Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses Thema ist, obwohl die Abendstunde gekommen ist, sicherlich geeignet, weiteres Interesse zu finden. Deswegen bin ich versucht, mit einiger Ausführlichkeit
5094 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1959
Bundesminister Dr. Schröder
zu antworten. Frau Kollegin Strobel hat einiges gesagt, was sie, möchte ich annehmen, bei näherem und härterem Abwägen auf der Goldwaage nicht gesagt haben würde.
— Ich will den Versuch machen, Frau Kollegin. Wenn sie dem nicht zustimmen, dann bleibt das Ihre Sache. Sie haben gesagt, das, was wir in diesem großen und schwierigen Verordnungswerk vorgelegt haben, sei eine eklatante Verletzung des Gesetzes. Wenn Sie bei dieser Formulierung bleiben möchten, muß ich das mit allem Nachdruck und aller Entschiedenheit zurückweisen.
— Das gilt auch Ihnen gegenüber. Ich muß das mit aller Klarheit und Entschiedenheit zurückweisen.
Wir haben ein neues Lebensmittelgesetz oder ein Stück neuen Lebensmittelrechtes. Es ist selbstverständlich die Aufgabe der Bundesregierung, dieses neue Lebensmittelgesetz unverändert durchzuführen. Sie darf es nicht etwa mit anderen Ideen füllen, sondern muß es bei den Ideen belassen, die uns alle bei der Verabschiedung des Gesetzes beseelt haben.
Es ist auch keineswegs so — es war etwas amüsant, was die Frau Kollegin gesagt hat —, daß das Kind sich bei schlechten Zieheltern befinde. Das Kind befindet sich gar nicht bei schlechten Zieheltern.
— Frau Kollegin, Ihr Vertrauen in den Bundesrat ehrt Sie. Aber ob das bessere Zieheltern sind als die Väter des Gesetzes, das wollen wir offen lassen. Schließlich kann man sich zu seiner Elternqualität immer nur subjektiv äußern. Ich bin jedenfalls der Meinung, wir sind für dieses Gesetz keine schlechten, sondern außerordentlich bemühte Zieheltern.
Die Öffentlichkeit muß allmählich so ein bißchen den Eindruck bekommen, wir hätten nichts Wichtigeres zu tun, als ein ganzes Jahr lang darüber nachzudenken, wie wir das Inkrafttreten der Bestimmungen des Gesetzes verhindern können, alles Mögliche zu verändern und möglichst das Gegenteil von dem zu tun, was in dem Gesetz drinsteht. Meine Damen und Herren, man sollte uns für zu intelligent halten, etwas Derartiges zu versuchen.
Ich möchte den Kollegen von der Opposition sagen: Wenn Sie uns schon nichts Besseres zutrauen, fangen Sie bitte wenigstens nicht an, an unserer Intelligenz zu zweifeln! Dazu besteht ganz sicherlich kein Anlaß, wenn Sie uns auch sonst jede Schlechtigkeit zutrauen.
Deswegen möchte ich hier wirklich mit dem Blick auf die Öffentlichkeit — Sie werden verstehen, warum ich das tue — feststellen. Dieses Gesetz ist
in Kraft, und wir werden das Gesetz so schnell wie möglich — mit den notwendigen Anpassungs- und Übergangsfristen, versteht sich — in einer Weise durchführen, die erkennen läßt, daß das Gesetz wirklich in Kraft ist.
Man darf sich doch nicht der naiven Auffassung hingeben, daß man auf dem Gebiet des Lebensmittelrechts jahrzehntelang sündigen könne und daß dann von heute auf morgen ein Zustand völliger befriedeter Seligkeit eintreten werde. Das bedarf schwieriger Anpassungen; die Verordnungen sind dazu da, diesen schwierigen Anpassungsvorgang zu ermöglichen.
Ich habe hier eine etwas längliche und auf besonderem Papier geschriebene Übersicht mitgebracht, in der ich zur Vorbereitung der heutigen Debatte einmal den Weg dieser elf Verordnungen habe aufzeichnen lassen, an denen wir gearbeitet haben. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten behelligen; das ist ein sehr weites Feld. Aber die Namen der Verordnungen möchte ich doch wenigstens einmal alle vorlesen, damit man eine Vorstellung von dem Umfang dieser schwierigen Aufgabe bekommt. Es handelt sich hier um die Allgemeine FremdstoffVerordnung, die Farbstoff-Verordnung, die Konservierungsstoff-Verordnung, die Verordnung über Fleisch und Fleischerzeugnisse, die Tabak-Verordnung, die Essenzen-Verordnung, die Trinkwasseraufbereitungs-Verordnung, die FruchtbehandlungsVerordnung, die Kaugummi-Verordnung, die Lebensmittelbestrahlungs-Verordnung und schließlich — beinahe unaussprechbar — die Diätetische Fremdstoff-Verordnung.
Diese Übersicht ist aufgemacht nach dem Schema: Erster Entwurf nach Inkrafttreten der Novelle, Anhörung des Beirats für Lebensmittelrecht, Anhörung der Sachkenner nach § 5d des Lebensmittelgesetzes, Anhörung der Länder, Abschluß der Ressortbesprechungen, vorläufige Übersendung an die Ausschüsse des Bundesrats, Abschluß der Rechtsförmlichkeitsprüfung, Zuleitung an den Bundesrat; das Ganze ist hier datenmäßig entwickelt.
Ich führe das nur deswegen an — das darf ich vielleicht sagen, ohne mißverstanden zu werden —, um den Gutwilligen unter Ihnen, meine Damen und Herren, eine Vorstellung von der gewaltigen und schwierigen Arbeit zu geben, die in den vergangenen Monaten auf diesem Gebiet geleistet worden ist.
Solche Arbeiten, in die auch so viele Gremien — ich habe die Gremien vorgelesen — einzubeziehen sind, sind ungeheuer zeitaufwendig. Wenn ich als Anlauffrist ein Jahr mehr hätte, würde das alles noch einmal sehr viel eingehender behandelt werden können.
Zum Trost möchte ich Ihnen gleich sagen: solche Verordnungen sind sowieso nicht für die Ewigkeit gedacht, sondern sie sind zur Einführung der neuen Lebensmittelgesetzgebung gedacht, und sie eignen sich sehr wohl zur Verbesserung unter neuen Erkenntnissen. Also wir sollten hier nicht so tun, als werde ein Werk für Jahrzehnte geschaffen. Das
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1959 5095
Bundesminister Dr. Schröder
ist nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich hier um einen vorsichtigen Anpassungsvorgang. Das muß man wissen, um diese Sache richtig würdigen zu können.
Nun liegen wir mit all den genannten Verordnungen oder jedenfalls mit beinahe allen in einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit dem Bundesrat. Wenn Sie allein die Dokumente gesehen hätten, die von den dortigen Ausschüssen, dem Agrarausschuß, dem Innenausschuß usw., auf uns zugekommen sind, wenn Sie die Serien von Punkten gesehen hätten, würden Sie erkannt haben, daß alle diese Dinge hüben und drüben mit großer Sorgfalt behandelt werden.
Hier haben wir — ich kann das nicht immer sagen —, wie hoffentlich auch das Ergebnis zeigen wird, mit dem Bundesrat eine ziemlich gute Zusammenarbeit. Angesichts der Schwierigkeit dieser Materie möchte ich das doch besonders hervorheben.
Ich sage noch einmal: Dies ist ein Anfang, und alle diese Dinge werden im Laufe der folgenden Zeit durchaus nach den gesammelten Erfahrungen angefaßt werden können.
Um in der Sache etwas konkreter zu werden, darf ich mit der Borsäure beginnen. Ich habe vor einigen Monaten extra der Borsäure und der Krabben wegen eine Reise nach Büsum gemacht, um mir einmal an Ort und Stelle anzusehen — nicht, wie die Krabben aussehen; das wußte ich vorher — sondern welche Fang- und Behandlungsmethoden angewendet werden und was man tun könne, um etwa ohne die seit Jahrzehnten gebrauchte Borsäure auszukommen. Dort traten natürlich nur Leute auf, die sagten, sie hätten an Borsäure oder jedenfalls an Krabben — an Borsäure kann man sehr wohl umkommen — noch niemanden umkommen sehen. Ich gebe es so wieder, wie es dort erzählt worden ist: die Kurgäste seien alle nach reichlichem Krabbengenuß gesund wieder abgereist, sie schätzten den Artikel sehr. Ich habe gesagt: Das liegt vielleicht daran, daß Sie nicht Zellphysiologie studiert haben. Die Leute guckten mich etwas erstaunt an.
— Das sagen Sie so! Herr Kollege Heiland, was Sie sagen, ist ein Einwand, der nur zum Teil zutrifft. Die Leute bekommen natürlich nicht immer nur frische Krabben. Ich kann Ihnen übrigens versichern: Unter den Kostproben, die ich dort gegessen habe, waren die überzeugendsten Kostproben „Krabben frisch". Daran will ich gar keinen Zweifel aufkommen lassen, daß derjenige den größeren Genuß hat, der den Vorzug hat, an der Küste zu leben und die Krabben frisch zu bekommen. — Das besagt jedoch noch nichts darüber, welche Zusätze und in welchem Umfang diese schädlich sind.
Ich fahre fort in dem, was ich erzählte. Ich habe dem Betreffenden gesagt: Sie werden wahrscheinlich nicht auf Zellphysiologie studiert haben; ich auch nicht. Aber ich habe mit Zellphysiologen gesprochen, sogar mit einem, der weltberühmt ist und dessen Namen ich hier aus anderen Gründen nicht nennen will, Der Betreffende hat mir übrigens gesagt: Lassen Sie ruhig die Krabben weiter mit Borsäure behandeln. Wer keine Krabben essen will, braucht es ja nicht zu tun, das ist kein Volksnahrungsmittel. Das war das Urteil eines sehr berühmten Mannes, den ich, weil die Sache kontrovers werden könnte, hier nicht weiter nennen möchte.
Aber, meine Damen und Herren, da das wahrscheinlich kein verantwortungsloser Mann war, bleibt in der Tat die Frage, ob man nun, nachdem man jahrzehntelang und ohne nachgewiesene Schäden jedenfalls hinsichtlich der Krabben — Borsäure verwendet hat, über Nacht sagen kann: Für die Konservierung von Krabben darf man keine Borsäure mehr nehmen, auch nicht statt 7 Gramm 5 Gramm, oder was immer die Dosen sein mögen; das muß endlich aufhören. Das ist etwas, das man natürlich auf dem Papier verfügen kann. Aber dann muß man sich das Land ansehen oder was dahintersteht oder die See oder die Schiffahrt oder die Menschen, die Familien. Da muß man sich überlegen, was dabei auf einen zukommt.
Ich hatte z. B. den etwas naiven Gedanken: Na, schön, wenn also die Krabben nicht mehr für den menschlichen Verzehr genommen werden dürfen, können sich die Leute vielleicht damit helfen, daß sie auf Krabben als Futtermittel ausweichen, und ihre Existenz ist weiter gesichert. Ich habe mich an Hand der Zahlen davon überzeugt, daß das in der Tat keine Ausweichmöglichkeit bei diesem Problem ist. Deswegen lautet die Lösung, von deren Richtigkeit ich überzeugt bin: keine Ausweichmöglichkeit.
Frau Kollegin, Sie sagen: Da gibt es eine Fabrik, die macht es anders, nämlich unter Zuhilfenahme von Hexamethylentetramin. Dieses Mittel bietet aber auch nicht viel mehr Sicherheit als Borsäure, wie ich aus Ihrem Vortrag entnommen habe. Aber die wirkliche Lösung des Problems besteht darin, daß man auf See mit guten Kochgeräten intensiv kocht, nicht nur immer ein bißchen kocht, sondern wirklich intensiv kocht, und daß man dann eine Tiefkühlkette hat — bleiben wir bei dem Beispiel — von Büsum über Hamburg bis in die Küche des Bonner Verbrauchers oder wo immer sich der Betreffende befinden mag. Das ist die ideale Lösung, das ist die Lösung der Zukunft, das ist der Fortschritt. Aber es wird noch ein bißchen dauern, wie ich fürchte.
Ich spreche gerade von dem Punkt, weil ich ihn zufällig an Ort und Stelle und mit einigem Bemühen studiert habe. Man muß, glaube ich jedenfalls, den Leuten die Chance geben, zu einer solchen Möglichkeit überzugehen. Das bedeutet, daß man ihnen helfen muß. Man wird ihnen dabei auch finanziell helfen müssen, wenn man das kann. Wenn die Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden sollen, fragt es sich, von wem, vom Bund oder Land oder mit wessen Zustimmung? Kurz und gut, hier braucht man einen gewissen Übergang.
Alles, was Ihnen jetzt an der Regelung, an dieser oder jener Übergangs- oder Ausnahmebestim-
5096 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1959
Bundesminister Dr. Schröder
mung nicht passen mag, dient nicht dem Zweck, das Gesetz zu verfälschen, es außer Kraft zu setzen, sondern es dient dazu, nach Lösungen zu suchen, wie in einer begrenzten Zeit dieses Problem tatsächlich auch technisch gemeistert werden kann.
Was die Behandlung der Frage der Borsäure im Bundesrat angeht, so hat sich der Agrarausschuß des Bundesrats für die Verwendung von Borsäure ausgesprochen, der Innenausschuß dagegen. Was das Plenum des Bundesrats beschließen wird, muß man abwarten. Aber es soll niemand sagen, diese Probleme seien nicht gründlich geprüft und nicht intensiv genug diskutiert worden und es stecke, wie Sie sagen, eine eklatante Verletzung des Gesetzes und irgendwie schlechter Wille dahinter. Hinter der Sache steckt gar kein schlechter Wille, sondern das Bemühen, das Beste in angemessener Zeit zu tun.
Das eine möchte ich Ihnen sagen. Wenn Sie kurzerhand dekretieren, daß keine Borsäure und kein anderes Mittel verwendet werden darf, dann haben Sie vielleicht plötzlich etwas, was man bei der Verwendung von Borsäure nicht erlebt hat. Dann haben Sie nämlich bei ungenügend gekochten oder konservierten Krabben unter Umständen eine Fleisch- bzw. Fischvergiftung. Ob das besser ist als ein Zusatz, dessen Verwendung man wegen seiner Schädlichkeit durchaus begrenzen kann, bleibt die Frage. Dann hätte man vielleicht die ersten nachgewiesenen Opfer durch Krabbengenuß, die man bisher jedenfalls nicht kennengelernt hat.
Nun zu dem nächsten Punkt. Es handelt sich um das Hexamethylentetramin. Mir tun die Stenographen leid,
aber dieses Präparat heißt nun einmal so. Die Beurteilung der Schädlichkeit von Hexamethylentetramin ist in den letzten Jahren durchaus schwankend gewesen. Sie wissen ja aus der Vorlage. daß eine etwas längere Übergangsfrist notwendig ist, um andere Methoden zu finden. Das wird übrigens keineswegs so leicht sein, wie man glaubt. Ich habe auch mit den Leuten in den wissenschaftlichen Untersuchungs- und Laboratoriumsstätten gesprochen. Es sind Aufgaben, an denen man im übrigen nicht erst, seitdem wir das Lebensmittelgesetz haben, arbeitet, sondern an denen man schon sehr lange herumdoktert. Wir können nur hoffen, daß man vernünftige Konservierungsmittel findet; denn daß davon sowohl wirtschaftlich wie ernährungsmäßig sehr viel abhängt, liegt doch wohl auf der Hand.
Dann haben Sie noch von Annatto-Bixin gesprochen, dem Stoff, mit dem ich sonst keine nähere Berührung gehabt habe und über den ich nicht so viel aussagen kann wie über die Borsäure und die Krabben. Dieser Stoff steht bei uns in der Allgemeinen Fremdstoff-Verordnung. Sie würden ihn gern in der Farbstoff-Verordnung sehen. Die Meinungen darüber sind auch auf der Bundesratsebene geteilt. Da er aber eingesundheitlich unbedenklicher Stoff ist — mir ist aus Ihrem Vortrag nicht ganz klar geworden, ob Sie diese Auffassung teilen —, ist der Streit darüber, ob er in die Allgemeine Fremdstoff- oder in die Farbstoff-Verordnung gehört, vielleicht nicht so weittragend. Unter den in der Farbstoff-Verordnung aufgeführten Stoffen würde man sich doch wahrscheinlich die chemisch hergestellten Farbstoffe vorstellen. Deswegen gehört ein natürlicher Farbstoff nach unserer Auffassung eher in die Allgemeine Fremdstoff-Verordnung.