pflicht machen, wie auch die Gegensätze früher zwischen uns gewesen sein mögen.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Da kommt eine neue Großmacht auf, China, und klopft an die Tür und wird das Abrüstungsgespräch, dessen Wichtigkeit der Bundeskanzler und auch die



    Erler
    Regierung in ihren Erklärungen immer wieder so hervorgehoben haben, entscheidend beeinflussen. Da bekommen die Vereinten Nationen eine ganz andere Zusammensetzung. Und mancher von uns hat doch einmal die Vorstellung gehabt, daß unter Umständen vielleicht auch die Frage des Selbstbestimmungsrechtes unseres Volkes einmal vor diesem Forum als letzter Zuflucht erörtert werden müßte und daß wir dann auf jeden angewiesen sein würden, der dort Sitz und Stimme hat, daß es also darauf ankäme, sich auch um die Neuen, die in die Vereinten Nationen hineinkommen, entsprechend zu bemühen. Da ist nach dem Nichtzustandekommen der Gipfelkonferenz nun auch der eine weitere Gesprächsfaden in Genf zerrissen. Da besteht die Gefahr, daß angesichts der Sorgen, die andere Völker heute haben, die deutsche Frage, das Schicksal unserer Landsleute in der Sowjetzone aus der Erörterung in der Welt verschwindet.
    Für uns in diesem Hause alles kein Anlaß, nachzudenken! Wir haben ja immer in allem recht gehabt! So tönt es von den Regierungsbänken.
    Niemand kann die Bundesregierung und niemand kann die Mehrheitspartei daran hindern, auf die geistigen und politischen Fähigkeiten, die nun einmal auch in der Opposition zu Hause sind, zu verzichten, meine Damen und Herren. Ob das aber für unser Volk ein Gewinn ist, das wird sich weisen.
    Sie sprechen wie wir von der dringend erforderlichen westlichen Solidarität. Meinen Sie denn, daß diese Solidarität die Belastungsproben der Zukunft ungefährdet überstehen kann, wenn Sie durch Ihr Verhalten versuchen, einen großen Teil unseres eigenen Volkes von ihr fernzuhalten?

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Das geht eben nicht, und deshalb kann es heute bei der Debatte doch nicht darum gehen, daß man in mehr oder minder gemessenen Worten die Kapitulation der Sozialdemokratischen Partei verlangt. Ich hätte bei manchem Sprecher vorhin beinahe den Eindruck gehabt: eigentlich müßten wir ja nun alle als reuige Sünder in die Christlich-Demokratische Union eintreten.

    (Heiterkeit.)

    Aber das haben Sie doch wahrscheinlich selber nicht erwartet.
    Das, was Sie hier dargetan haben, spricht zwar alles von viel Selbstbewußtsein. Einer Nachprüfung der Notwendigkeiten der Stunde wird es nicht gerecht.
    Ich habe vorhin gesagt, die heutige Debatte soll der Bestandsaufnahme dienen. Sie ist ja noch nicht die Bestandsaufnahme selbst. Sie ist der Auftakt. Mein Freund Herbert Wehner und auch ich haben dargelegt, wie notwendig es wäre, daß, Herr Minister Strauß, nicht nur die Sozialdemokratische Partei, sondern alle Gutwilligen den Weg der Vergangenheit sich noch einmal zu Gemüte führen und vor allem — das ist viel entscheidender — prüfen, was in der Zukunft, und zwar in erster Linie in der nächsten Runde internationaler Diplomatie zu geschehen hat.
    Eine gemeinsame Politik mindestens auf Teilgebieten kann doch erst das Ergebnis der Bestandsaufnahme sein, und die können Sie doch nicht als Voraussetzung fordern, bevor man zusammen daran gearbeitet hat. Da will ich Ihnen einmal schildern — mein Freund Wehner hat sich hier mit einem Zitat des ehemaligen amerikanischen Außenministers Byrnes begnügt —, wie die Amerikaner das machen. Da gibt es den Senatsausschuß für auswärtige Angelegenheiten. Dieser hat mit viel Geld — so viel haben wir leider nicht — und vielen anderen Hilfsmitteln eine ganze Serie von Studien in Auftrag gegeben. Wenn Sie nun sagen, das alles sei in den letzten zehn Jahren so eindeutig und klar gewesen, dann möchte ich doch eigentlich annehmen, daß das bei den Vereinigten Staaten mindestens genauso eindeutig und klar gewesen ist. Warum wohl vergibt man dort 15 Studienaufträge an die verschiedensten Forschungseinrichtungen, privaten Forschungsgruppen und Universitäten über die verschiedensten Aspekte der amerikanischen Außen-und Verteidigungspolitik, über die ideologischen Konflikte in der Welt, ihre Ursachen, ihre Auswirkungen in verschiedenen Ländern, über die ökonomischen Probleme, über die Auswirkungen der Auslandshilfe, über die technische Entwicklung sowohl auf dem militärischen als auch auf dem nicht militärischen Gebiet, die Auswirkungen dieser beiden Dinge auf die Außenpolitik, auf die Verteidigungspolitik, auf die Strategie? Offenbar hat das nur eine Weltmacht nötig, wir brauchen das alles nicht.
    Meine Damen und Herren, ich bin enttäuscht davon, daß Sie nicht mit ein wenig mehr gutem Willen versucht haben, heute schon die Bereitschaft — nicht zu einem ähnlichen Werk; da fehlt uns die Zeit, und es fehlen uns in der ganzen Bundesrepublik sogar einfach die Kräfte dazu, das durchzuführen — wenigstens mit dem Mindestmaß, das wir selber mit unseren Behörden, mit der Bundesregierung, dem Auswärtigen Amt und mit diesem Hause hier aufbringen können, zu zeigen, daß wir uns an das Studium der Probleme heranmachen, denen heute keine deutsche Außenpolitik mehr aus dem Wege gehen kann, weil sich deutsche Außenpolitik, so wichtig die Fragen der Verteidigungspolitik sind, so wichtig die Fragen der Wehrverfassung sind, so wichtig die Fragen der Aufrüstung und Bewaffnung der Bundeswehr sind, nicht allein auf die beiden Formeln „Wehrpflicht" und „Atomwaffen" reduzieren läßt, wo Sie alle außenpolitischen Entscheidungen unterbringen wollen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, bei einer solchen Bestandsaufnahme geht es doch auch gar nicht um „alles oder nichts". Wir wären merkwürdig gebaut — das gibt es doch in keinem Lande der Welt, selbst dort nicht, wo Opposition und Regierung in außenpolitischen Fragen einander stützen und tragen —, wenn wir in allen Fragen einer Meinung wären; das gibt es gar nicht. Da bleiben unter Umständen immer noch sehr wesentliche Aspekte draußen, in denen die Diskussion weitergeht, in denen man sich nicht zu gemeinsamen Beschlüssen und Handlungen hat durchringen können. Aber man



    Erler
    prüft wenigstens sorgsam: wie weit kann das Feld gesteckt werden, auf dem das Interesse des eigenen Volkes besser gewahrt werden kann, wenn es von allen demokratischen Kräften getragen wird und nicht nur von der Regierung und ihrer Mehrheitspartei.
    Sie versuchen, es auf den Punkt hinzubringen: „alles oder nichts." Das ist nie ein guter Rat in der Politik. Vielmehr müssen wir uns um ein Höchstmaß bemühen. Dann wird immer noch — seien wir ehrlich — manches draußen bleiben und auch heute nicht ohne weiteres in dem Höchstmaß unterzubringen sein.
    Da ist von der loyalen Erfüllung der für die Bundesrepublik geltenden Verträge gesprochen worden. Darüber herrscht kein Streit: Verträge kann man nicht dadurch austrocknen, ausdorren lassen, daß man dem Buchstaben nach so tut, als erfülle man sie. Deutsche Politik wird verhandlungsunfähig, wenn sich nicht jeder Partner, der einen Vertrag mit einer deutschen Regierung abgeschlossen hat, darauf verlassen kann, daß auch die nachfolgende deutsche Regierung den Vertrag nach Wortlaut und Sinn einzuhalten sich bemüht.

    (Beifall.)

    Darüber waren wir uns längst einig. Da braucht man gar keine großen Schwüre abzuhalten; man sollte endlich einmal zur Kenntnis nehmen, daß das so ist.
    Ein solcher Vertrag kann und darf nun nicht nur militärisch — wir wollen es gar nicht so einseitig sehen —, sondern er muß auch politisch genutzt werden. Herbert Wehner hat nicht nur von der NATO, sondern von dem ganzen System der Verträge, das die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen hat, gesagt, daß sie die Grundlage und der Rahmen auch für die Wiedervereinigungspolitik seien. Wie kann es heute anders sein? Es gibt doch heute keinen anderen Rahmen, in dem wir uns bewegen können, um unsere Bundesgenossen hier zu einer gemeinsamen Politik zu ermuntern. Das steht nun einmal so da, und es ist selbstverständlich, daß das auch so gehalten wird.
    Aber unabhängig davon, was nun die Bundesregierung in einem solchen Vertragsrahmen mit ihren Vertragspartnern an Gedanken zu entwickeln hat, um den Rahmen auch auszufüllen, um auch ein Höchstmaß an praktischen Fortschritten in den uns bedrängenden Fragen in Zusammenarbeit mit den Partnern zu erreichen — darüber kann man diskutieren und muß man vor allem mit den Partnern diskutieren —, gibt es sogar auf militärischem Gebiet über das, was nötig und was zweckmäßig ist, auch unter denen, die die Verträge seinerzeit geschaffen haben, in zahlreichen Ländern Meinungsverschiedenheiten, Nuancen. Warum soll es bei uns auf diesem Gebiet plötzlich keine mehr geben? Wir müssen nur die Bereitschaft haben, diese Probleme einmal mit der Fülle von Informationen sorgsam zu durchdenken, über die die Bundesregierung verfügt und die Opposition leider nur bruchstückweise. Früher wurde uns gelegentlich vom Außenminister gesagt, sogar der Auswärtige Ausschuß sei dazu zu
    groß. Jetzt heißt es plötzlich, das Plenum des Bundestages sei dafür zu klein, damit müsse man vor die ganze Nation treten. Über all diese Einzelheiten muß man in den dafür in diesem Hause geschaffenen Gremien sorgsam reden.
    Dabei möchte ich mich gegen die auch in dieser Debatte leider allzu stark zum Vorschein gekommene Überbetonung der militärtechnischen Erwägungen wenden. Der Historiker Percy Schramm, der
    sich jetzt durch die Herausgabe der Kriegstagebücher aus dem zweiten Weltkrieg ein Verdienst erworben hat, hat in einem Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 18. Juni 1960 über den Generalobersten Beck geschrieben:
    Beck hat, wie seine „Studien" beweisen, als erster erkannt, daß wir in ein Zeitalter eingetreten sind, in dem die staatsmännischen und politischen Kräfte in erster Linie über die Völkerschicksale entscheiden. Rüstung und Rüstungsgleichgewicht sind allerdings auch dann notwendig, aber nicht als militärischer Selbstzweck, sondern als Subsidien einer klugen, verantwortlichen und
    — auch das hat er noch gesagt —wendigen Politik.
    Einer Politik, die zehn Jahre lang auf dem gleichen Kurs läuft, kann man, glaube ich, nicht ohne weiteres das Prädikat „wendig" zusprechen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Nebenbei: ganz so unbeweglich waren Sie ja gar nicht. Aber die Rede des Freiherrn zu Guttenberg hat aus der Unbeweglichkeit ja beinahe noch einen Stolz gemacht.
    Hier taucht das Wort vom Gleichgewicht auf. Das sollen wir uns alle sorgsam zu Gemüte führen; daran darf nicht gerüttelt werden, und jeder weiß, daß das heute nicht für die Bundesrepublik allein gelten kann, sondern daß es sich hier um globale Zusammenhänge handelt und um eine Arbeitsteilung, wo also nicht jeder alles haben kann und bei vernünftiger Arbeitsteilung sogar nicht haben soll, wobei also über Organisation, Bewaffnung, Führung nach geographischen, militärtechnischen und strategischen Bedingungen jedes Landes gesprochen und entschieden werden muß, wie das ja die skandinavischen Staaten auch für sich in Anspruch nehmen. Das ist keine Frage der Gleichberechtigung. Denn wenn Sie es auf den Punkt zuspitzen, dann landen Sie dort, wo der Verteidigungsminister nach eigenem Ausspruch ausdrücklich nicht hin will: dann landen Sie bei der Wasserstoffbombe für die Bundesrepublik Deutschland, die er doch — aus guten Gründen, glaube ich — nicht haben will. Es gibt also Grenzen. Gut, wenn er einsieht, daß sie nicht aus dem Prinzip der Gleichberechtigung alle fallen müssen, daß es logische Grenzen gibt, dann kann man sich auch darüber unterhalten, wo diese Grenze für unser Volk und für die Bedürfnisse der westlichen Verteidigung am zweckmäßigsten und richtigsten zu ziehen ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Damit reduziert sich das auf eine Frage der militärischen und auch politischen Zweckmäßigkeit.



    Erler
    Meine Damen und Herren! Ich sprach vorhin davon, daß die Gefahr besteht, daß die deutsche Frage unter anderen Sorgen untergeht. Dabei stellt sich die Frage: was wird aus unseren Landsleuten drüben, wenn sich die Hoffnungslosigkeit ihrer bemächtigt? Wie soll Berlin auf die Dauer gesichert werden? Wie soll verhindert werden — ein Punkt, den Herbert Wehner heute erwähnte und der, glaube ich, des Nachdenkens wert wäre —, daß durch einseitige Aktionen der anderen sowohl der Status Deutschlands als auch der unserer bedrohten Hauptstadt Berlin so verändert wird, daß eben militärische Mittel allein nicht die Antwort sind?

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Lohnt es sich nicht, darüber einmal nachzudenken? Sehen Sie nicht, daß es auch andere Gefahren gibt, mit denen man sich hier auseinandersetzen muß? Diese Diskussion ist selbstverständlich, wenn wir unter uns gesprochen haben, nur in Gemeinschaft mit dem Westen möglich, und dazu müssen wir unseren Einfluß in der NATO ausüben.
    Dann ist hier die Vergangenheit heraufbeschworen worden und ein Satz, den ich — ,allerdings nicht so im Wortlaut, deswegen werde ich ihn Ihnen jetzt sinngemäß bekanntgeben vor einigen Tagen in Heilbronn gesprochen habe. Dort wurden wir gefragt, ob wir denn alle unsere Kritik, die wir in der Vergangenheit an dem Zustandekommen der Einschmelzung der Bundesrepublik in das westliche Militärbündnis und vorher schon der anderen Seite in den Sowjetblock geübt haben, nun aufzugeben hätten. Da will ich Ihnen hier etwas vorlesen, einfach als ein Beweis dafür, daß wir nicht weiterkommen, wenn wir an diese Dinge nur mit Selbstgerechtigkeit herangehen. Der Herr Bundeskanzler hat am 15. Dezember 1954 hier im Bundestag gesagt:
    Das Vertragswerk macht ,die Bundesrepublik erst fähig, die Spaltung Deutschlands zu beseitigen und ,die sich mit der Wiedervereinigung stellenden Aufgaben zu bewältigen.
    Und vorher, am 16. März 1952 — in einer interessanten Zeit, es war eine Woche nach der Note vom 10. März 1952 — hat der Herr Bundeskanzler in Siegen gesagt:
    Ich bin fest davon überzeugt — und auch die letzte Note Sowjetrußlands ist wieder ein Beweis dafür —, daß, wenn wir auf diesem Wege fortfahren, der Zeitpunkt nicht mehr allzu fern ist, zu dem Sowjetrußland sich zu ,einem vernünftigen Gespräch bereit erklärt.
    Das ist acht Jahre her. Für „nicht allzufern" sind acht Jahre, glaube ich, recht kühn angesetzt.
    Das sind zwei Zitate von vielen. Ich will hier gar nicht in Schadenfreude verfallen; nein, wir können hier nur dem tiefen Bedauern Ausdruck geben, daß die Hoffnungen, die Sie damals an den Abschluß der Verträge geknüpft haben, offensichtlich nicht in Erfüllung gegangen sind, daß also auch Sie, meine Damen und Herren, Anlaß haben, manches zu überdenken. Wessen Illusionen sind nun eigentlich damit zerstoben, daß die deutsche Frage jetzt offensichtlich nicht unter den Aspekten behandelt wer-
    den kann, unter denen Sie damals glaubten sie behandeln zu können?
    Sicher, für die Opposition gilt schließlich auch, daß sich die Machtverhältnisse seit den Jahren 1952 und 1955 ganz entscheidend gewandelt haben, daß manches, was sich damals als denkbarer Weg zur Lösung der deutschen Frage abzeichnete, heute nicht mehr gangbar ist. Es wäre vermessen, das nicht zugestehen zu wollen. Aber es wäre genauso vermessen, auf der Behauptung zu bestehen, daß nun nach diesen Verträgen sich herausgestellt habe, sie seien der sicherste Weg, um schnell und bald zu Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands kommen zu können.

    (Beifall bei der SPD.)

    Damit bin ich bei einem Punkt, der für das Verhältnis von Regierung und Opposition nicht ganz uninteressant ist. Hier wurde heute eine Fragestunde veranstaltet. Wir haben im Parlament aus gutem Grund die Fragestunde. Da wird die verantwortliche Regierung befragt über das, was sie tut oder auch nicht tut, über ihre Meinung. Die Fragestunde richtet sich eben nicht an den einzelnen Parlamentarier und fragt nicht nach seinen Meinungen, sondern das Parlament ist die Kontrollinstanz für die Tätigkeit der Regierung, die ja dafür auch die Verantwortung trägt, der die Verantwortung dafür übertragen worden ist. Sie hat zu erklären, was sie getan hat, warum sie eventuell etwas unterlassen hat, und was sie zu tun gedenkt.
    Natürlich hat der Wähler einen Anspruch darauf, bei Wahlen zu wissen, wie die Parteien sich eigentlich die politische Entwicklung vorstellen. Aber, meine Damen und Herren, die Wahlen sind im nächsten Jahr, und wir werden die Neugierde und den Anspruch der Wähler sehr gern befriedigen. Aber in diesem Jahr haben das Parlament und unser Volk ein Recht, zu erfahren, was die Regierung jetzt zu tun gedenkt, um die deutsche Frage und das festgefahrene Abrüstungsgespräch wieder in Gang bringen zu helfen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Darüber haben wir nichts gehört. Zum Abrüstungsgespräch hat der Bundesverteidigungsminister sich in Amerika auf die kurze Formel beschränkt, er sei dafür nicht zuständig.
    Meine Damen und Herren, ich hätte — wenn wir nun schon Fragen an Abgeordnete hier durchführen — vom Herrn Kollegen von Guttenberg gern einmal gewußt — nachdem er sich so intensiv mit dem Deutschlandplan der Sozialdemokraten, zu dem Herbert Wehner hier das Entscheidende gesagt hat, beschäftigt hat —, wie er sich sehr konkret und sehr im einzelnen praktisch den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands vorstellt.

    (Beifall bei der SPD)

    ohne als Voraussetzung den militärischen und politischen Zusammenbruch der Sowjetunion vorher anzunehmen; denn auf ,den können wir uns leider nicht einstellen.

    (Zustimmung bei der SPD.)




    Erler
    Da wir nun gerade bei der Wiedervereinigungspolitik sind, möchte ich hier nur einen Irrtum richtigstellen; eine Richtigstellung, an der mir sehr viel liegt und an der auch Ihnen liegen sollte. Die Sozialdemokraten haben zu keiner Stunde auf freie Wahlen in ganz Deutschland verzichtet. Sie haben sich immer — und das ist unsere wie Ihre Pflicht — Gedanken darüber gemacht — man kann sie kritisieren, man kann sie schelten, man kann sagen, die Gedanken waren falsch; aber es waren Gedanken aus einer bohrenden Sorge —: Wie kann man freie Wahlen auch in Mitteldeutschland herbeiführen? Das ist die Sorge, die uns bewegt hat.

    (Beifall bei der SPD.)

    Aus diesem sehr verständlichen Verhältnis zur Demokratie, zur Selbstregierung durch frei gewählte Organe schreibt sich auch her unser Verhältnis zu diesem Staat. Verehrter Kollege von Guttenberg, ich weiß nicht, ob Sie die Absicht hatten, zu verletzen. Aber mich hat es verletzt, daß Sie die Treue der Sozialdemokratischen Partei zu jener freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in Zweifel gezogen haben, das wir mit beschlossen haben und dem die CSU damals ihre Zustimmung großenteils nicht gegeben hat.

    (Lebhafter Beifall hei der SPD.)

    Wir bekennen uns zu diesem Staat. Wir bekämpfen nicht diesen Staat, sondern wir kämpfen darum, daß dieser Staat eine andere Regierung bekommt. Es ist unser Recht und unser oppositioneller Auftrag, für eine andere Regierung zu kämpfen. Das werden Sie uns nicht bestreiten können.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir wehren uns aber dagegen, daß sich aus der Art, wie mancher das Verhältnis der Sozialdemokratischen Partei zum Staat glaubt definieren zu können, praktisch doch die Vorstellung ergibt, er und seine Partei hielten sich für den Staat. Das ist ein entscheidender Irrtum, meine Damen und Herren, vor dem nicht genug gewarnt werden kann!

    (Beifall bei der SPD. Abg. Dr. Kliesing [Honnef] : Wer schwätzt denn von „Provisorium"?)

    — Nehmen wir das Wort vom Provisorium.

    (Abg. Freiherr zu Guttenberg: Wer redet denn vom „Bonner Staat"?)

    Hier handelt es sich darum, daß uns das von uns gemeinsam erarbeitete Grundgesetz den Auftrag gegeben hat, diesen Staat einmal in ein Gesamtdeutschland zu überführen, dessen endgültig vom gesamten deutschen Volk in freien Wahlen gebildete Nationalversammlung eine Verfassung zu beschließen hat, die die unsere dann in einem wiedervereinigten Deutschland in gesicherter Freiheit ablösen wird. So steht es in der Verfassung. Halten Sie es damit, oder halten Sie es nicht damit? Auch das ist eine Frage!

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Nur in diesem Sinne, nicht abwertend, sondern als den einzigen Teil Deutschlands, in dem Freiheit herrscht, als den Teil auch, in dem wir, solange die anderen nicht selbst für sich sprechen können, für alle Deutschen sprechen, haben wir die Bundesrepublik zu betrachten. Sie ist nur insofern — jawohl — ein Provisorium, als wir nach dem Auftrag unserer Verfassung diesen Staat in der Zukunft in das ganze Deutschland einzubringen haben. Sonst, wenn Sie die Bundesrepublik als endgültig für alle Zeiten bezeichnen, sperren Sie praktisch einen Teil unseres eigenen Volkes aus diesem Staat aus!

    (Beifall bei der SPD.)

    Dabei will ich Ihnen in einem Punkt gleich recht geben: Der künftige Verfassungsgesetzgeber — das ist der Sinn, das ist ,der Auftrag, .den wir durch die Erkämpfung freier Wahlen hoffen erlangen zu können — soll, von den lebendigen freiheitlich-demokratischen Kräften getragen, so aussehen, daß das wiedervereinigte Deutschland über eine freiheitlichdemokratische Grundordnung verfügt und — jawohl, so wie es ebenfalls in unserem Grundgesetz steht — ein sozialer Rechtsstaat ist. Dafür werden wir kämpfen. Dabei wird uns jeder willkommen sein, hoffentlich auch Ihnen, der sich in diesem Sinne für die Übertragung der wesentlichen Grundrechte und -freiheiten unserer Bundesrepublik Deutschland in das künftige gesamtdeutsche Gebäude einsetzt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Aber, meine Damen und Herren, wie das künftige gesamtdeutsche Haus im übrigen innen aussieht, wie ein freies Volk in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung sein Haus einrichtet, ist dann sache des ganzen deutschen Volkes, nicht nur der jetzigen Einwohner der Bundesrepublik. Denn sonst betrügen wir unsere Landsleute in Mitteldeutschland gerade um das, was wir für sie erkämpfen wollen, nämlich urn den Sinn der freien Wahlen, die ihnen doch ein Mitbestimmungsrecht mit uns zusammen über das ganze deutsche Haus einräumen sollen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Nun eine kleine Korrektur zu der Bemerkung, mein Freund Thomas habe die Einheit für wertvoller erklärt als die Freiheit. Er hat mir eine kleine Aufzeichnung geschickt. Bei der Tagung ist argumentiert worden, die nationale Einheit sei kein Gut an sich, und es blieb nach den Gedankengängen von Martini, die ja heute hier schon eine Rolle gespielt haben, nur die Freiheit übrig. Es wäre sicher ein unerhörter Fortschritt, wenn es gelänge, zunächst einmal die Freiheit der Mitteldeutschen herzustellen, Niemand könnte so vermessen sein, das von sich zu weisen mit der Begründung: Da haben wir nicht gleich auch die Einheit dabei. Aber das Ziel, das wir uns vorgenommen haben — und politisch gehört es doch wohl auch zusammen — ist die gesicherte Einheit in Freiheit. Wenn man die Einheit nicht mehr als ein Gut bezeichnet, das auch erstrebenswert wäre, hat man eine politische Entscheidung getroffen, die den Kampf um die Einheit des Vaterlandes schwächen müßte.





Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
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    Rede von Fritz Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Ja, gern!