Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich bedauere sehr, daß der Antrag der sozialdemokratischen Fraktion uns hier heute beschäftigen muß und daß das Problem nicht im Ausschuß gelöst werden konnte.
— Nein, dann wäre es mit meiner Stimme nicht gelöst. S i e hätten dafür sorgen müssen, denn Sie haben die Mehrheit im Ausschuß.
Ich bedauere aber auch, daß Herr Dr. Elbrächter meint, es sei ein unrationelles Verfahren. Ich finde, es ist ein demokratisches Verfahren. Unrationell
war heute abend in so später Stunde, daß er so
viele Fragen gestellt und nicht hier gesprochen hat.
Wenn er hier seine Meinung gesagt hätte, brauchte ich jetzt um diese späte Stunde nicht mehr zu sprechen. Ich stelle das ganz sachlich fest.
Wir können heute nichts beschließen. Wir können nur appellieren. Aber diesen Appell an den Bundesminister des Innern und den Appell an den Bundesrat — den sollten wir nicht versäumen.
— Herr Dr. Elbrächter, ich kann Ihnen jetzt keine Fragen beantworten, weil ich die Ungeduld des Hauses in dieser späten Stunde kenne, und ich möchte, daß wir jetzt sachlich unsere Meinung sagen. Ich meine auch, daß diese Debatte nicht von Ihnen mit Lächeln begleitet, sondern mit allem Ernst geführt werden sollte,
weil in unserem Land unendlich viele Menschen besorgt sind. Denn kaum ,ein Problem hat die Öffentlichkeit so beschäftigt wie das neue Lebensmittelgesetz.
Die Verabschiedung der Novelle trotz aller vorangegangenen Auseinandersetzungen hat nicht nur die Verbraucher, unsere Familien, sondern auch die Ärzte, hat alle Menschen, die um die Volksgesundheit besorgt sind, aufhorchen und, wie ich weiß, auch aufatmen lassen. Nachdem auf Grund von Kompromissen viele Regelungen in dem Gesetz nicht so sind, daß ohne weiteres die Möglichkeit besteht, alle Fragen durch Rechtsverordnung zu lösen, habe ich gern gehört, daß der Minister hier eine Auffassung vertreten hat, die auch die meine ist: daß das neue Lebensmittelgesetz ein Anfang und nicht das Ende der Entwicklung im Lebensmittelrecht ist.
Die Novelle hat eine Begründung der Regierung mitbekommen. Wer die Rundfunkrede des Ministers am 23. September gehört oder sie etwas später, im Bulletin gelesen hat, wird sich jetzt an das Versprechen erinnern, das er abgegeben hat, daß nämlich der „Schutz der Gesundheit des Volkes oberstes Ziel" sein soll.
— Ich bezweifle es nicht, Frau Kollegin. Nur Ihre Meinung ist angezweifelt worden, meine ganz gewiß nicht. — Die Novelle der Regierung hat eine Begründung mitbekommen. Ich glaube daran —und ich hoffe es auch — daß es gelingen wird — wenn auch nicht mehr in diesem Jahr —, dieses Gesetz so durchzuführen, wie es die Mehrheit des Hauses, gewollt hat.
Es wäre sehr tragisch, Frau Kollegin Dr. Steinbiß, wenn die Unruhe, die besonders bei den Frauenorganisationen, bei den Verbraucherverbänden und bei Ihrer eigenen Zunft, bei den ärztlichen Standesorganisationen — Sie können das in den „Ärztlichen Mitteilungen" und einigen anderen gesundheitspolitischen Veröffentlichungen nachlesen —,
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entstanden ist, eine unnötige Besorgnis förderte. Diese Besorgnis gäbe es gar nicht, wenn man etwas früher und mit etwas klareren Veröffentlichungen deutlich gemacht hätte, um was es geht.
Ich bin nicht der Ansicht des Herrn Ministers, daß man, wenn man zehn Jahre gesündigt hat, ruhig noch etwas weitersündigen kann, sondern man sollte sehen, daß man so schnell wie möglich in den Beichtstuhl kommt, Herr Minister — das sage ich Ihnen als Protestantin —, weil dann wenigstens die Hoffnung auf eine Besserung besteht.
Herr Stammberger hat von der Zeitlage gesprochen. Ich bin mit ihm der Meinung, es hätte nicht passieren dürfen, daß wir uns zu diesem Zeitpunkt noch einmal über die Verordnungen unterhalten müssen. Es ehrt den Herrn Minister, daß er sich vor seine Mitarbeiter stellt. Ich fürchte aber, daß die Bundesregierung in eine sehr schwierige Lage kommen wird; auch Sie, Herr Minister, werden in eine schwierige Lage kommen, denn der Vater dieses Kindes, der zur Zeit die Betreuungsaufgabe hat, ist nicht Herr Adenauer, sondern das Kind hat viele Väter — die Ministerpräsidenten werden demnächst in dieser Rolle sein —, und es ist immer eine schlechte Sache, wenn viele Väter verantwortlich sind.
Das wird also Herr Kopf genauso wie Herr Brauer, Herr Brandt genauso wie Herr Zinn sein. Es wird an Ihnen, Frau Kollegin Strobel, liegen, daß so wichtige Väter im Bundesrat alles tun, damit unser gemeinsames Anliegen verwirklicht wird.
Mit besonderer Sorge, Herr Minister, hat mich eine Behauptung erfüllt, die in einer Veröffentlichung im „General-Anzeiger" vom 2. Dezember mit der Überschrift „Chemie bedroht Gesundheit" enthalten ist. Es wird darin gesagt, „daß von der Ministerialbürokratie durch eine allzu willfährige Berücksichtigung industrieller Interessen anläßlich der Ausführungsbestimmungen das Gesetz sabotiert wird". Hier sollten Sie sich allerdings vor Ihre Beamten stellen und sollten nicht zugeben, daß mit solchen Veröffentlichungen Unruhe gestiftet wird. Aber auch eine den Ärzten sehr nahestehende Information, die „Bonner Sozialpolitik" — des Herrn Burckhardt — hat behauptet, „daß das Gesetz undurchführbar sei". Ich halte das Gesetz nicht für undurchführbar. Ich bin nur der Meinung, daß jetzt alles geschehen muß, damit in der Durchführungsverordnung dem Willen des Gesetzgebers Rechnung getragen wird. Es müssen auch noch die Dinge ausgeräumt werden, die, weil es an Aufklärung über manche Zusammenhänge fehlte, in der Öffentlichkeit Besorgnis erwecken konnten. Sie haben u. a. gesagt, Herr Minister, „daß die Regierung noch weiter gehen werde als die Forschungsgemeinschaft". Sie haben eine große Chance, das zu beweisen.
Ich bedauere, daß Sie dem Problem der Krabben und der Krabbenfischerei eine solch große Bedeutung beimessen. Sie haben das im Rundfunk getan, Herr Minister, die Frau Kollegin Strobel hat das gleiche heute abend gesagt. Ich glaube nicht, daß das Problem der Konservierung von Krabben das
Hauptanliegen dieses Gesetzes ist. Krabben sind weder ein Hauptnahrungsmittel, noch ist es entscheidend, wie lange noch dieses Nahrungsmittel mit Borsäure konserviert wird. Für mich ist etwas ganz anderes entscheidend.
Kernstück des Gesetzes ist das grundsätzliche Verbot der Fremdstoffzusätze und die Kennzeichnungspflicht.
Wenn auf die Verpackungen geschrieben wird, daß die Krabben zur Zeit mit Borsäure oder eben mit einem Stoff konserviert werden, über dessen Schädlichkeit man sich streitet, dann möge jeder in eigener Verantwortung entscheiden, ob er Krabben essen will oder nicht. Darauf kommt es an, und dafür sollten Sie sorgen, Herr Minister. Ausnahmen von der Kennzeichnungspflicht, die jetzt bei der Durchführung des Gesetzes gemacht werden, sollten soweit wie möglich beschränkt und nur in den seltensten Fällen genehmigt werden.
Lassen Sie mich noch kurz ein Wort zur Kennzeichnung selbst sagen. Ich halte es wirklich für außerordentlich gefährlich, wenn die Auffassung vertreten wird, man könne die mit Borsäure bearbeiteten Konserven nicht kennzeichnen. Die Wirtschaft, auch die Krabbenfischerei sollte selbst das allergrößte Interesse haben, diese Kennzeichnung vorzunehmen.
Ein weiteres Wort zu der Absicht — ich weiß nicht, ob sie noch besteht, aber ich nehme an, daß der Bundesrat sich auch noch mit dieser Frage auseinandersetzen muß —, die Kennzeichnung durch Kenn-Nummern vorzunehmen. Diese Absicht muß ich auf das entschiedenste beanstanden. Es kann nicht dem Willen des Gesetzes und dem Willen des Hauses bei der Verabschiedung des Gesetzes entsprechen, daß die Hausfrauen, wenn sie einkaufen, ein Taschenlexikon mitnehmen sollen, um festzustellen, was die einzelnen Kenn-Nummern bedeuten, oder daß sie erst suchen müssen, um von der Liste die Bedeutung abzulesen. Die Kennzeichnung muß einfach und für jeden erfaßbar sein.
— Nein, Herr Kollege. Ich muß sie aber darauf aufmerksam machen, daß selbst der Staatssekretär Dr. Sonnemann
— ja, was ich jetzt sage, ist Ihnen unangenehm, aber Sie sollten es ruhig anhören — unseres Ernährungsministeriums vor einer möglichen Verwässerung dieses Gesetzes gewarnt hat. Die „Ärztlichen Mitteilungen" vom 11. 11. 1959 haben darüber sehr ausführlich berichtet.
Für all die Probleme, die die Gesundheit unseres Volkes angehen, sollten wir uns, finde ich, Zeit lassen, auch wenn es eine Viertelstunde länger dauert, und die notwendige Diskussion mit mehr Ernst führen.
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— Herr Kollege, ich muß wirklich sagen, das ehrt Sie keineswegs. Sie sollten sich genieren! Sie merken doch, mit welcher Eile ich mich bemühe, auf Ihre Müdigkeit Rücksicht zu nehmen.
Ich betrachte es als sehr positiv, daß wir endlich bei den Fleischerzeugnissen eine bundeseinheitliche Klärung der Verwendung von Phosphaten bekommen werden. Ich frage mich aber: wenn neun Länder bei der Wurstbearbeitung ohne Phosphate auskommen, warum sollen es die fehlenden zwei Länder nicht auch können?
Herr Minister, man kann eben nicht nach zehnjährigem Sündigen noch drei Jahre lang abwarten! Man kann die Auffassung haben: wenn wir ein Jahr mehr für die Vorbereitung gehabt hätten, wäre die Situation weniger schwierig. Ich möchte Ihnen aber entgegnen: mindestens seit 1956 wissen Sie, weiß Ihr Haus, weiß die Wirtschaft und weiß die Lebensmittelindustrie, worum es geht.
Seit 1956 wissen aber auch alle Beteiligten, daß die Verordnung kommen muß und daß ein Verbot zu erwarten war.
Wenn die Wissenschaft nicht über alle Stoffe Bescheid weiß, so ist das gar kein Grund zum Vorwurf gegen die Wissenschaft, aber auch kein Grund zur Entschuldigung für Ihre Auffassung. Denn die Wissenschaft hat die permanente Aufgabe, sich um die Erkenntnis in der Lebensmittelchemie genauso zu bemühen wie um die Erkenntnis neuer Stoffe und die Erkennung neuer Gefahren. Es besteht gar kein Zweifel, daß wir immer wieder Neuland betreten müssen und daß alle Beteiligten — alle! — Erfahrungen sammeln müssen. Ich habe sehr gern vermerkt, daß auch der Minister diese Auffassung hat, und wir werden zur gegebenen Zeit daran erinnern, wenn es notwendig sein sollte, die Verordnungen zu überprüfen und das Gesetz noch deutlicher zu machen.
Nun ist behauptet worden, daß wir in Kürze dreierlei Lebensmittel haben werden — dies ist auch von der Frau Kollegin Blohm angedeutet worden —, weil beim Inkrafttreten am 23. Dezember eben noch nicht alle Verordnungen angewandt werden können. Ich bedaure es, daß die Lebensmittelindustrie nicht von sich aus die Initiative ergriffen und ihre eigenen Konserven und Erzeugnisse mit Etiketten versehen hat. Ich bedauere, daß sie nicht schon ohne Zwang und ohne Polizeikontrolle das getan hat, was sie im Interesse ihres eigenen Geschäfts hätte tun sollen.
Die Kennzeichnungspflicht, die wir fordern, richtet sich doch nicht gegen die Lebensmittelindustrie. Sie dient unserem Volk, und sie dient auch der Erziehung der Verbraucher dazu, sich anzuschauen, was sie kaufen, und zu überlegen, wofür sie Geld ausgeben. Sie liegt im Interesse der Gesundheit unserer Familien. Durch sie wird dafür gesorgt, daß
die Beschaffenheit der verwendeten und genossenen Lebensmittel auch von den Verbrauchern überprüft wird.
Die Wirtschaftsgruppen, die heute protestieren, wären wirklich gut beraten gewesen, wenn sie während der jahrelangen Vorbereitungen für dieses Gesetz ihrerseits das Notwendige getan hätten, um die im Handel befindlichen Packungen an einem Tage X zu kennzeichnen. Das kann man über den Großhandel machen, das kann man bei der Margarine wie bei anderen Erzeugnissen durch Umwickeln, durch Umverpacken oder durch Etiketten machen.
— Ich bin nicht Chemikerin in der Lebensmittelindustrie, Herr Dr. Elbrächter. Sie müssen mir zugute halten, daß ich die Dinge, die in der Backmittelindustrie — Backpulver — oder in anderen Industrien eine Rolle spielen, vielleicht nicht im einzelnen kenne. Sie müssen aber, auch wenn Sie sich noch so getroffen fühlen, anerkennen, daß es möglich ist, Etiketten zu beschaffen und zu verwenden.
Bei dem Verlangen nach reinen und unverfälschten Lebensmitteln handelt es sich um eine außerordentlich wichtige Frage! Ich kann nur wiederholen, daß es nicht um eine Auseinandersetzung mit der Industrie geht. Im Vordergrund steht vielmehr die Erhaltung des Lebens und der Gesundheit unseres Volkes. Ich möchte an dieser Stelle die Hoffnung aussprechen, daß aller Pessimismus und viele Sorgen überflüssig gewesen sein mögen und daß es dem Minister und seinen Beamten gelingt, im Bundesrat Verständnis dafür zu finden, daß ein Gesetz, wie es hier beschlossen worden ist — auch in der Durchführung —, dem Willen des Volkes und seiner Vertreter entspricht. Es ist besser, daß dieses Gesetz gelegentlich auch einmal gewisse Leute ärgert, Herr Dr. Elbrächter, als daß man ,etwas versäumt, was im Interesse der Volksgesundheit zu tun ist. Ihren Zwischenruf, Herr Kollege,möchte ich in Ihrem Interesse, weil ich mich für Sie schäme, überhört haben.
Vizepräsident Dr. Preusker:
Ehe ich dem Herrn Bundesminister des Innern das Wort erteile, möchte ich doch an diejenigen, die hier noch als Redner vorgemerkt sind — das sind nach dem Minister gegenwärtig noch drei —, den dringenden Appell richten, sich möglichst kurz zu fassen. An das Hohe Haus möchte ich appellieren, möglichst ruhig zuzuhören. Sonst muß ich als Präsident doch zu erwägen geben, ob die Beratung nicht morgen früh fortgesetzt werden soll. Nur unter der Voraussetzung, daß mein Appell auf fruchtbaren Boden fällt, möchte ich versuchen, diese Verhandlung noch zu Ende zu führen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
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