Rede von
Dr.
Adolf
Arndt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Aber Herr Kliesing, es handelt sich doch um den grundsätzlichen Beschluß. Dieser grundsätzliche Beschluß stand doch mit der Reise des Herrn Strauß nach den Vereinigten Staaten und seinem Ankauf von Matadoren als einer Mehrzweckwaffe fest, die sich — ich weiß keinen richtigen Ausdruck; „militärisch sinnvoll" kann man nicht sagen — militärisch wirkungsvoll nur einsetzen, verbrauchen läßt, wenn man sie mit einem atomaren Sprengkopf ausrüstet, sowie mit dem Entschluß, die Deutschen daran auszubilden. Das ist doch der entscheidende Entschluß.
Das ist doch das Prinzip der Umrüstung. Daß die Umrüstung natürlich eine Weile dauert, ist selbstverständlich.
Im übrigen: 18 Monate sind keine lange Zeit. Aber ich hoffe, daß für uns diese 18 Monate ausreichen, der atomaren Ausrüstung den hinreichenden Widerstand entgegenzusetzen.
Aber der Entschluß ist doch gefaßt worden, und dieser Entschluß zur atomaren Ausrüstung der Bundeswehr ist nicht nach zwei oder drei Jahren gefaßt worden, sondern er ist noch im Herbst vorigen Jahres gefaßt worden, als die Bundesregierung Herrn Strauß ermächtigt hat, solche — —
— Wahrscheinlich schon vor der Wahl. Aber ich will einmal annehmen, es sei erst nach der Wahl geschehen. Dann ist es um Wochen gegangen. Wenige Wochen nach der Wahl hat man, ohne daß sich irgendeine entscheidende außenpolitische Tatsache ergeben hätte, im Schoße der Bundesregierung diesen Beschluß gefaßt. Und Sie, die Sie heute so tun, als ob unser Gesetz über die Volksbefragung die Rechte des Parlaments antaste, — wo waren Sie denn damals? Warum haben Sie denn niemals gesagt, daß die Bundesregierung keinen Entschluß fassen dürfe, ohne vorher die Meinung des Parlaments klar festgestellt zu haben?
Man hat dabei nicht parlamentarisch gearbeitet, sondern erst hat die Bundesregierung entschieden, und dann kam Herr Strauß und sagte: Anfang April — ich weiß nicht, ob es der 3. oder der 6. April war — muß die Bewilligung vom Bundestage da sein. Und dann haben Sie nachträglich eine funktionale Mehrheit gebildet, um das zu bestätigen,
eine Mehrheit durch Akklamation, ja man könnte fast sagen, eine plebiszitäre Mehrheit. Wenn ich Herrn Thielicke zitieren soll, — der würde das eine Mehrheit der Funktionierer nennen.
Es ist so viel vom Rechtsstaat gesprochen worden. Aber ich glaube nicht, daß das, was man hier über den Rechtsstaat gesagt hat, diesem Ideal und dieser Notwendigkeit, zu der wir Sozialdemokraten uns mit allen Kräften unseres Herzens bekennen, gerecht geworden ist. Denn der Rechtsstaat besteht nicht in einem Legalismus. Der Rechtsstaat besteht in etwas ganz anderem. Er besteht in der Einigkeit eines Volkes über seine Voraussetzungen, in der Einigkeit darüber, daß die Würde des Menschen, der Glaube, das Gewissen, die Freiheit der Rede, das Leben, die Freiheit der Person und vieles andere nicht der Willkür einer Mehrheitsentscheidung, und sei sie eine parlamentarische Mehrheitsentscheidung, ausgeliefert werden können. Das ist die Substanz des Rechtsstaatlichen, dieses Einigsein.
Nun gibt es natürlich im Laufe der Politik — wir Deutschen sind damit geschlagen, und ich weiß, daß Sie es damit auch nicht leicht haben — Existenzfragen, die auch sich weitgehend einer Mehrheitsentscheidung oder gar einer Mehrheitswillkür entziehen und die sich ohne die Einigkeit der Nation nicht regeln lassen. Solche Fragen treten bei ande-
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 26. Sitzung, Bonn, Freitag, den 25. April 1958 1495
Dr. Arndt
ren Staaten und Völkern während eines Krieges auf. Bei uns treten sie leider Gottes seit 1945 fortgesetzt auf, fortgesetzt deshalb — ich sage das ganz objektiv —, weil manche von Ihnen meinen, eine Politik, wie die Sozialdemokratie sie befürwortet, würde an die Wurzeln der Existenz gehen, und weil wir glauben, daß Ihre Politik an die Wurzeln der Existenz geht. Das sind sehr schwere Fragen. Wir müssen uns sehr redlich und sehr ehrlich darüber klar sein.
Aber wir haben die Beispiele sehr vieler anderer gewachsener Demokratien, wie diese dann verfahren, rechtsstaatlich verfahren; denn der Rechtsstaat ist kein Formelkram und der Rechtsstaat ist kein Legalismus, sondern der Rechtsstaat besteht auf dem Fundament, daß es ohne die Einigkeit einer Nation in den entscheidenden Lebensfragen ein staatliches Zusammenleben nicht gibt.
Da verfahren die anderen Staaten so, daß sie dann das Äußerste an Kraftanstrengung tun, um diese Einigkeit, diese Gemeinschaftlichkeit herzustellen. Wir sehen es rein äußerlich darin, daß z. B. in England, wenn Krieg ist, Kabinette, allparteienmäßig, aus der größten Koalition gebildet werden; dann sitzt mit einem Male Churchill neben Attlee im Kabinett. Wir sehen das in anderen Staaten auch. Das ist die Anstrengung, die man in Rechtsstaaten macht, um zur Einigkeit zu kommen, eine Anstrengung, von der man hier seit 1949 nicht das mindeste gespürt hat.
Als Sie den verhängnisvollen Entschluß faßten, am 25. März der Bundesregierung, sagen wir einmal, die politische Ermächtigung zu geben: „Mach du nur mit den modernsten Waffen, wie immer es dir richtig dünkt!",
da haben wir noch einen äußersten Versuch unternommen, an dem wir noch festhalten; wir haben gesagt: jetzt ist es soweit, daß ein nationaler Notstand droht. Das ist nicht etwa ein Wort, das nur in Deutschland politisches Gewicht hat und in dieser Zeit gefallen ist, sondern fast zur gleichen Zeit hat ein Mann, den Sie doch auch ernstnehmen sollten, nämlich der britische Oppositionsführer Hugh Gaitskell, gesagt, die deutsche atomare Ausrüstung bedeutet die unmittelbare Gefahr eines dritten Weltkrieges.
Soll man da nicht sagen: hier ist ein Notstand, hier muß alles geschehen, damit wir uns zusammenfinden? Da haben wir etwas angeboten, was wahrscheinlich in unseren Reihen sehr unpopulär ist: Wir sind bereit, eine Bundesregierung zu unterstützen, jetzt mitten drin — sehen Sie, Herr Majonica, so schlechte Verlierer sind wir, daß wir das im Jahre 1958 anbieten! —, bei der selbstverständlich die CDU als die stärkste Partei und als die
alleinige Mehrheitspartei sogar den Kanzler benennen könnte. Es geht uns nur um die Sache, damit wir diese Gefahr bewältigen.
Wir haben sogar gesagt, es komme uns nicht einmal auf die Beteiligung an der Regierung an, sondern wir seien bereit, sie zu unterstützen, wenn sie nur den äußersten Versuch unternehme, die furchtbare Geißel der atomaren Bewaffnung von Deutschland abzuwenden. Das ist unser Versuch, das ist das Rechtsstaatliche. Und wer den Boden des Rechtsstaates verlassen hat — weil Sie glauben, der Legalismus erlaube die Parlamentswillkür dessen, der die größere Zahl hat —, das sind Sie in diesem Falle!
Hier ist soviel von den Kompetenzen gesprochen worden. Es ist gesagt worden, daß man die Rechte des Bundestages schmälern wolle. Meine Damen und Herren, wer spricht denn hier dem Bundestag eine Kompetenz ab? Wer verweigert denn hier dem Bundestag ein Recht? Doch nicht wir, sondern Sie! Denn was wir verlangen oder was wir beantragen, ist, daß der Bundestag das Volk befragt. Das hat doch mit plebliszitärer Demokratie überhaupt nichts zu tun, weil dabei das Volk die eigene Initiative hätte.
Der Bundestag soll und darf nicht, nachdem Sie durch die Verfälschung des Wahlkampfes 1957 und durch Ihren Beschluß über die atomare Bewaffnung diese Lage herbeigeführt haben, an dem Volk vorbeigehen. Der Bundestag hat kraft seiner Kompetenz zur Regelung der auswärtigen Politik, der Verteidigung usw. nach jeder verfassungsstaatlichen Theorie die Mittel, sich die erforderliche Unterrichtung zu beschaffen, auch über das, was die Bevölkerung denkt.
Herr Jaeger hat uns hier aus Giacometti vorgelesen. Er hat sehr schnell gelesen, so daß manche von Ihnen vielleicht nicht gemerkt haben, daß der Schweizer Staatsrechtler Giacometti davon spricht, daß die Behörden keine Volksbefragung veranstalten dürfen, weil das eine Umgehung der Schweizer Unionsverfassung sei. Ich wünschte, daß Sie sich das merkten; dann würden Sie nämlich weder Herrn Lindrath noch anderen Bundesministern Gelder für demoskopische Umfragen bewilligen. Dann würden wir sehen, ob Sie bei der Stange bleiben oder sagen: Recht ist das, was wir gerade für opportun halten.
Die Behörden haben kein Recht, Volksumfragen zu veranstalten, auch nicht mit Hilfe — —
— In Frankfurt ist ein demokratischer Beschluß
einer Gemeindevertretung gefaßt worden! Die Stadt
1496 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 26. Sitzung, Bonn, Freitag, den 25. April 1958
Dr. Arndt
Frankfurt ist keine Behörde! Soll ich Ihnen denn die einfachsten Abc-Begriffe erklären?!
Behörden haben kein Recht, demoskopische Umfragen zu veranstalten. Wenn Sie die amerikanische Staatsrechtslehre kennten, würden Sie wissen, daß der Kongreß sich mit aller Entschiedenheit verbeten hat, daß das State Department demoskopische Umfragen — sei es selbst, sei es durch das Gallup-oder ähnliche Institute — veranstaltet. Das, was hier seitens der Bundesregierung seit Jahren geschieht — und der sogenannte Vizekanzler Blücher hat mal eine im Bulletin wiedergegebene Rede über die Bedeutung der demoskopischen Umfragen, für die die Bundesregierung sehr viel Steuergelder ausgibt, gehalten —, das ist allerdings verfassungswidrig, denn das sollte in einer Demokratie nicht vorkommen.
Aber der Bundestag hat das Recht, durch ein Gesetz eine Volksbefragung vorzuschreiben in einer Frage, in der er die Entscheidungsmacht hat, die ihm keiner von uns abspricht. Da lesen Sie einmal die, ich muß schon sagen, meisterlichen Ausführungen von Carlo Schmid, die er in nur fünf Minuten in der vorigen Sitzungswoche gemacht hat. Keiner von uns spricht dem Bundestag das Entscheidungsrecht ab. Aber er hat das Recht, in einer Frage, in der er die Entscheidungsmöglichkeit hat, auch alles zu seiner Unterrichtung zu tun. Dazu kann auch gehören, daß er in einer geregelten Weise auf das Volk hört und fragt, wie denn nun dessen Meinungen sind.
Ich komme damit auf etwas ganz anderes: vom Rechtsstaat zur Demokratie. Demokratie läßt sich sehr einfach erklären als die Selbstbestimmung mündiger Menschen. Es ist die Aufgabe einer jeden Demokratie, für die bestmögliche Verwirklichung dieser Selbstbestimmung mündiger Menschen zu sorgen. Darin beruht, wie der Schweizer Staatsrechtslehrer Kaegi sagt, die Würde der Demokratie, weil sie an die Würde des Menschen appelliert und ihm die Selbstbestimmung oder die Teilhabe an der Selbstbestimmung auch in den schwierigsten Fragen gibt. Wenn ich jetzt aber höre, wie Herr Dr. Jaeger sagt, wenn er demagogische Fragen stelle — er hat gleich eine ganze Leporelloliste aufgezählt: „Wollt ihr" — „den totalen Krieg" hat er nicht gesagt —, „daß die Bundesrepublik sowjetisches Aufmarschgebiet wird?" und ähnliches mehr —, dann könne er von dem deutschen Volke jede Antwort bekommen, die er wolle; ja, meine Damen und Herren, was für eine Menschenverachtung liegt in solchen Ausführungen eines Bundestagsvizepräsidenten!
Man kann nicht jede Antwort bekommen.
— Das Volk hat gar nicht über atomare Bewaffnung entschieden.
Das ist doch eine der größten Unwahrheiten in der deutschen Geschichte.
Es geht also bei der Demokratie um die Selbstbestimmung mündiger Menschen und um die bestmögliche Verwirklichung dieser Selbstbestimmung und dieser Teilhabe an der Selbstbestimmung. Das hört aber nicht etwa in der Weise auf, daß nun der Wähler zwischen den Wahlen in den Ruhestand tritt. Manchmal scheint es so zu sein, daß bei einigen von Ihnen das Beamtendenken noch über das Verfassungsrecht, manchmal sogar über die Bibel noch hinausgeht. Der Wähler tritt nicht in den Ruhestand. Wenn etwas den innersten Kern des Demokratischen verletzt, dann ist das ein Satz, den Sie, Herr Dr. Barzel, kürzlich, am 20. April, in der „Welt" veröffentlicht haben und auf den im Untergrund die ganzen Reden gestimmt waren. Dieser Satz heißt:
In unserem Grundgesetz ist ganz klar zum Ausdruck gebracht, daß sich die Willensbildung des Volkes darauf beschränkt, in freien und geheimen Wahlen die Abgeordneten für das Parlament zu wählen.
Nein! sage ich Ihnen.
— Nein! Die Willensbildung des Volkes hört nicht einen Tag auf.
Die Willensbildung, die Meinungsbildung ist ein
unaufhörlicher Prozeß, durch den das Volk zu sich
selber kommt, durch den es seinen Staat integriert.
Das vollzieht sich unentwegt und vollzieht sich auch als Bildung der öffentlichen Meinung.
Worum es bei der Volksbefragung geht, ist, eine gesetzlich zuverlässige Kenntnis davon zu bekommen, was die öffentliche Meinung in Deutschland wirklich über die Atomausrüstung denkt, wie sie sich gebildet hat.
Das ist eine legitime und eine berechtigte Frage und auch eine Frage, die in gar keiner Weise demagogisch ist. Das deutsche Volk weiß: es ist nicht etwa eine sozialdemokratische Aktion, daß auf einmal überall in den Städten und Dörfern die Menschen kommen und sagen:
Wir wollen jetzt dazu auch gehört werden! Es geht doch dabei um ihre Haut, um ihre Knochen, um ihre Kinder und um die ungeborene Generation!
Weder der Prozeß der Willensbildung noch der Prozeß der Meinungsbildung können in einer Demo-
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 26. Sitzung, Bonn, Freitag, den 25. April 1958 1497
Dr. Arndt
kratie auch nur einen Augenblick dergestalt aufhören, daß der Wähler zugunsten der Abgeordneten abdankt. Was Sie meinen und worauf ich noch in anderem Zusammenhang antworten werde,
ist etwas anderes.
Und nun komme ich zu einem anderen Wort von Herrn Dr. Barzel, einem sehr gefährlichen Wort und einem sehr falschen Wort. Er hat gesagt, das deutsche Volk sei hier im Bundestag präsent. Als ob die anderen aufgehört hätten, deutsches Volk zu sein!
Und als ob wir souverän wären! Wir sind aber nicht souverän.
Das deutsche Volk wird hier, soweit es im Westen wahlfähig und wahlberechtigt ist, im Bundestag von uns re-präsentiert.
Das ist etwas ganz anderes, als daß es hier präsent sei.
— Nein, wir sind Bevollmächtigte im Sinne von Treuhändern. Wir sind solche, von denen das Grundgesetz sagt, daß wir ein Amt haben. Wir stehen in einem Dienst. Es ist nicht so, daß Demokratie darin bestünde, eine kommissarische Diktatur auf Zeit einzurichten:
das seien vier Jahre, in denen jetzt, was auch immer, gemacht werden könnte.
— Nein, das wissen Sie nicht, Sie haben keine Ahnung von Demokratie, Herr Schütz.
Das Parlament kann nicht tun, was es will.