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    Deutscher Bundestag 103. Sitzung Bonn, den 18. Februar 1960 Inhalt: Erklärung der Bundesregierung über die antisemitischen Vorfälle Dr. Schröder, Bundesminister . . . 5575 A, 5599 B, 5612 A Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . 5582 B Dr. Wilhelmi (CDU/CSU) . . . 5586 B Frau Dr. Dr. h. c. Lüders (FDP) . . 5588 B Schneider (Bremerhaven) (DP) . . 5590 B Dr. Dr. Heinemann (SPD) . . . 55% D Dr. Krone (CDU/CSU) . . . . . . 5598 D Dr. Kopf (CDU/CSU) . . . . . . 5598 D Dr. Friedensburg (CDU/CSU) . . . 5601 D Dr. Arndt (SPD) . . . . . . . 5604 C Gontrum (CDU/CSU) 5606 A Jahn (Marburg) (SPD) 5606 D Brück (CDU/CSU) 5615 D Dr Deist (SPD) . . . . . . . 5616 C Rasner (CDU/CSU) 5617 A Persönliche Erklärung des Abg. Dr. Menzel (SPD) 5617 D Nächste Sitzung 5617 D Anlage 5619 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 103. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Februar 1960 5575 103. Sitzung Bonn, den 18. Februar 1960 Stenographischer Bericht Beginn: 14.31 Uhr Präsident D. Dr. Gerstenmaier (mit Beifall begrüßt) : Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen. Die Sitzung ist eröffnet. Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe auf Punkt 1: Erklärung der Bundesregierung über die antisemitischen Vorfälle. Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern. Dr. Schröder, Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat gestern dem Hohen Hause und der Öffentlichkeit eine Ubersicht über die antisemitischen und nazistischen Vorfälle in der Bundesrepublik in der Zeit vom 25. Dezember bis 28. Januar vorgelegt. Ich setze bei den Ausführungen, die ich jetzt machen möchte, den Inhalt dieses Weißbuches als mehr oder weniger bekannt voraus. Das Hohe Haus wird wahrscheinlich über das Weißbuch hinaus wissen wollen, wie die Entwicklung zwischen dem 28. Januar und dem 15. Februar gewesen ist. Ich darf die Tatsachen kurz zusammenfassen: Seitdem sind 148 weitere Taten erfaßt worden, die allerdings größtenteils schon vor dem 28. Januar verübt worden sind. Auch darunter finden sich wieder 31 Kinderkritzeleien. Die im Weißbuch geschilderten Vorkommnisse waren über das ganze Bundesgebiet verteilt. Die Aufschlüsselung nach Ländern ließ keine besonderen Schlußfolgerungen zu. Die Häufung der Fälle in Berlin — es waren bis zum 28. Januar 123 von 685 und bis zum 15. Februar 160 von 833 — erklärt sich, wie ich meine, am ehestens wohl daraus, daß hier die Verbindungslinien zu sowjetzonalen Drahtziehern eine besondere Rolle spielen. Die Schichtung hinsichtlich des Alters der Täter — es sind jetzt 321 ermittelt — hält sich im Rahmen der bisherigen Erkenntnisse. Auch hinsichtlich der Gliederung der Täter nach Berufen und nach ihren Tatmotiven hat sich nichts bemerkenswert Neues ergeben. Die Bundesregierung behält sich vor, das Tatsachenbild zu ergänzen, sobald es sich einigermaßen abschließend übersehen läßt. Ein zusätzliches Schlaglicht auf die kommunistische Beteiligung an den Vorkommnissen wirft ein weiterer Vorgang, der im Weißbuch noch nicht verwertet ist. Ende Januar 1960 bemalten Täter, von denen zwei im vergangenen Jahre in einem FDJ-Lager in der Sowjetzone waren, in Tennenbronn bei St. Georgen (Schwarzwald) ein Gebäude mit einem Hakenkreuz. Bei der Hausdurchsuchung wurden Exemplare der Zeitung „Neues Deutschland" gefunden, deren Ausgabe vom 5. Januar 1960 eine Karikatur enthielt, auf der die Bundesregierung mit Hakenkreuzen abgebildet war. Dies vorausgeschickt, möchte ich nunmehr den Versuch machen, einige der durch die öffentliche Diskussion im In- und Ausland aufgeworfenen Fragen zu beantworten und einige Folgerungen aufzuzeichnen, die sich nach Meinung der Bundesregierung ergeben. Zunächst möchte ich noch einmal feststellen, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik auf die Hakenkreuzschmierereien sofort mit Abscheu und Empörung reagiert hat. Die Bevölkerung hat, wo es ihr möglich war, die Fahndung der Polizei bereitwillig unterstützt. Die Täter traf die ganze Verachtung ihrer Mitbürger. Nirgends gab es ein Wort der Entschuldigung, es gab vielmehr nur einhellige Ablehnung und die moralische Isolierung der Täter. In Kundgebungen, in Leserzuschriften an die Zeitungen, in Gesprächen und vielen einzelnen Handlungen kam dies zum Ausdruck. Die deutsche Offentlichkeit sieht in den Sudeleien nicht nur üble Ausschreitungen einzelner unbelehrbarer Fanatiker und zum weitaus größten Teil eine Gassenjungengesinnung, die etwa allein die Polizei und den Strafrichter angingen. Vielmehr empfindet sie die Schmierereien als einen bösen Verstoß gegen ihren durch Taten bewiesenen Willen zur Wiedergutmachung, zur Versöhnung und zur Toleranz. Das Aufsehen, das die Vorfälle in der Weltöffentlichkeit erregten, wurde von einer kommunistischen Propagandakampagne ausgenutzt, die die Bundesrepublik als faschistisch, militaristisch und revanchistisch zu diffamieren unternahm. Darüber ist im Weißbuch mehr gesagt. Nicht mit diesem Versuch einer Diskriminierung der Bundesrepublik will ich mich hier beschäftigen, sondern mit jenen teils aus Betroffenheit und Sorge, teils aus neuerwachtem Mißtrauen geborenen Erwägungen, ob die Mehrzahl der Vorfälle auf Grund eines politischen Nährbodens ermöglicht wurde, dessen Schichten tief in die NS-Vergangenheit hinabreichen. Den Blick auf die jugendliche Täter gerichtet, lauteten die Fragen: 5576 Deutscher Bundestag - 3. Wahlperiode — 103. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Februar 1960 Bundesminister Dr. Schröder Was wurde versäumt bei der Unterrichtung der deutschen Jugend über Schuld und Verhängnis des Dritten Reiches? Was weiß sie überhaupt von Hitler und was von den Juden? Was ist an Aufklärung bisher geschehen? Berechtigte Fragen, die nicht nur das Ausland stellt, die sich vielmehr auch im Inland alle Verantwortlichen vorlegten: Regierungen und Parteien, Schulen und Kirchen, Gewerkschaften und Verbände. Freilich, Rowdies -- und um sie handelt es sich vor allem bei den Tätern — werden auch durch Unterweisung über politisches und zeitgeschichtliches Geschehen nicht von Rüpeleien abgehalten. Darauf komme ich noch zu sprechen. Ihre Taten aber gaben den Anlaß zu den eben genannten Fragen, die mit aller Eindringlichkeit bei uns selbst und vom Ausland an uns gestellt worden sind. Lassen Sie mich zunächst darlegen, was an Aufklärung vom Bund geschehen ist, dem zwar keine unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten auf Schule und Erziehung gegeben sind, der aber mit der Bundeszentrale für Heimatdienst und dem Institut für Zeitgeschichte aller politischen Bildungsarbeit wertvollen Beistand leistet. Die Bundeszentrale für Heimatdienst hat sich seit ihrer Errichtung der Bekämpfung des Antisemitismus und der Aufklärung über die Judenverfolgungen intensiv angenommen. Grundlegend für ihre Arbeit waren die Ergebnisse zweier Tagungen mit Historikern und Soziologen, Theologen und Psychologen in den Jahren 1952 und 1953. Die Bundeszentrale 3) für Heimatdienst hat seither eine ganze Reihe von Arbeitsgemeinschaften, von Kursen und Seminaren an den Evangelischen Akademien, an den Katholischen Sozialinstituten und anderen Bildungszentren gefördert. Sie nahm sich der Themen Antisemitismus und Rechtsradikalismus auch in zahlreichen Publikationen an, sei es wissenschaftlichen, sei es mehr populären Charakters. Als Beispiele für Massenveröffentlichungen nenne ich: Sonderbeilagen — besonders in Kunden- und Sportzeitschriften — über die Geschichte des Judentums in einer Auflage von rd. 1 Million, Sonderseiten des „Kath. Lesebogens" und der „Neuen Bildpost" in Auflagen bis zu 1/2 Million, Lesezirkel-Veröffentlichungen zum Thema „Vorurteile" in Auflagen bis zu 300 000 Stück, Herstellung und Verbreitung der Broschüre der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema „Reichskristallnacht" in einer Auflage von 50 000 Stück. Von den durch die Bundeszentrale für Heimatdienst finanzierten Büchern — es ist eine stattliche Reihe — weise ich vor allem auf Reitlingers „Die Endlösung" und Eva Reichmanns „Flucht in den Haß" hin. Man kann wohl sagen, daß eigentlich alle auf diesem Gebiet beachtlichen Bücher überhaupt erst durch die Unterstützung des Bundes herausgebracht werden konnten. In den Beilagen der Wochenzeitschrift „Das Parlament", das in einer Auflage von 80 000 Exemplaren erscheint und den Schulen aller Art zugestellt wird, wurden Dokumente zur Judenpolitik des Dritten Reiches, Augenzeugenberichte aus den Konzentrationslagern und instruktive Darstellungen veröffentlicht. In der „Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst" kamen diese Beiträge zusätzlich, und zwar in sehr hohen Auflagen heraus. Selbstverständlich wurde auch der Film in den Dienst der Aufklärungsarbeit gestellt. Die Dokumentarfilme „Nacht und Nebel" und „KZ-Schergen" — letzterer ein Bericht über den Sorge-Schubert-Prozeß — wurden in je über 100 Kopien verbreitet. Von den Spielfilmen, die für die kostenlose nichtgewerbliche Verbreitung zur Verfügung stehen, sei „In jenen Tagen" erwähnt, ein Spielfilm, der eine längere Episode enthält, die darstellt, wie ein älteres Ehepaar — die Frau Jüdin — im Dritten Reich durch Kristallnacht, Geschäftsboykott usw. zum Selbstmord getrieben wird. Der Dokumentarfilm „Land und Volk Israel" wirkt dem vom Antisemitismus propagierten Zerrbild entgegen. Auch der in einer Auflage von 65 000 Exemplaren an die Schulen versandte Wandkalender und das Große Weihnachtspreisausschreiben für die Schulen, an dem mehr als 40 000 Klassen jährlich teilnehmen, standen im Dienst der Aufklärungsarbeit. Den Schulen galt die besondere Aufmerksamkeit der Bundes- und der Landeszentralen für Heimatdienst. Um nur ein Beispiel zu geben: den Geschichtslehrern sämtlicher höherer Schulen wurde vor einigen Monaten die Biographie „Hitler" des Oxforder Historikers Alan Bullock zugestellt. Meine Damen und Herren! Ich darf an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang auch auf die Tätigkeit des von Bund und Ländern der Bundesrepublik getragenen Instituts für Zeitgeschichte in München hinweisen, das sich in den zehn Jahren seines Bestehens zur wissenschaftlichen Zentralstelle der Erforschung des Nationalsozialismus entwickelt hat. Im Rahmen dieser Gesamtaufgabe dient seine Arbeit auch der Aufklärung über den modernen Antisemitismus. Sie vollzieht sich in der wissenschaftlichen Erforschung und Darstellung der nationalsozialistischen Judenpolitik, ihrer geistigen Voraussetzungen, ihrer Methoden und Auswirkungen. Als bisheriges Ergebnis hat das Institut rund 25 Einzelstudien vor allem über die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen im Reichsgebiet und in den besetzten Ländern vorlegen können. Seine Forschungen und Publikationen enthalten u. a. eine grundlegende Untersuchung der Vorgänge des als Reichskristallnacht bekannten Progroms vom 9. November 1938, dokumentarische Berichte zu den Massenvergasungen im Osten, darunter die in letzter Zeit publizierten handschriftlichen Aufzeichnungen des Kommandanten Höss über die Geschehnisse in Auschwitz. In Vorbereitung sind weitere Veröffentlichungen, teils wissenschaftlichen, teils mehr populären Charakters, über die Verfolgung der Juden, das Schicksal der jüdischen Gemeinden in Deutschland und die Organisation der Deportationen. Eine bereits erschienene vorläufige Abhandlung über die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus wird zur Zeit durch Erarbeitung möglichst exakter Zahlen wissenschaftlich präzisiert. Mit seiner notwendigen Grundlagenforschung dient das Institut für Zeitgeschichte über den Be- Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 103. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Februar 1960 5577 Bundesminister Dr. Schröder reich der Wissenschaft hinaus mittelbar und unmittelbar der politischen Erziehungs- und Bildungsarbeit. In ständiger Zusammenarbeit mit den hierfür zuständigen Institutionen, wie etwa der Bundeszentrale und den Landeszentralen für Heimatdienst, werden die dafür geeigneten Veröffentlichungen breiten Kreisen zugänglich gemacht. Durch Auskünfte, Prüfung von Manuskripten, Förderung von Ausstellungen, Bereitstellung von Anschauungsmaterial, Beratung von Schulbuchverlagen und Schulfunksendungen liefert das Institut den Trägern der staatsbürgerlichen Schulerziehung und Erwachsenenbildung die nötigen sachlichen Unterlagen. Mit Vorträgen bei zeitgeschichtlichen Kursen von Landeszentralen, Volkshochschulen, Dozentenseminaren, evangelischen und katholischen Akademien usw. sowie durch eigene Tagungen beteiligen sich die Mitarbeiter des Instituts in steigendem Maße auch unmittelbar an der Aufklärung über die nationalsozialistische Zeit. Im Dienste der praktischen Auswertung seiner Arbeit steht vor allem auch die ausgedehnte Gutachtertätigkeit. Im Rahmen einschlägiger Rechts- und Entschädigungsfälle hat das Institut für Zeitgeschichte in den letzten Jahren rund 1000 Auskünfte und Gutachten allein zu Fragen der Judenverfolgung für Behörden und Gerichte erstattet, von denen die wichtigsten veröffentlicht worden sind. Meine Damen und Herren! Nach diesem Arbeitsbericht, der sehr viel heißes Bemühen erkennen läßt, erhebt sich die Frage nach dem Erfolg der Aufklärungarbeit. Es geht nicht an, ihn dadurch in Frage zu stellen, daß man etwa auf die Antworten verweist, die zehn- bis zwanzigjährige den Fernsehreportern und Meinungsforschern gegeben haben. Von Hitler, so heißt es, wußten sie angeblich nichts weiter, als daß er die Autobahnen gebaut und die Arbeitslosigkeit beseitigt habe; von der Weimarer Republik kannten sie nur die Zahl ihrer Jahre, und auf die Fragen „Wie wählen wir heute?", „Wer macht die Gesetze?" begann stockend und unsicher ein tastendes Raten. Kein Zweifel: Ein betrübliches Ergebnis! Aber ich glaube, es ist falsch, daraus nun ganz allgemein die von vielen Seiten geleistete Aufklärungsarbeit als vergeblich zu bezeichnen und alle Schulen schwerer Versäumnisse zu beschuldigen, vielleich gar der absichtlichen, feindseligen Vernachlässigung des zeitgeschichtlichen Unterrichts. Das wäre — um es ganz klar auszusprechen — unzutreffend und ungerecht. Denn wer dürfte sagen, er habe einen „repräsentativen Durchschnitt" unserer Jugendlichen befragt! Diejenigen, die Schulen und Lehrer pauschal beschuldigen, verlassen sich auf ihre Stichproben, sie verlassen sich auch weitgehend auf die Aussagen der von ihnen Examinierten: „Das haben wir noch nicht gehabt. Soweit sind wir im Unterricht noch nicht gekommen. Die Ereignisse der früheren Jahrhunderte kennen wir weit besser." Wie aber sieht es mit den Kenntnissen über die früheren Jahrhunderte aus? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte am 9. Mai 1959 Erfahrungen, die darüber bei Volks- und Oberschülern sowie bei Abiturienten von sachkundiger Seite gemacht worden sind. Das von der Zeitung veröffentlichte Material beansprucht nicht eine unanfechtbare Repräsentanz, aber es erscheint mir wertvoll durch die überregionale Streuung und die einheitliche Auswertung. Die für uns interessanten Ergebnisse aus diesem Material sagen folgendes: Verhältnismäßig gut werden von den Schülern aller Gattungen Fragen messenden und technischen Inhalts beantwortet. Wesentlich schwächer schneidet das geographische Wissen ab. Ganz auffallend aber wird der Einbruch in den Wissensbestand bei Fragen historischen Inhalts, und zwar — wenn auch graduell verschieden — bei allen Alters- und Schulstufen. Man denke nicht, so heißt es an der angeführten Stelle, daß etwa Caesar für jeden Abiturienten ein selbstverständlicher Begriff sei. Ganze Prüfgruppen anderer Schulabgänge bezeichneten Luther als Evangelisten, Kant als Dichter. Schüler mit „mittlerer Reife" lassen den Apostel Paulus im 3. Jahrhundert und Friedrich den Großen um 1300 leben und bezeichnen Napoleon als römischen Kaiser. Dieses Material läßt nicht den Schluß zu, daß sowohl über die früheren Epochen wie über die zeitgenössische Geschichte in den Schulen nichts gelehrt werde. Die Wissenslücken unserer Jugendlichen erlauben zunächst einmal nur den Schluß, daß heutzutage, was ja bekannt war, technische Dinge größeres Interesse finden als die Historie, die Geistesgeschichte und die Gegenwartskunde. Diese Verarmung der Interessen ist aber offenbar nicht auf Deutschland beschränkt. Auch die Engländer — um nur diese zu nennen — haben ihren Kummer mit dem Unterricht in Zeitgeschichte, wie der „Manchester Guardian" erkennen läßt. Ich zitiere ihn, um die Situation auch in anderen Ländern zu beleuchten, und nicht, um mit einem Hinweis auf die englische Schuljugend die deutsche zu entschuldigen. Das genannte Blatt schrieb vor einigen Wochen: Wo die Deutschen ihre „Mauer des Schweigens" haben sollen, scheinen wir unseren „Wall der Unwissenheit" zu haben... Die meisten Jungen und Mädchen, die von unseren Schulen abgehen, wissen am wenigsten über die Zeit der Geschichte, die wahrscheinlich für sie am wichtigsten ist. Es ist nicht überraschend, wenn Schüler in der Oberklasse nichts über die Schlacht um Großbritannien während des letzten Krieges wissen, außer, daß es irgendeine Art Jahrestag ist, der gefeiert wird ... Belsen und Buchenwald bedeutet ihnen nicht mehr als jedem deutschen Durchschnittskind, obgleich dieses Wissen für beide gleich wichtig ist, wenn auch vielleicht in anderer Hinsicht. Ich möchte hinzufügen, daß dieses Wissen für unsere Jugend nicht nur „wichtig", sondern eine moralische Verpflichtung und eine politische Notwendigkeit ist. Und viele unserer Jugendlichen haben das auch erkannt. Es gibt, wie uns berichtet wird, Lehrer, die sich ihrer Aufgabe geradezu mit „Leidenschaft" widmen. Über dem abwertenden 5578 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 103. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Februar 1960 Bundesminister Dr. Schröder Urteil, das heute allzuoft Jugend und Lehrer trifft, wird auch vergessen, daß die weit überwiegende Zahl der jungen Wähler bei allen Bundes- und Landtagswahlen den extremen Parolen ihr Ohr verschlossen haben, (Beifall in der Mitte) daß unsere Jugendlichen dem Schicksal der Anne Frank ihr Herz öffneten, wie die hohen Auflagen des Buches und die Besucherzahlen des Theaterstückes beweisen, und daß es darüber hinaus viele andere sehr erfreuliche Zeichen der Aufgeschlossenheit gibt. Daran hat die Schule, daran hat die Aufklärungsarbeit unserer Einrichtungen doch gewiß auch ihren Anteil! Diese Bemerkungen, meine Damen und Herren, erschienen mir notwendig, um zunächst das allgemeinene Bild zu korrigieren. Dabei will ich gar nicht leugnen, daß die Frage nach dem Geschichtsunterricht und nach der politischen Bildung, sei es als Unterrichtsfach, sei es als Unterrichtsprinzip, in der Tat eine empfindliche Stelle trifft. Aber die vielschichtigen Schwierigkeiten, mit denen es dieser Unterricht zu tun hat, scheinen weithin unbekannt zu sein. Die Zeit wird hier heute nicht reichen, die gesamte Problematik darzulegen. Ich will mich auf eine stichwortartige Aufzählung einiger Schwierigkeiten beschränken. Diese sind: 1. das Fehlen eines allgemeingültigen deutschen Geschichtsbildes. Es liegt kein gesicherter Maßstab vor, an den der Lehrer sich halten kann. Daher wird die eigene Unsicherheit des Lehrers vielfach spürbar werden. 2. Es fehlt ein allgemeinverbindliches pädagogisches Leitbild. Das macht die größte Unsicherheit des heutigen deutschen Schulwesens aus und wirkt erschwerend auch im geschichtlichen und politischen Unterricht. Angesichts der scheinbaren Überlegenheit des Ostens, der der Vielfalt des Westens mit einer einzigen, angeblich wissenschaftlich bewiesenen Daseins- und Lebensordnung, seiner „Ideologie", entgegentritt, meldet sich bei manchem Pädagogen die bange Frage: Wofür erzieht der Westen? Haben wir keine sogenannte Gegenideologie? — Man muß hier den Erziehern klarmachen, daß der seit dem 15. Jahrhundert sichtbar gewordene Differenzierungsprozeß nicht nur eine Schwäche bedeutet, sondern auch Fülle und Reichtum. 3. Von den Lehrern wird für die ihnen gestellte politische Aufgabe sehr viel verlangt. Die kritische Auseinandersetzung mit Hitler, mit Schuld und Verhängnis des „Dritten Reiches" ist noch nicht so weit aufgearbeitet, daß der Stoff in der Schulstunde stets in der gewünschten Klarheit vermittelt werden könnte — ich erwähne als einziges Ereignis nur den Reichstagsbrand —, obwohl die Forschung wenigstens in großen Zügen sich um eine wissenschaftliche Klärung der politischen und geschichtlichen Zusammenhänge bemüht hat. Das Fach „Politische Bildung", auch Bürgerkunde, Gemeinschaftskunde, Sozialkunde genannt, hat im übrigen noch mit drei weiteren erschwerenden Umständen zu rechnen. Von diesen ist der erste folgender. Die politische Bildung in der Bundesrepublik kann nicht im luftleeren Raum erfolgen. Sie muß von dem bestehenden deutschen Staat ausgehen. Die deutsche Demokratie hat mit der ungewöhnlichen Schwierigkeit zu tun, daß sie zweimal in der Stunde eines deutschen Zusammenbruchs ins Leben tritt, während in den angelsächsischen Ländern, vor allem in Amerika, die Höhepunkte der nationalen Geschichte zugleich die Höhepunkte des demokratischen Lebens sind. Im Weimarer Staat hat die deutsche Demokratie trotz aller Bemühungen einzelner hervorragender Männer und Frauen leider kein überzeugendes Gesicht gewinnen können. (Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Na, na! Das kann man doch nicht sagen!) Warum die Ansatzpunkte demokratischer Entwicklung in der deutschen Geschichte gescheitert sind, ist bisher von der Geschichtswissenschaft zuwenig erörtert worden. — Frau Kollegin Weber, Sie haben Ihren offenen Widerspruch angemeldet. Das gibt mir Gelegenheit, zu sagen, daß ich Ihrer gedacht hatte, als ich von den Bemühungen einzelner hervorragender Männer und Frauen sprach. (Beifall bei der CDU/CSU.) Der zweite Umstand ist der, daß der Umfang einer politischen Bildung — wie der Bildung in jedem anderen Fach — abhängig vom Alter des Kindes ist. Entsprechend seinem Alter muß von der lebendigen Vermittlung des Anschaulichen ausgegangen werden; erst bei höherer Altersstufe kann zu der abstrakten Kenntnis von Verwaltung und Regierung fortgeschritten werden. Solange die Volksschule noch eine achtjährige Schule bleibt, wird in ihr politische Bildung nur in den Abschlußklassen und im übrigen nur im Ansatz vermittelt werden können. Der dritte Umstand ist der, daß Erziehung zur Demokratie Erziehung zur menschenwürdigsten, aber auch schwierigsten Staatsform ist. Sie ist Erziehung zu Freiheit und Toleranz, Wahrheit und Gerechtigkeit. Aber den Begriff der Freiheit, selbst den Begriff der staatsbürgerlichen Freiheit, im Schulunterricht zu verlebendigen, ist leider mehr als schwierig. — Das sind nur einige der Schwierigkeiten; von zwei anderen Erschwernissen werde ich gleich noch sprechen. Diese Schwierigkeiten sollten uns davor warnen, an die Schule Forderungen zu stellen, die sie nicht erfüllen kann. Selbstverständlich ist zu wünschen, das Zeitgeschichte und politische Bildung sehr intensiv gelehrt und vor allem gelernt werden, damit Unwahrheiten und die noch verhängnisvolleren Halbwahrheiten im Geschichtsbild der Jugend bald getilgt sind. Aber vergessen wir nicht, daß politische Kenntnisse noch keine politische Einsicht verbürgen. Geschichtsunterricht und Gegenwartskunde werden nur die Voraussetzungen zur politischen Urteilsbildung schaffen können. Um den jungen Menschen gegen die Verführung zur Intoleranz, zur politischen Maßlosigkeit und Unmenschlichkeit des nazistischen und kommunistischen Totalitarismus zu schützen, bedarf es vor allem auch der Prägekraft der moralischen und religiösen Erziehung. Sie kann nicht allein von der Schule ausgehen. Sie kann es Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 103. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Februar 1960 5579 Bundesminister Dr. Schröder schon deshalb nicht, weil Jugend ja nicht nur aus Schülern besteht, sondern auch aus Lehrlingen in Fabriken, bei Handwerksmeistern und in Büros. Mit Recht heißt es deshalb in der jüngsten Erklärung des Deutschen Ausschusses für Erziehungs- und Bildungswesen, die ich Ihnen allen zum Nachlesen empfehlen darf: Die Lehrerschaft wird nicht gelten lassen, daß man ihr eine Verantwortung zuschiebt, die sie in Wahrheit mit der Schulverwaltung, den Sprechern der öffentlichen Meinung, den Kirchen, vor allem aber mit den Eltern und den Politikern teilt. Selbstverständlich ist dieses Wort keineswegs eine Entschuldigung für diejenigen Schulen und für diejenigen Lehrer, die in der Tat ihre Aufgabe vernachlässigt haben. Die soeben zitierte Erklärung nennt als mögliche Gründe: Bequemlichkeit, Mangel an Mut oder Einsicht, heimliche Sympathie mit dem Nationalsozialismus, fragwürdige „Objektivität". Die Kultusminister der Länder, die seit vielen Jahren die Schulen aller Art auf die Dringlichkeit politischer Bildung hingewiesen haben, werden zweifellos überall dort, wo ein Versagen auf Sabotage beruht, unnachsichtig eingreifen. In der erwähnten Erklärung des Deutschen Ausschusses heißt es ferner: Viele Lehrer stehen unter dem Druck von Eltern, die es nicht wünschen, daß ihre Kinder die Wahrheit über den Nationalsozialismus erfahren. Dieses Problem ist eines der allerschwierigsten, und in diesem Zusammenhang erscheinen mir zwei Dinge wichtig: Die Abwehr manchen Elternhauses gegen die vermeintliche Aufforderung der Schule an die Kinder, mit ihren Vätern unerbittlich ins Gericht zu gehen; das Vergessen-Wollen und das Verdrängen-Wollen der älteren Generation, die übrigens nicht nur das Kapitel „Drittes Reich" in ihrer Erinnerung löschte, sondern die Historie überhaupt. Friedrich Sieburg hat das in epigrammatischer Schärfe einmal so formuliert: „Da alles Vergangene befleckt erschien, entschloß sich der Deutsche, keine Vergangenheit zu haben." (Zurufe von der SPD.) Die Abwehr manchen Elternhauses führt dazu, daß — wie ein Geschichtslehrer gesagt hat — die Ergebnisse des Unterrichts in Zeitgeschichte zu Hause wieder demontiert werden. Heute zeigt sich, wie durch ein Ereignis die Erinerung an das Vergangene wach wird. Dieser Augenblick sollte genutzt werden. Von dem Tübinger Historiker Hans R o t h f e 1 s stammt das Wort, daß „Vergessen-Wollen und Verdrängen-Wollen ... noch nie ein Weg zur Gesundung gewesen" sei. „Wir können", so sagt er, „aus der Zeitgeschichte nicht desertieren, wenn wir uns selbst verstehen und einen Standort gegenüber dem Kommenden gewinnen wollen." Dazu müssen wir die Geschichte aufarbeiten mit, wie er sagt, „disziplinierter Wahrheitssuche", aber nicht mit „Neutralität in Fragen, die. uns wesenhaft betreffen und in menschliche Entscheidungen hineinführen". Eine Geschichtswissenschaft, ganz dem Geiste der Wahrhaftigkeit verpflichtet, kann beitragen zur Wiederherstellung eines ausgewogenen nationalen Selbstbewußtseins durch die unbestechliche, aber maßvoll behutsame Klärung des geschichtlichen Selbstverständnisses der Deutschen. Die jüdische Emigrantin Hannah Arendt, in gleicher Weise ausgezeichnet durch ihre geistige Leistung und durch ihr schweres persönliches Erleben, sprach Ende des vergangenen Jahres bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Stadt Hamburg u. a. auch von der in Deutschland verbreiteten Neigung, so zu tun, als habe es die Jahre von 1933 bis 1945 gar nicht gegeben; sie meinte: Hinter all dem steckt vermutlich viel weniger böser Wille, als man im Ausland glaubt, und sehr viel mehr echte Ratlosigkeit. Aber gerade diese Ratlosigkeit könnte ein direktes Erbe aus der inneren Emigration sein, wie sie zweifellos zu einem guten Teil noch direkter eine Folge der Hitlerherrschaft ist, nämlich der — meine Damen und Herren, und nun kommt eine nach meiner Ansicht sehr tiefe Einsicht — organisierten Schuld, in welche die Nazis alle Bewohner des deutschen Territoriums zu verstricken verstanden, die inneren Emigranten nicht weniger als die Mitläufer und Parteimitglieder. Hier hat natürlich auch die dem Außenstehenden so auffällige tiefe Ungeschicklichkeit ihren Grund, sich in einem Gespräch über die Fragen der Vergangenheit überhaupt zu bewegen. Wie schwer es sein muß, hier einen Weg zu finden, scheint mir am deutlichsten sich darin zu äußern, daß man glaubt, das Vergangene sei noch unbewältigt und man müsse darangehen, es zu „bewältigen". Dies kann man wahrscheinlich überhaupt mit keiner Vergangenheit, sicher aber nicht mit dieser. Das Höchste, was man erreichen kann, ist, zu wissen und auszuhalten, daß es so und nicht anders gewesen ist, und dann sehen, was sich daraus ergibt ... Ich glaube, meine Damen und Herren, daß dies Gedanken sind, die das Nachdenken in der Tat verlohnen. Den Weg in dieser Situation zu weisen, meine Damen und Herren, ist schwer. Niemand wird es wagen, unbekümmert und leichthin in diese oder jene Richtung zu weisen und die Gangart zu bestimmen. Wir denken deshalb daran, uns in manchen Einzelfragen des Rates einer Kommission zu bedienen, die sich aus Pädagogen und Theologen, Philosophen, Historikern und Vertretern der politischen Wissenschaft zusammensetzt. Die Bundesregierung hat die Absicht, sobald die noch laufenden Vorarbeiten abgeschlossen sind, eine solche Kommission zu berufen. Es ist beabsichtigt, einige wenige hervorragende Männer für diese Aufgabe zu gewinnen. Wir versprechen uns von ihrem Rat Hinweise darauf, auf welche Schwerpunkte die politische Bildung angesichts unserer jüngsten Vergangenheit am besten konzentriert wird und welche Methoden sich dafür besonders 5580 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 103. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Februar 1960 Bundesminister Dr. Schröder anbieten. In diesen Zusammenhang gehören auf jeden Fall zwei Themen: Die richtige Vermittlung des Wissens über die Judenverfolgungen und über den totalitären Mißbrauch der Gewalt im Dritten Reich. Angesichts der engen Grenzen, die offenbar der Vermittlung zeitgeschichtlichen Wissens und zeitgeschichtlicher Erfahrung gesetzt sind, bedarf es hier des kundigen Blicks für das Wesentliche und die beste Methode der Einprägung. Der Schwerpunkt dessen, was zu tun ist, liegt am stärksten auf dem Gebiet staatsbürgerlicher Erziehung und politischer Bildung. Diese Aufgaben fallen sicherlich zu einem großen Teil der Schule, vielleicht aber zu einem noch wichtigeren den Eltern zu. Sie können erfolgreich nur erfüllt werden, wenn sich alle Instrumente, die der Ausdruck öffentlicher Meinung sind und die gleichzeitig zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen, daran beteiligen. Selbstverständlich trifft eine besondere Verantwortung auch die Politiker. Sie werden nun, meine Damen und Herren, vielleicht die Frage stellen: Was geschieht auf dem sogenannten repressiven Gebiet? In diesem Zusammenhang verweise ich zunächst auf die prompte Arbeit der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden. Zwar ist, wie wir wissen, in einigen Fällen Kritik an zu langsamer Aburteilung der Täter geübt worden, aus der Auffassung heraus, daß schnelle Urteile am wirksamsten seien. Man wird jedoch, wie mir scheint, einräumen müssen, daß es Fälle und Zusammenhänge gibt, die teils aus prozessualen, teils aus anderen Gründen einer umfassenderen Aufklärung bedürfen und deshalb auch zeitaufwendiger sind. Insgesamt muß die Beurteilung nach meiner Meinung aber dahin lauten, daß die Taten einer schnellen angemessenen Sühne zugeführt worden sind, unter Vermeidung von Übertreibungen im Strafmaß, die möglicherweise ganz unerwünschte Gegenwirkungen hervorrufen könnten. Die Wirkung der Urteile wird dann am günstigsten sein, wenn die Allgemeinheit — und das wird man hier sagen dürfen — den Eindruck angemessener Sühne hat. Die Bundesregierung hat bereits an anderer Stelle hervorgehoben, daß die Zusammenarbeit zwischen Bundes- und Länderbehörden bei der Behandlung dieser Vorkommnisse gut war. Die Bundesregierung hat die Überzeugung, daß auch die noch nicht abgeschlossenen Fälle in derselben Weise erledigt werden und daß die Ergreifung der noch nicht ermittelten Täter mit allem Nachdruck betrieben wird. Das Hohe Haus ist sich gewiß darüber klar, daß die Hauptlast der polizeilichen Ermittlungen und der Strafverfahren bei den Ländern liegt. Wir haben keinen Zweifel daran, daß dort die Dinge ebenso beurteilt werden wie hier. Natürlich taucht in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob es noch Vereinigungen oder gar Parteien gibt, die verboten werden müßten. Ich darf hier die beiden Hauptgrundsätze, die sich in unserer Verfassung finden, ins Gedächtnis zurückrufen. Wir müssen zwischen dem Verbot von Vereinigungen und dem Verbot von Parteien unterscheiden. Nach Art. 9 des Grundgesetzes sind Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, verboten. Wohlgemerkt, meine Damen und Herren, solche Vereinigungen sind verboten. Sie können also kurzerhand polizeilich aufgelöst werden, wenn die angegebenen Voraussetzungen zutreffen. Das gehört zu der Zuständigkeit der Länder. Davon ist, wie Sie wissen, in einigen Ländern bereits Gebrauch gemacht worden. Die Fragen des Parteiverbots nach Art. 21 des Grundgesetzes liegen bekanntlich etwas schwieriger. Ich darf die einschlägigen Bestimmungen hier zitieren: Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Die Parteien genießen also das Privileg, so lange agieren zu können, bis das Bundesverfassungsgericht ihre Verfassungswidrigkeit festgestellt hat. Wie Sie wissen, ist das bisher in zwei Fällen geschehen, nämlich in dem Urteil gegen die Sozialistische Reichspartei 1952 und im Urteil gegen die Kommunistische Partei 1956. Beide Anträge sind übrigens im Jahr 1951 beinahe gleichzeitig gestellt worden. Das Hohe Haus kennt darüber hinaus den Standpunkt der Bundesregierung, daß die Frage eines Verbotsprozesses nicht nach opportunistischen Gesichtspunkten beurteilt werden darf, sondern daß die Bundesregierung sich für verpflichtet hält, einen Verbotsantrag dann zu stellen, wenn die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 gegeben sind. Wir halten es nicht für zulässig — und ich habe guten Anlaß, meine Damen und Herren, das erneut mit Nachdruck hervorzuheben —, zwischen der Auflösung von Vereinigungen und dem Verbot von Parteien opportunistische Unterschiede zu machen. Damit würde dem Gedanken des Rechtsstaats schwerer Schaden zugefügt. Man mag unter anderen Rechtssystemen und in anderen Verfassungsbereichen darüber streiten können, ob die genannten Bestimmungen unseres Grundgesetzes zweckmäßig sind. Wir halten uns jedenfalls auf dem Boden des Grundgesetzes nicht für befugt, in diesen beiden Fällen Zweckmäßigkeitserwägungen anzustellen, wie sie uns — ich möchte das unterstreichen — überraschenderweise von manchen Seiten immer wieder nahegelegt werden. Selbstverständlich wird eine Regierung ihre Autorität nicht unnötig verschleißen, indem sie Verfahren anstrengt, die mit einem hohen Beweisrisiko belastet wären. Es wäre aber falsch, wollte man daraus folgern, daß existierende Parteien, die möglicherweise in die Verbotskategorie gehören, sich hiernach sicher fühlen dürften. Über dem potentiellen Staatsfeind schwebt ständig das Damoklesschwert. Man erwarte aber nicht von der Bundesregierung, daß sie alle paar Tage eine Erklärung darüber ab- Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 103. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Februar 1960 5581 Bundesminister Dr. Schröder gibt, ob sie diese oder jene Gruppe für verbotsreif hält und welche Absichten sie in dieser Beziehung hat. Ein Verbotsprozeß spielt sich in voller Offentlichkeit ab. Es ist dagegen nicht erforderlich, daß die Vorerwägungen der Bundesregierung öffentlich geführt werden. Ich komme zu einem anderen Kapitel. In den vergangenen Jahren sind von verschiedenen Seiten immer wieder Klagen über eine bestimmte Art rechtsextremistischen Schrifttums laut geworden. Wir haben, wie Sie wissen, meine Damen und Herren, in zwei Fällen unter Einschaltung der Bundesanwaltschaft eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs über antisemitische Pamphlete — ich erinnere an die Fälle Lenz und Nieland — herbeigeführt. Ich bin mir mit dem Hohen Hause darin einig, daß es eine Reihe von Publikationen gibt, besonders aus einigen nicht sonderlich bedeutenden Verlagen, die wir alle miteinander als höchst unerwünscht empfinden. Ein näheres Studium dieser Publikationen bestätigt zwar den Charakter des durchaus Unerwünschten, läßt aber berechtigte Zweifel daran, ob es sich tatsächlich um verfassungsfeindliche und damit verbotene Literatur handelt. Wir werden in Verbindung mit den Ländern dafür Sorge tragen, daß allseits ein wachsames Auge auf diese Art von Publikationen gerichtet wird und gerichtet bleibt. Ich nehme an, daß wir alle in dem Grundsatz übereinstimmen, daß es bei uns keine Freiheit für die Feinde der Freiheit geben darf. (Beifall in der Mitte und rechts.) Trotzdem, meine Damen und Herren, kann in unserem liberalen Rechtsstaat — und das muß man sich wirklich einmal deutlich sagen — offenbar noch allerhand Unkraut gedeihen. Hier sehe ich nur die Möglichkeit, diesem Unkraut den Nährboden zu entziehen. Praktisch gesprochen bedeutet das, mit allen anderen geeigneten Mitteln dafür zu sorgen, daß sich die Produktion und der Konsum dieses Artikels in engen Grenzen halten. Eins der wirksamsten Mittel hier ist sicherlich das Totschweigen. Deswegen, meine Damen und Herren, sehe ich mit Bedauern, wenn bisher völlig unbekannte Publikationen durch allzu laute Hinweise erst einmal bekanntgemacht werden. (Zurufe: Sehr richtig!) Aber auch hier möchte ich unmißverständlich zum Ausdruck bringen, daß verbotsreife Publikationen nicht etwa unter Hinweis auf ihre geringe Bedeutung geduldet werden sollten, sondern möglichst rasch und geräuschlos zum Verschwinden gebracht werden. Im übrigen werden wir in diesem Zusammenhang noch einmal prüfen, welche weitere Hilfestellung hier durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften geleistet werden kann, um diese Dinge wenigstens auf dem Jugendsektor auszuräumen. Meine Damen und Herren, ich komme nun zu einigen zusammenfassenden Bemerkungen. Der Kölner Fall und die nachfolgende Welle im Inland und im Ausland hat uns sicher alle zum Nachdenken darüber gebracht, ob wir die uns heute gestellten Aufgaben richtig erkannt haben und ob unsere Methoden geeignet sind, sie zu lösen. Über den kommunistischen Hintergrund eines Teils der Vorkommnisse sind wir uns völlig im klaren. Es liegt zum Greifen nahe, daß der konzentrische Angriff, den der Kommunismus auf die Bundesrepublik als den Hort der Freiheit in Deutschland und die einzige Hoffnung für die Freiheit aller Deutschen macht, jedes nur denkbare Kapital aus den Ereignissen seit der Weihnachtsnacht in Köln zu schlagen versucht. Dabei ist er selbstverständlich bemüht, die Spuren seiner Mitwirkung mit aller Hinterlist zu verwischen und in aller Welt Angst und Abscheugefühle gegen die Bundesrepublik zu organisieren. Daß der Kommunismus dabei zahlreiche Helfershelfer gefunden hat und findet, die ihn bei seinem Vorhaben aus mannigfachen Gründen unterstützen, liegt ebenso auf der Hand. Dieses Kapitel, so wichtig es ist, will ich heute nicht weiter vertiefen. Wir stellen uns ernsthaft der Frage, ob wir den nach 1945, insbesondere seit der Bildung der Bundesrepublik 1949, eingeschlagenen neuen Weg ohne Beeinträchtigung fortsetzen können. Wir sind uns darüber klar, daß wir das nur dann können, wenn wir tatsächlich der breiten Masse unseres Volkes die Notwendigkeit, den Sinn und das Ziel dieses Weges unentwegt klarmachen und die Zustimmung dafür finden können. Es ist eine ganz außergewöhnliche Aufgabe, nach einer voraufgegangenen umwühlenden Gewaltherrschaft, wenn sie auch nur von relativ kurzer Dauer war, und nach einem totalen Zusammenbruch mit bedingungsloser Kapitulation ein neues Kapitel der deutschen Geschichte zu beginnen. Vom 30. Januar 1933 trennen uns nunmehr 27 Jahre, vom Zeitpunkt des Zusammenbruchs 1945 beinahe 15 Jahre. 15 Jahre, das sind bereits drei Jahre mehr, als das ganze sogenannte tausendjährige Reich gedauert hat. Es ist, wie mir scheint, an der Zeit, daß wir nun endlich ein ausgeglicheneres Verhältnis zur Vergangenheit gewinnen. Wir werden heute nicht von neuem vor die persönlichen Entscheidungen der Jahre 1933 bis 1945 gestellt, sondern wir haben 15 Jahre eines konsequent anderen Weges hinter uns. Dabei stehen wir vor der Frage, wie wir morgen und übermorgen diesen Weg fortsetzen können angesichts der tödlichen Bedrohung durch den Kommunismus, der 17 Millionen unserer Landsleute in seiner Hand hat. Unter uns kann es und darf es nicht den Maßstab wirklichen oder angeblichen Versagens unter dem allen auferlegten kaudinischen Joch des totalitären Nationalsozialismus geben, sondern nur einen einzigen Prüfstein: Den entschlossenen Willen, den seit 15 Jahren verfolgten neuen Weg unbeirrt fortzusetzen. Wenn wir die neu gesteckten Ziele erreichen wollen, so wird uns das nur möglich sein, wenn wir folgende vier Grundsätze beachten: 1. Unbedingter Respekt für Verfassung und Gesetze. 2. Rückhaltlose Einsicht in verbrecherische Handlungen des vergangenen Regimes. 3. Abschluß aller noch nicht gesühnten Straftaten aus jener Zeit, und zwar in kürzester Frist. 4. Engültige Rechtssicherheit für alle verfassungstreuen und redlich am Aufbau mitarbeitenden Kräfte. 5582 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 103. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Februar 1960 Bundesminister Dr. Schröder Wir brauchen Versöhnung und Toleranz nicht nur im Verhältnis zu unseren jüdischen Mitbürgern, sondern innerhalb des gesamten Volkes. Wir brauchen das Zusammenstehen aller in der Verteidigung und Wahrung des freiheitlichen Rechtsstaats. Ich komme zum Schluß. Wir haben in den vergangenen Wochen sehr sorgfältig auf die Stimmen im Ausland geachtet. Viele Äußerungen von dort verrieten, daß viele trotz aller Schriften über das „Dritte Reich" und trotz der totalitären Wirklichkeiten unserer Tage in den kommunistisch beherrschten Ländern noch immer keine Ahnung davon haben, was es heißt, unter einem totalitären Regime existieren zu müssen. Wir haben aber auch Stimmen des Verständnisses gehört für die Situation, die wir zu meistern haben. Fine Stimme, die wir in der Erinnerung behalten wollen, ist die des Erzbischofs von Canterbury, mit der ich schließen möchte. Ich zitiere ihn nach „Times" vom 20. Januar 1960: Ich empfinde stets ein lebhaftes Gefühl der Anteilnahme für die deutschen Behörden, denn sie haben nicht nur das Problem der Bekämpfung des Antisemitismus zu lösen, sondern müssen sich gleichzeitig mit der Frage auseinandersetzen, wie die Selbstachtung einer Nation wiederhergestellt werden kann, die eine so demütigende Niederlage im Kriege erlitten hat. Diese beiden Dinge verwirren sich in unserer Vorstellung ebenso wie in der Vorstellung anderer Menschen. Ich habe hier bei uns und an anderen Orten eine Tendenz festgestellt, auf diese Äußerung des Antisemitismus mit einer antideutschen Haltung zu reagieren, und dies ist gerade das, was wir nicht tun sollen, weil es gefährlich ist. Wir können nur dankbar sein, anerkennen und bewundern, daß Dr. Adenauer sich so bemüht, dieses Übel, das die Deutschen ebenso wie wir erkannt haben, im Keime zu ersticken und auszurotten. (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der FDP.)
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    Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Frau Albertz 29. 2. Behrisch 18. 2. Benda 19. 2. Frau Berger-Heise 27. 2. Birkelbach 19. 2. Dr. Birrenbach 19. 2. Brand 19. 2. Brüns 2. 7. Dr. Dahlgrün 19. 2. Deringer 19. 2. Döring (Düsseldorf) 18. 2. Eberhard 27. 2. Dr. Eckhardt 28. 2. Eilers (Oldenburg) 19. 2. Dr. Elbrächter 19. 2. Even (Köln) 29. 2. Frau Friese-Korn 27. 2. Frau Dr. Gantenberg 19. 2. Geiger (Aalen) 19. 2. Geiger (München) 19. 2. Dr. Gleissner (München) 19. 2. Glüsing (Dithmarschen) 19. 2. Dr. Gradl 19. 2. Dr. Gülich 16. 4. Haage 19. 2. Dr. von Haniel-Niethammer 19. 2. Hellenbrock 19. 2. Hermsdorf 19. 2. Dr. Höck (Salzgitter) 20. 2. Horn 19. 2. Hübner 19. 2. Jacobs 7. 3. Jahn (Frankfurt) 23. 4. Dr. Jordan 19. 2. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Kalbitzer 19.2. Dr. Kanka 18. 2. Killat (Unterbach) 19.2. Frau Klemmert 15. 5. Koch 19. 2. Leukert 19. 2. Dr. Leverkuehn 25. 2. Dr. Lindenberg 19. 2. Lücker (München) 19. 2. Lulay 29. 2. Lünenstraß 18. 2. Maier (Freiburg) 16. 4. Metzger 18.2. Mühlenberg 19. 2. Müser 20. 2. Priebe 18. 2. Rademacher 19. 2. Ramms 19. 2. Dr. Ratzel 19. 2. Frau Renger 19.2. Schlick 20. 2. Schütz (Berlin) 19. 2. Spitzmüller 8. 3. Dr. Starke 19. 2. Dr. Steinmetz 19. 2. Teriete 18. 2. Dr. Toussaint 19. 2. Wagner 19. 2. Wehr 23. 4. Frau Welter (Aachen) 27. 2. Werner 24. 2. Dr. Willeke 1. 3. b) Urlaubsanträge Bauereisen 5. 3. Dr. Greve 15. 4. Leber 26. 2. Pietscher 26. 2.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gustav W. Heinemann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn alle die angemalten Hakenkreuze wieder abgekratzt sein werden, wenn möglichst alle Täter ermittelt und möglichst gerecht bestraft sein werden, wenn alle Proteste über die Vorgänge der letzten Wochen verhallt sein werden, wenn die Parlamente dieses Thema zu Ende disku-



    Dr. Dr. Heinemann
    tiert haben werden, erst dann werden wir mitten in der Aufgabe stehen, die uns der Antisemitismus stellt. Herr Schneider, ich möchte jetzt nicht mit Ihnen darüber streiten, ob es in unserem Volk viel oder wenig Antisemitismus gibt, ob er gesteuert oder nicht gesteuert ist, ob Publizistik die Vorgänge der letzten Wochen gefördert hat oder nicht. Antisemitismus ist niemals ein punktueller Vorgang, sondern eine ständige, unüberhörbare Frage an uns alle, an die politischen und gesellschaftlichen Ordnungen in unserem Volk -- nicht bei den Kommunisten —, ist eine ständige, unüberhörbare Frage nach dem Verhältnis zu unserer eigenen Vergangenheit, nach unserem Umgang mit der Jugend in Deutschland und nicht zuletzt auch eine ständige, dringliche Frage an die Verkündigung der christlichen Kirchen in Deutschland.
    Über die Bewandtnis des Antisemitismus haben wir nun viel gehört. Herr Wilhelmi hat ausgesprochen, daß der Angriff auf den Juden immer auch auf die Kirchen übergreift. Aber damit ist dieses Thema noch nicht erschöpft. Wir kommen nicht umhin, in einem noch strengeren Sinne von der Bezogenheit zwischen Kirche und Synagoge zu sprechen und auch von daher ein Stück unserer Aufgabe in der Gegenwart richtig zu erkennen.
    Christen und Juden verbindet und trennt der Jude Jesus Christus am Kreuz. Christenglaube und Judenhaß sind unvereinbar in einem sehr speziellen Sinn, leider nicht faktisch unvereinbar; denn es hat immer wieder pseudotheologische Argumente für einen Judenhaß gegeben, und volle tausend Jahre christlicher Kirchengeschichte sind ausgefüllt mit schrecklichen Untaten an den Juden. Alles das liegt längst schon vor einem „Dritten Reich".
    Ich sage: Christenglaube und Judenhaß sind unvereinbar in einem letzten, sehr speziellen Sinn. Um deutlich zu machen, was ich meine, erinnere ich an eine Anekdote, die man Friedrich dem Großen zuschreibt. Er soll eines Tages seinen Leibarzt gefragt haben, ob es einen Beweis für die Existenz Gottes gebe, und dieser Leibarzt soll schlankweg geantwortet haben: „Majestät, die Juden!"
    Juden sind und bleiben Gottes Volk in einem besonderen Sinn, auch wenn sie auf den Messias noch warten, von dem die Christen sagen, daß er in Jesus Christus gekommen sei. Es ist eines der verhängnisvollsten Mißverständnisse in Theologie und Kirchengeschichte, daß man den Juden allein die Kreuzigung Christi glaubt anlasten zu können, während sie in Wahrheit das Zeichen unserer aller Auflehnung gegen Gott ist. So wie damals der Volljude Kaiphas, der Halbjude Herodes und der Arier Pilatus gemeinsam am Werke waren, so sind auch heute Glaube und Unglaube nicht nach Völkern oder sogenannten Rassen aufzuteilen, sondern sie sind in diesem Zusammenhang immer wieder gemeinsam anzusprechen.
    Am 25. Januar dieses Jahres hat in Marl in Westfalen eine öffentliche Diskussion über das Thema stattgefunden: „Wie schützen wir uns vor Antisemitismus?" ln dieser Diskussion hat Erich Lüth darauf hingewiesen, daß in den Oberammergauer Passionsspielen — er fügte aber hinzu, daß das auch in protestantischen Mysterienspielen vorkomme — Christus und seine Jünger, obgleich sie Juden sind, arisiert worden sind — alle waren blond —, daß aber die zweite Gruppe der Juden in Kostüm und Maske karikiert, verzerrt und untermenschlich — sie alle waren schwarz und häßlich — dargestellt worden ist. Was aus solcher Art von Auffassung herausspringt — Lüth sagt es an einem Beispiel —, ist dann dies: daß sich ein Verfasser antijüdischer Karikaturen als ein Lehrer an der Oberammergauer Schnitzschule und Regisseur der Passionsspiele herausgestellt hat.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Das ist es, was ich meine, wenn ich von den pseudotheologischen Argumenten in Zusammenhang mit dem Antisemitismus spreche.
    Die Juden werden fortexistieren, so wahr Gott existiert. Keine Assimilation saugt sie auf, keine Verfolgung rottet sie aus. Sie existieren in der Zerstreuung, ohne gemeinschaftliche Geschichte, ohne gemeinschaftliche Kultur, ohne gemeinschaftliche Sprache. Auch wenn wir den Staat Israel ansehen und ihn in seinem Aufbau bewundern, bleibt das jüdische Volk ein Sonderfall. Dessen müssen wir uns bei den Vorgängen, die wir hier behandeln, immer wieder bewußt sein. Denn über der jüdischen Geschichte steht das alttestamentliche Wort: „Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an" — ein Wort Gottes.
    Von da her, verehrte Damen und Herren, ergibt sich die Besonderheit der Aufgabe, die uns gestellt ist. Antisemitismus ist mehr als Intoleranz, ist auch mehr und noch etwas anderes als Angriff auf Demokratie. Antisemitismus hat in letztem Zusammenhang etwas zu tun mit den Dingen unseres christlichen Glaubens, und von da her müssen wir auch unsere Aufgabe einer politischen Erörterung wie hier in diesem Parlament ansehen. Antisemitismus ist immer höchste Alarmstufe, nicht weil ein Ausland sich aufregt, nicht nur weil eine Demokratie gefährdet wäre, sondern weil mit dem Antisemitismus Bezirke betreten werden, vor denen die Warntafel steht: Gott läßt sich nicht spotten!
    Verehrte Damen und Herren! Wir haben in unserer politischen Arbeit je und dann Anreden der Kirchen an uns erfahren, sie haben uns je und dann auf unsere Verantwortung gestellt. Hier ist einmal ein Umgekehrtes unumgänglich. Ich für meinen Teil muß sagen, daß dem Antisemitismus zu begegnen nicht allein die Aufgabe einer politischen Führung sein kann, mit all den großen Möglichkeiten, die sie zweifellos hat und anwenden muß, sondern daß wir hier einmal, so meine ich, auch als Politiker eine Frage an die Kirchen zu richten haben, ob sie denn alles tun, was hier geboten ist, ob sie also insbesondere jener Pseudotheologie zu Leibe gehen, die in der Kirchengeschichte dieses Unheil angerichtet hat.
    Diese Frage ist nicht unnütz, obwohl eine Bekennende Kirche im Dritten Reich sich an der Judenrage entzündete und obwohl gerade auch aus christlicher Gemeinde manche Hilfe bis zum letzten Einsatz für verfolgte Juden geschah und manch




    Dr. Dr. Heinemann
    einer aus der christlichen Gemeinde darüber im Konzentrationslager landete. Auch die Erklärungen der Kirchen nach dem Kriege im Hinblick auf das, was sie versäumt hätten, genügen hier nicht, sondern es muß die Frage erhoben werden, ob es denn durchgedrungen ist, was da erklärt worden ist, ob sich die Unterweisung wirklich nach dem ausrichtet, was man als notwendig erkannt hat.
    Ich verfolge deshalb mit besonderem Interesse, was in diesen Wochen im Hinblick auf die Vorgänge, die uns hier beschäftigt haben, in den theologischen oder christlichen Zeitschriften darüber zu lesen ist, und ich stelle gern und dankbar fest, daß man die besondere Verantwortung empfindet. Möge sie jetzt wahrgenommen werden und dazu beitragen, daß das, was wir uns vornehmen, die Ergänzung von jener Seite erfährt.
    Verehrte Damen und Herren, erlauben Sie mir bitte, nun noch auf etwas zu sprechen zu kommen. Am Antisemitismus sehen wir, wo verführtes Denken enden kann. Deshalb müssen uns diese letzten Vorgänge so wachrütteln und empfindlich machen gegen verführerisches Denken, von welcher Seite auch immer es kommt.
    Im vergangenen Monat hat die Äußerung eines Mannes, der in unser aller Namen spricht, größtes Aufsehen erregt, vornehmlich im Ausland, und zwar sowohl bei den östlichen wie bei den westlichen Nachbarn, und ich muß im Hinblick auf diese Äußerung — die ich gleich wörtlich zitieren werde — fragen, ob sich in ihr nicht ein verführerisches Denken darstellt.
    Was ich meine, sehr verehrte Damen und Herren, ist die Erklärung, die der Herr Bundeskanzler Dr. Adenauer am 22. Januar vor dem Papst in Rom abgegeben hat.

    (Unruhe bei der CDU/CSU. — Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört! — Abg. Erler: Ja, die Erklärung war unerhört, Sie haben ganz recht!)

    Er sagte:
    Ich glaube, daß Gott dem deutschen Volk in den jetzigen stürmischen Zeitläufen eine besondere Aufgabe gegeben hat, Hüter zu sein für den Westen gegen jene mächtigen Einflüsse, die von Osten her auf uns einwirken.
    Diese in feierlicher Audienz abgegebene Erklärung ist im Bulletin der Bundesregierung amtlich veröffentlicht.

    (Unruhe bei der CDU/CSU.)

    Verehrte Damen und Herren! Wenn Ihnen nicht entgangen sein sollte, was darüber etwa in der Londoner Times oder im „Manchester Guardian" oder in holländischen oder in schweizerischen Zeitungen zu lesen war, dann verstehe ich nicht, warum Sie überhaupt einen Unwillen dagegen empfinden, daß ich von dieser Sache spreche.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Was heute morgen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zu lesen war, dürfte doch uns alle nötigen, uns diesem Vorgang mit Ernst zu stellen. Der Warschauer Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schreibt — ich lese jetzt wörtlich —:
    Zum ersten Male hat ein Sprecher der katholischen Abgeordnetengruppe „ZNAK" einen direkten Angriff gegen Bundeskanzler Adenauer und die Politik der Bundesregierung gerichtet.
    Und ferner in Gänsefüßchen:
    „Gegenüber unserer höchsten religiösen Autorität wurden Worte gesprochen, welche die Gefühle der Gläubigen in aller Welt erregen müssen. Wir haben erfahren, daß Gott dem deutschen Volke eine besondere Mission im Kampf zwischen Osten und Westen anvertraut habe."
    Verehrte Damen und Herren, ich habe die herzliche Bitte, daß Sie diesen Vorgang mit dem Ernst einmal ansehen möchten, der ihm im Ausland zugemessen wird und den er meines Erachtens seiner Sache nach wahrhaftig hat. Selbstachtung unseres Volkes: ja. Aber daß wieder ein Sendungsbewußtsein aufklingt, das macht mich unruhig,

    (Sehr gut! bei der SPD)

    und daß es aufklingt, das geht uns alle an.

    (Beifall bei der SPD und vereinzelt rechts. — Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Das stimmt doch gar nicht!)

    — Sehr verehrte Frau Helene Weber, bitte stellen Sie klar, was es ist und stellen Sie vor allem klar, wie Sie zu dem stehen, was doch in unser aller Namen gesprochen wurde. Ich erkläre Ihnen rundheraus, daß ich mich in diese Aussage des Bundeskanzlers nicht eingeschlossen fühlen kann.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich will jetzt lediglich noch dieses sagen: das verführerische Denken ist ein Boden für mancherlei Ungutes, wie wir in unserer Geschichte erlebt haben. Es führt nicht nur zu Diffamierungen einer Opposition, sondern, verehrte Damen und Herren, es kann auch Antisemitismus fördern.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU/CSU: Pfui!)



Rede von Dr. Richard Jaeger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Krone.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Heinrich Krone


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Worten des Herrn Kollegen Heinemann mit großer Aufmerksamkeit zugehört, insbesondere dem ersten Teil, in dem er von der tiefen Verpflichtung sprach, die der Christ auch gegenüber dem Juden haben müsse, und in dem er das mit einer theologischen Tiefe begründet hat, zu der ich nur ja sagen kann.
    Ein Zweites. Ich habe mit großer Aufmerksamkeit gehört, wie er von einem verführerischen Denken gesprochen hat. Das kann ich auch noch hinnehmen. Es gibt ein Denken, das verführen kann.



    Dr. Krone
    Daß Sie, Herr Dr. Heinemann, dann allerdings geglaubt haben, Sie könnten den Sprung tun von der tiefen Verpflichtung, von der Sie im ersten Teil Ihrer Rede gesprochen haben, zu dem Wort des Bundeskanzlers, das hat mich doch tief beunruhigt und beleidigt.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der SPD.)

    — Meine verehrten Kollegen, ich habe ja Ihrem Kollegen Heinemann sehr aufmerksam und sehr ruhig zugehört.

    (Abg. Schoettle: Beruhigen Sie sich! Gehen Sie nicht darauf ein!)

    — Sie sagen, Herr Kollege, ich solle nicht darauf eingehen. Dann soll man mich aber nicht erst unterbrechen. Also gut, ich will nicht darauf eingehen.
    Was hat der Kanzler gesagt? Daß wir, die wir hier in diesem geteilten Deutschland leben, wo in der Hälfte unseres Vaterlandes der Osten steht mit all dem, was Sie und wir ablehnen als Deutsche, als Menschen, die die Freiheit lieben, und, Herr Heinemann, Sie und ich und die meisten hier als Christenmenschen ablehnen, — daß wir hier eine Aufgabe haben, die nämlich, hier standzuhalten. D a s ist das Wort des Kanzlers gewesen. Unterstellen Sie ihm doch nicht, daß er irgendwie ein Wort der Sendung, wenn Sie wollen, in den Ostraum hinein habe sagen wollen, gar noch mit Mitteln, die Sie, Herr Heinemann, und ich ablehnen. Diese Aufgabe, die, glaube ich, wir alle haben, Sie und wir, hier standzuhalten gegenüber einer Welt, die wir ablehnen,
    — d a s war der Sinn seines Wortes und nicht der, den Sie hier zum Ausdruck gebracht haben.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der DP.)