Rede von
Dr.
Karl
Atzenroth
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine Damen und Herren! Die heutige Vorlage trägt die Überschrift „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung". Der Herr Minister hat in seinen einführenden Worten davon gesprochen, daß wir in einen neuen Abschnitt der Sozialversicherung eingetreten seien. Dieser Hinweis rechtfertigt es, sich mit einigen Grundsatzfragen zu befassen.
Im Gegensatz zur Sozialdemokratischen Partei sind wir, Herr Minister, gemeinsam mit Ihrer Partei gegen die Ausdehnung des Versorgungsstaates. Wir wenden uns gegen das Prinzip des Zwangs, das von dem Versorgungsstaat auch im Falle der Unfallversicherung nicht zu trennen ist.
— Entschädigung eines Wegeunfalles ist Versorgung, Herr Professor Schellenberg! Das dürfte doch wohl richtig sein.
Wir wollen den einzelnen veranlassen und ihm die Freiheit geben, im Kampf gegen die Wechselfälle des Lebens individuell und dadurch besser für sich zu sorgen. Sie, Herr Minister, haben für eine solche Grundsatzauffassung in letzter Zeit gute Worte gefunden. Aber immer wieder müssen wir hier auf das Mißverhältnis zwischen Worten und Taten hinweisen. Zusammen mit dem heutigen Gesetzentwurf werden zur Zeit in Ihrem Ministerium drei Gesetzenwürfe bearbeitet — mindestens drei —, in denen das von Ihnen verkündete Prinzip nicht beachtet wird. Was nützen da die schönen Worte? Ich gebe zu, daß, wie Professor Röpke es einmal ausgedrückt hat, der Wohlfahrtsstaat sich durch sein eigenes Schwergewicht fortbewegt und daß es sehr schwer ist, ihm die nötigen Bremsen anzulegen. Aber wer sollte das tun, wenn nicht Sie als der Sozialminister, der hier im Hause über die erforderliche Mehrheit für die Verabschiedung der notwendigen Gesetze verfügt?
Unsere fast flehentliche Bitte, Herr Minister, geht an Sie: Stehen Sie zu Ihren Worten! Retten Sie uns vor den Gefahren, in die wir immer stärker geraten! Sie würden damit wesentlich sozialer handeln als die Demagogen, die den Massen Paradiese versprechen, die sie niemals schaffen können.
Ich komme jetzt zu Ihrer Bemerkung, Herr Professor Schellenberg. Die Unfallversicherung war ursprünglich eine Ablösung der Unternehmerhaftpflicht auf genossenschaftlicher Basis. Damit war sie eine Angelegenheit der Unternehmer, die auch alle Kosten aufzubringen hatten. Einen Staatszuschuß hat es niemals gegeben. Dieses System hat sich außerordentlich bewährt; auch der Herr Minister hat das heute bestätigt. Es hat in vielen Jahrzehnten keine ernsthaften Klagen über die Versorgung der Unfallgeschädigten gegeben. Aber schon im „Dritten Reich" ist dieses System durchbrochen worden, und in der Folgezeit hat die Unfallversicherung allmählich ein anderes Gesicht erhalten. Wenn Sie jetzt an die grundsätzliche Neuregelung herangehen, müssen Sie entweder den alten Grundsatz beachten oder einen völlig neuen Weg beschreiten. Die Einbeziehung der Wegeunfälle und die paritätische Besetzung der Organe der Berufsgenossenschaften haben schon den Grundsatz der Ablösung der Unternehmerhaftpflicht durchbrochen.