Rede von
Karl
Wittrock
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch unter Beachtung der Ausführungen, die der Herr Bundesminister der Justiz soeben gemacht hat, bleibt die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bei den von ihr in den Ausschußberatungen bereits vorgetragenen Bedenken.
Ich darf hierzu im einzelnen namens meiner Fraktion folgende Erklärung abgeben.
Die sozialdemokratische Fraktion sieht sich zu ihrem Bedauern nicht in der Lage, eine Mitverantwortung für dieses Gesetz zu übernehmen. Daß wir uns bei dem Versuch, den öffentlichen Frieden vor einem Mißbrauch der Meinungsfreiheit zu schützen, der Stimme enthalten, beruht auf der Überzeugung, daß wir hier Strafbestimmungen für kein geeignetes Mittel ansehen. Nicht aber bedeutet die Stimmenthaltung ein Schweigen zu Gefahren, die zu bekämpfen und zu überwinden eine gemeinsame Aufgabe aller demokratischen Kräfte sein muß. Bereits die Tatsache, daß es zu der Erwägung kommen konnte, wie neuen Anzeichen des Rassenwahns zu begegnen ist, sollte uns eindringlich an die Verantwortung erinnern, die uns aus der Vergangenheit gegenwärtig zu bleiben hat. Darum darf nicht einmal der Anschein erweckt werden, als ließen sich die gesetzgebenden Körperschaften von einer Rücksicht auf das Ausland bestimmen. Das, meine Damen und Herren, wäre eine leere Geste des Opportunismus, die das eigene Verhalten nur entwerten könnte.
Haßerregenden Äußerungen eines die Menschenwürde verletzenden Ungeistes entgegenzutreten, isst für uns Verpflichtung um unserer Selbstachtung willen. Wir sind es unserer Jugend schuldig, um sie vor einer Wiederkehr des Makels zu bewahren, der unsere Geschichte dadurch befleckt, daß Menschenverachtung aus Feindschaft wegen des Glaubens und Denkens und aus Rassenwahn zur mörderischsten aller politischen Waffen gemacht wurde.
Wenn auch einzelne Vorkommnisse nicht verallgemeinert und überschätzt werden sollten, so hat doch angesichts der Verfolgungen und der Massenmorde, die sich zu unserer Zeit in Deutschland ereigneten, jede Regung solcher Gehässigkeit eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung. Es wäre eine gefährliche Selbsttäuschung, anzunehmen, daß es Antisemitismus nicht mehr gebe und Rückstände oder Ansätze verhüllter Verbindungen nicht mehr bestünden. Es gibt noch Antisemitismus, sowohl latent als auch offen in Äußerungen, die für einzelne Presseerzeugnisse und Splitterparteien kennzeichnend sind. Das zu verschweigen wäre falsch.
Einen Beweis dafür, daß sich immer wieder im Verborgenen Helfershelfer finden, um Schuldige durch eine Verschwörung des Schweigens abzuschirmen oder durch jede Art der Begünstigung zu unterstützen, ein Beispiel für eine solche Verschwörung des Schweigens zugunsten eines Mitträgers je-
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nes Ungeistes haben wir in diesen Tagen beobachten können.
Der Bundestag, so wünschen wir, ruft das ganze deutsche Volk auf, mit allem Nachdruck das unwürdige Treiben der Verhetzten oder Unbelehrbaren von sich zu weisen, die zur gruppenweisen Verachtung, zur hetzerischen Feindschaft zwischen Andersdenkenden und Andersglaubenden, insbesondere zum Judenhaß, aufstacheln.
Wir Sozialdemokraten halten jedoch ein Gesetz für verfehlt, das seinem Anlaß und seinem Kern nach als ein strafrechtlicher Sonderschutz für die Deutschen wirken könnte, die aus Rassenwahn als Juden angegriffen werden. Im eigenen Volke als Jude beschützt werden zu müssen, ist für den Verletzten ebenso kränkend wie die ihm widerfahrende Mißachtung. Es ist peinlich für uns alle.
Mit Recht hat man es einen antisemitischen Neutralismus genannt, wenn Mitbürger als Juden unter eine Art Denkmalsschutz gestellt werden sollen. In der Fassung der Regierungsvorlage hätte ein solches Gesetz daher das Gegenteil seines Zieles erreicht, da es einen Zerfall des Volkes in Gruppen anerkannt hätte, die durch unfreiwillige Merkmale aus der Gemeinschaft aller auszusondern sind.
Die Ausschußvorlage schwächt diesen Fehler in anerkennenswerter Weise ab, indem sie es nicht mehr darauf abstellt, daß solche angeblichen Gruppen, in die man ohne eigenes Zutun hineingeboren sein soll, wirklich beständen. Nach der Ausschußvorlage wird es vielmehr als rechtswidrig anzusehen sein, daß der Täter aus seiner Einbildung die Gemeinschaft in Gruppen aufzulösen sucht, die er sich vorstellt und die er zu Unrecht mit seiner Verachtung treffen will. Wir sind dankbar, daß der Ausschuß insoweit Vorschlägen von sozialdemokratischer Seite gefolgt ist.
Dennoch vermag diese Verbesserung unsere grundsätzlichen Bedenken nicht auszuräumen. Auch die Neufassung kann die Gefahr nicht vollständig bannen, daß eine solche Strafvorschrift den gesetzgeberischen Absichten zuwider auf die zurückschlägt, die geschützt werden sollen. Die für alle gleiche Rechtsordnung darf auch aus der Sicht eines Rechtsbrechers nicht zwischen vorstellbaren Gruppen, die besonders verletzlich und schutzwürdig sind, und solchen Gruppen, die es nicht sind, teilen. Die Rechtsgemeinschaft eines Volkes ist nicht teilbar.
Wir sind der Auffassung, daß die bestehenden Strafbestimmungen, wenn sie nur richtig angewandt werden, ausreichen, um den Ausschreitungen zu begegnen, die von diesem Gesetzentwurf getroffen werden sollen. Mit Recht hat der Bundesgerichtshof ausgesprochen, daß ein Angriff auf die Gleichberechtigung dadurch, daß angeblichen Gruppen das Gleichsein als Mensch und Bürger aberkannt werden soll, nicht nur die Geschmähten trifft, sondern sich gegen die gemeinsame Freiheit aller richtet und dadurch strafrechtlich das Ganze gefährdet.
Es fehlt nicht an Gesetzen; aber es hat leider in Einzelfällen an Richtern gefehlt. Der verantwortlichen Richterschaft muß das Gewissen dafür geschärft werden — das sei im übrigen in diesem Zusammenhange bemerkt —, daß in Strafverfahren mit politischem Hintergrund nur der zum unbefangenen Richter berufen sein kann, der selber nicht aus seiner Vergangenheit in eigene Schuld verstrickt ist.
Kein Gesetz ist gegen Fehlanwendung sicher. Dieser Gesetzentwurf birgt jedoch in so gesteigertem Maße die Gefahr eines innenpolitischen Mißbrauchs in sich, daß die demokratische Notwendigkeit der Meinungsfreiheit uns davon zurückhalten sollte, auch nur einen Ansatz dafür zu bieten, der falschen Bestrebungen dienstbar gemacht werden könnte, die Freiheit der Meinung zu beschränken. Angesichts bedenklicher Präzedenzfälle besteht leider keine Gewähr dafür, daß sich die Rechtsprechung an die Auslegung gebunden hält, die nach einstimmiger Auffassung richtig im Ausschußbericht zum Ausdruck kommt.
Was dieser Gesetzentwurf zu schützen meint, ist der Frieden der Gemeinschaft. Darüber, daß dieser Frieden in Freiheit ein hohes Gut ist, kann es keine Meinungsverschiedenheit geben. Es ist zwar selbstverständlich, daß eine Gemeinschaft Gesetze nicht entbehren kann. Wir dürfen aber nicht Gesetze für Allheilmittel halten und nicht die Einsicht außer acht lassen, daß Gesinnungen, nicht Gesetze, die Gemeinschaft bilden.
Die uns gestellte Aufgabe ist eine Frage der politischen Gesittung. Für die Lösung dieser Aufgabe gilt es im ganzen Volke die aus freiem Willen entspringenden Kräfte guter, mitmenschlicher Gesinnung zu wecken, auch dadurch, daß wir getreu den Mahnungen von Theodor Heuss niemals den Versuchungen der Vergeßlichkeit und des Vergessenswollens nachgeben.
Dazu gehört auch, meine Damen und Herren — und das ist ein sehr wesentlicher Punkt —, offene oder versteckte Reden zu unterlassen, welche bezwecken, die Wiedergutmachung in Verruf zu bringen.
Dazu gehört, Bestrebungen zu entlarven, die das Geschehene nicht wahrhaben wollen oder Gerechtigkeit nicht mehr walten lassen wollen. Selbstverständlich ist die Wiedergutmachung nicht unfehlbar und deshalb auch der Kritik nicht entzogen. Aber daß einer — und das kann ein einzelner sein, meine sehr verehrten Damen und Herren — aus kaum verhülltem Antisemitismus durch böswillige Redereien und Anzweiflungen die ohnehin schwächliche Bereitschaft zur Wiedergutmachung untergräbt, kann schlimmer sein als eine antisemitische Rüpelei und würde doch durch dieses Gesetz nicht getroffen. Denn der Staat kann durch ein Gesetz nicht leisten, was in einem solchen Falle die gesellschaftlichen Kräfte selber tun müßten.
Und was müssen sie tun? Sie müssen den Betreffenden, den Rechtsbrecher, denjenigen, der sich in Widerspruch zu den moralischen Prinzipien der Gemeinschaft stellt, disqualifizieren. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, deren Pflege namentlich im Bereich der Wiedergutmachung sich der Bundestag, die Bundesregierung, die Länder und das ganze
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Volk mehr noch als bisher widmen sollten, die in der Vergangenheit übermächtigen Ausbrüche des Rassenwahns und der um Bemäntelungen und um Selbstmitleid nie verlegenen Menschenverachtung als eine schändliche Entwürdigung des Menschen zu erkennen.
Dieser Aufgabe kann die Gesellschaft sich nicht durch ,eine neue Strafvorschrift entledigen, die gleichsam zuständigkeitshalber der Polizei überweist, was die gesellschaftlichen Kräfte selber in die Hand nehmen müssen. Nicht durch falschverschämtes Wegsehen und Überhören, sondern durch Erziehung, durch Aufklärung, auch durch gemeinsame Empörung und durch Einstehen für den anderen und durch die Macht der wachsamen öffentlichen Meinung können die Gefahren gebannt werden, denen der Gesetzenwurf in untauglicher Weise entgegenzuwirken versucht.
Mit anderen Worten: Die ständig getätigte Anerkennung der Gleichberechtigung all e r Menschen kann allein die Grundlage einer freien Gesellschaft sein, die den dunklen Außenseiter ohne Strafgesetz einer selbstverständlichen Ächtung preisgibt.