Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion hat in dieser Sache in den letzten Wochen viel Geduld aufgebracht, und sie ist bis an die Grenze des ihr Möglichen gegangen, um Argumente, die da kamen, abzuwägen und Schlußfolgerungen aus ihnen zu ziehen. Aber jetzt sind wir wirklich des traurigen und für Berlin gefährlichen Spieles müde. So viel Ränke und so viel Wankelmut in einer nationalen Frage von allererster Ordnung hätten wir nicht für möglich gehalten.
Wie war Glas denn im Oktober 1958? Ziehen Sie den Arbeitsplan des Deutschen Bundestages aus Ihrer Tasche! Da steht es seit Oktober gedruckt, daß wir am 1. Juli die Bundesversammlung in Berlin haben sollen. Bei dieser Entscheidung, die eine gemeinsame Entscheidung aller Fraktionen war, ist es dann geblieben, auch als sich die politische Situation durch die Berlin-Offensive der Sowjets grundlegend veränderte.
Nach dieser Berlin-Offensive haben wir uns noch einmal in einer Formel zusammengefunden — ich glaube, sie stammt vom Präsidenten dieses Hohen Hauses --, die das Problem ganz exakt politisch definiert und die sagt: Alles, was wir mehr tun als das, was wir vor der Berlin-Offensive vorhatten, wäre in der Tat Provokation; und alles, was wir weniger tun als das, was wir vor der schlimmen Note vorhatten, wäre Kapitulation.
Wir waren uns in diesem wichtigen Punkte darin einig, daß es für uns in dieser gefährlichen Lage unseres Volkes nur eine Politik geben könne: ruhige, feste Selbstbehauptung in den Positionen, die wir haben.
Nun, und dann kam die Arbeit von einer gewissen Seite. Da wurde zuerst ein Schlag gegen Berlin in der Frage des Stimmrechts geführt. Ich erwähne das nur, weil es zum Tableau gehört. Dann kam das Intrigenspiel um den Tagungsort. In der ersten Phase des Intrigenspiels hieß es, die Westmächte wünschten nicht, daß wir nach Berlin gingen. Tatsächlich war es so: von der Bundesregierung wurde den westlichen Außenministern die Suggestivfrage gestellt: Sehr geehrte Herren Außenminister, denken Sie doch einmal nach, haben Sie wirklich keine Bedenken, daß wir nach Berlin gehen?
— Sehr verehrter Kollege Krone, dazu Willy Brandt, heute morgen in der Zeitung nachzulesen:
Mitglieder der Bundesregierung haben behauptet, die Westmächte hätten sich gegen die Einberufung der Bundesversammlung nach Berlin gewandt. Ich habe mich in Genf vom Gegenteil überzeugt.
Deutscher Búndestag — 3. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Juni 1959 4239
Dr. Mommer
In der zweiten Phase kamen die finsteren Meldungen über schreckliche Blockadedrohungen gegen Berlin, und in einer dritten Phase zum vorigen Wochenende kam das Schwarze-Peter-Argument — so will ich es einmal nennen —, das besagt, daß, wenn wir jetzt den Beschluß fassen, nach Berlin zu gehen, ,die Russen uns die Schuld an etwaigen Schwierigkeiten oder am Scheitern der Genfer Konferenz zuschreiben. Nun, wir haben journalistische Beobachter in Genf. Ich habe gestern dort Erkundigungen eingeholt. Diese Beobachter haben gesagt: Das ist eine typische Bonner Spinnerei und eine völlige Überschätzung
— eine völlige Überschätzung der Bedeutung dieser Entscheidung für die Genfer Konferenz.
Außerdem haben wir am Montag die gemeinsame Sitzung der beiden Ausschüsse gehabt. In dieser Ausschußsitzung spielte ja dieses Argument des Schwarzen Peter eine Rolle. Obschon dieses Argument in seinem ganzen Gewicht schon vorhanden war, hat der Ausschuß einstimmig bei zwei Stimmenthaltungen beschlossen, die Vorlage, die Sie kennen, einzubringen. Sie, Herr Rasner, haben allerdings bei der Abstimmung gefehlt, was Ihnen sicher das Manövrieren in den letzten Tagen erleichtert hat.
Gestern kam dann eine neue Phase; gestern kam die Einschaltung der Sowjets. Gromyko sagte, das sei eine Provokation. Seit wann, meine Damen und Herren, ist diese Bundesregierung, ist diese Fraktion dadurch zu beeindrucken, daß der sowjetische Außenminister sagt, irgendein Verhalten unsererseits sei eine Provokation?
Sie haben dieses Argument nicht angenommen, als es um ganz andere Entschlüsse hier in diesem Hause ging,
um atomare Bewaffnung und dergleichen mehr!
Die Existenz des freien Berlins als solche ist eine Provokation für die Sowjets, wenn wir ihre Noten lesen. Dann sollten wir uns nicht scheuen, sollten nicht das Argument annehmen, daß es eine Provokation sei, wenn wir der Tradition und dem Recht folgend, die Bundesversammlung wie schon einmal in Berlin zusammentreten lassen.
Das Schwarze-Peter-Argument ist gestern mit diesem Provokationsargument von Herrn Gromyko wieder aufgewertet worden, und es ist jetzt in der Argumentation von Herrn Rasner zum Hauptpunkt geworden. Wir dürfen, so wird gesagt, die Entscheidung heute und hier nicht fällen, weil dann in Genf etwas Schlimmes passiert, weil man dann sagt: Diese böse Bundesrepublik ist schuld an allen Übeln in Europa.
Das ist ein trauriges Argument, und ich wiederhole: wir haben dieses Argument am Montag erledigt, als wir einstimmig für die Entschließung stimmten, die heute auf der Tagesordnung steht.
Eine letzte Bemerkung! Die Lage wird am nächsten Dienstag nicht anders sein als heute. Wenn Sie Ihr Argument sehr ernst nehmen, müssen Sie am Dienstag wieder mit diesem Argument kommen und wieder sagen, daß wir ja nicht entscheiden können. So kommen wir langsam über den 1. Juli hinweg und sind nicht in Berlin gewesen.
Jetzt aber Schluß mit diesem frivolen Spiel! Was meinen Sie, was die Leute draußen darüber denken!
Ein Angestellter des Hauses sagte mir heute, die Abgeordneten müßten einmal mit der Straßenbahn fahren; dann bekämen sie einen Eindruck davon, was man draußen über dieses Trauerspiel denkt.
Die Entscheidung heute kommt nicht vier Tage zu früh, sie kommt vier Wochen zu spät,
und es ist schlimm genug, daß wir das Gift des Zweifels, der Furcht und des Finassierens, das da von einer bestimmten Stelle ausgespritzt wird, solange haben wirken lassen. Heute muß hier entschieden werden.