Rede von
Ernst
Lemmer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Die Bundesregierung fühlt sich nicht nur berechtigt, sondern sie fühlt sich verpflichtet, sich dem Protest des Herrn Präsidenten, den er wohl im Namen des ganzen Hauses zum Ausdruck gebracht hat, anzuschließen. Sie fühlt sich berechtigt und verpflichtet, als die einzige legale deutsche Regierung, der das Wohl und Wehe jener Bevölkerung, die am Zusammenleben mit uns in Freiheit und Ordnung verhindert ist, am Herzen liegt, hier zu sprechen.
Wir würden uns einer großen Unterlassungssünde schuldig machen, wenn nicht nur dieses Haus durch den Mund des Herrn Präsidenten, sondern auch die Bundesregierung jenes usurpatorische Regime, das bis zur Stunde ohne Legitimation durch die von ihm unterdrückte Bevölkerung regiert, nicht anklagten, die Menschenrechte und auch den diesbezüglichen Artikel ihrer eigenen Verfassung, den sie sich geschaffen haben, verletzt zu haben.
Ich weise darauf hin, daß in der Verfassung der Sowjetzone vom 7. Oktober 1949 in Art. 24 Abs. 4 folgende Bestimmung steht:
Der private Großgrundbesitz, der mehr als hundert Hektar umfaßt, ist aufgelöst und wird ohne Entschädigung aufgeteilt. Nach Durchführung dieser Bodenreform wird den Bauern das Privateigentum an ihrem Boden gewährleistet.
Ich weise auf den Art. 17 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 hin, wo es heißt:
Niemand soll willkürlich seines Eigentums beraubt werden.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß diese beiden von mir erwähnten Bestimmungen der sowjetzonalen Verfassung und der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen in diesen Wochen und Tagen auf das schwerste verletzt werden.
Am 1. Januar dieses Jahres waren 49,7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des zonalen Gebiets bereits kollektiviert.. Wir haben die erste' große Bauernlegung in den Jahren 1952 53 erlebt, die erst durch den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 unterbrochen wurde. Seit dem Beginn dieses Jahres hat die zweite und, wie wir bekümmert feststellen müssen, die letzte Welle begonnen, um den letzten freien Bauern in dem Gebiet zwischen Lübeck, Hof und Eisenach auszulöschen.
Der Herr Präsident hat, nach meinen Informationen zutreffend, darauf hingewiesen, daß nach einwandfreien Ermittlungen bis gestern bereits über 90 Prozent der Landwirte der Zone in die Zwangskollektivierung eingebracht worden sind. Es fehlen nur noch einige Bezirke, deren Bauern vorwiegend in den Gebirgsdörfern des Thüringer Waldes und des Erzgebirges leben, wo die Zwangskollektivierung der Landwirte auf Widerstände stößt, die in der Natur der Landschaft begründet sind. Aber wir müssen befürchten, daß bis zum Zusammentreten der Gipfelkonferenz die Kollektivierung des Bauerntums in dem von der SED beherrschten Teil unseres Landes abgeschlossen sein wird, daß die SED als „Partei neuen Typus", wie sie sich selber zu nennen pflegt, diesen Bauernkrieg neuen Typus zu Ende gebracht haben wird.
Die Bundesregierung protestiert mit Ihnen aufs schärfste nicht nur gegen die Rechtsverletzung, auf die ich bereits hinweisen durfte, sondern nicht zuletzt auch gegen die Unmenschlichkeit, die in der Methode dieses Vorgangs liegt. Das Regime Ulbricht hat nicht den Mut — wozu es in der Lage wäre —, ohne jede Opposition durch ein Gesetz der von ihm zusammengesetzten Volkskammer die Kollektivierung des Bauerntums in seinem Machtbereich zu verfügen. Das würde Tausenden und aber Tausenden von Bauern die Gewissensnot ersparen. Denn wogegen sie sich wehren im Gedenken an ihre Väter und Vorväter, die vor ihnen den gleichen Hof besessen haben, das ist die Schande, durch den Akt scheinbarer Freiwilligkeit ihren Besitz preiszugeben.
Bei einer gesetzlichen Regelung wären das Leid und die Not nicht geringer. Aber die Gewissensnot — denn jedermann sei seiner Obrigkeit untertan, ob legitimiert im Sinne des freiheitlichen Rechtsstaats oder nicht — würde unzähligen Bauern erspart bleiben.
Ich will, weil es sich hier nur um eine kurze Stellungnahme der Bundesregierung handeln soll, Ihnen nicht im einzelnen die Zahlen über die Erweiterung der Fluchtbewegung nennen. Ich weise nur noch einmal vor der Öffentlichkeit der Welt darauf hin, daß, während das Bundesgebiet mit West-Berlin die Bevölkerungsgrenze von 55 Millionen nach den letzten Feststellungen des Statistischen Bundesamts überschritten hat, im Machtbereich der SED die Bevölkerung auf unter 17 Millionen abgesunken ist. Wir haben einen wachsenden Strom bäuerlicher Flüchtlinge zu verzeichnen, in absoluten Zahlen ausgedrückt scheinbar nicht allzu erheblich; aber nur deshalb — was ebenfalls vor der Welt festgestellt werden muß —, weil das Bauerntum der Zone durch polizeiliche Sicherungsmaßnahmen henne-
Bundesminister Lemmer
tisch von Berlin abgeschlossen ist, urn ihm den Fluchtweg zu erschweren. In allen Transportmitteln nach Berlin werden die Personalausweise kontrolliert, und bei der Berufsbezeichnung „Landwirt" oder „Bauer" wird der Betreffende festgenommen und, wenn er Glück hat, in sein Dorf zurückgeschickt. Die Dörfer, die Operationsziel dieser von uns zurückgewiesenen Maßnahmen sind, werden, nachdem man hat beobachten können, wie sehr Widerstand geleistet wurde, vorher von Kräften der Volkspolizei zerniert, weil man mit allen Mitteln verhindern will, daß die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte das ist der einzige gesellschaftliche Wert, den der bisher selbständige Bauer noch darstellt — etwa den Fluchtweg nach dem Westen antreten.
Meine Damen und Herren! Ich kann nach der dankenswerten Unterstützung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen darauf verzichten, in diesem Zusammenhang einzelne Bilder der tausendfachen Tragödie vorzutragen. Sie lesen darüber in den Zeitungen — über die Selbstmorde, die Verzweiflungstaten, die sich drüben ereignen, während wir den Vorzug haben, hier in Furchtlosigkeit und Freiheit beieinandersitzen zu können, darüber, daß sich Menschen aus Verzweiflung das Leben nehmen, weil sie jetzt von der Scholle ihrer Vorväter verjagt und einem leninistisch-sozialistischen Kollektiv — das nichts mit ,dem demokratischen zu tun hat — unterworfen werden.
Die Bundesregierung ist mit dem ganzen deutschen Volk bedrückt darüber, daß wir nicht helfen können und daß wir nicht einmal von dieser Stelle aus den erbitterten Menschen zurufen könnten, sich zur Wehr zu setzen, weil das die Tragödie nur steigern würde. Wir stehen mit grimmigem Zorn als Zeugen da, ohne eingreifen zu können. Aber die betroffene Bevölkerung soll wissen, wie es der Herr Präsident schon ausführte, daß ihr Leid als unser Leid empfunden wird. Ich darf wohl in Ihrer aller Namen — hier gibt es in diesem Hause keine Trennungslinie —die Erklärung abgeben, daß die Bundesregierung und die Bürgerschaft des freien Deutschlands niemals anerkennen werden, was an gesellschaftlichen Strukturänderungen zur Zeit im Machtbereich des Sowjetismus vollzogen wird. Das ist für uns null und nichtig, weil die Bevölkerung nicht befragt worden ist.
Über ,die gesellschaftliche Ordnung eines in einem freiheitlichen Rechtsstaat wiedervereinigten deutschen Volkes entscheidet eines Tages nur dieses Volk selbst, und alles, was präjudiziert worden ist, kann nur einen provisorischen Charakter tragen.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Landwirtschaftliche Sachverständige haben die Frage gestellt: wie ist das Regime Ulbricht auf den Gedanken gekommen, in einem Augenblick die Unruhe in die landwirtschaftliche Produktion eines minderversorgten Gebietes hineinzutragen, wo die Frühjahrsbestellung begonnen hat und der Bauer in Ruhe seine Aussaat muß vornehmen können, warum ist dieser Akt nicht nach der Ernte am Anfang des Winters vor sich gegangen? Da kann ich persönlich als der Ressortverwalter für gesamtdeutsche Fragen nur eine Vermutung aussprechen, nämlich die, daß die vierte Weltmacht, die in den nächsten Wochen über das Schicksal unseres Volkes und seiner Hauptstadt beraten will, entschlossen ist, vor Zusammentreten der Gipfelkonferenz vollendete Tatsachen zu schaffen, um den anderen Teil Deutschlands für sozialistisch-leninistisch perfektioniert erklären zu können.
Ich bin sicher, daß die Staatsmänner der uns befreundeten Mächte und ,die Öffentlichkeit der Welt wissen, daß das ein Betrug ist die Freiwilligkeit, die vorgetäuscht wird, ist erlogen — und daß die Perfektionierung dieser Art von Sozialisierung überdies nicht nur von uns, sondern auch von der betroffenen Bevölkerung abgelehnt wird.
ich habe die begründete Sorge, der ich von dieser Stelle aus Ausdruck geben darf, daß in aller Kürze auch die letzten selbständigen Existenzen des gewerblichen Mittelstandes dem gleichen Verfahren unterzogen werden.
Wenn das Regime Ulbricht glaubt, durch diese totale Veränderung der gesellschaftlichen Struktur im Widerspruch zur Tradition unseres Volkes und im Widerspruch zu einer möglichen organischen Entwicklung eine Barriere gegen die deutsche Wiedervereinigung zu errichten, um die Diskrepanz zwischen den beiden Deutschland so eklatant er- scheinen zu lassen, daß wir entmutigt werden müßten, die Sache der deutschen Wiedervereinigung noch zu verfolgen, so darf ich abschließend für die Bundesregierung und ganz gewiß auch in Ihrer aller Namen erklären, daß diese Barrieren hinweggefegt werden an dem Tage, an dem wir Deutschen endlich von dem Recht der Selbstbestimmung werden Gebrauch machen können.