Herr Kollege Mende, Sie haben völlig recht.
Diese Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone zeigt uns die Dringlichkeit einer Lösung der deutschen Frage mit ganz besonderer Deutlichkeit. Selbstverständlich muß man mit allen sprechen, mit denen man darüber sprechen kann. Aber gerade diese Vorgänge zeigen doch, daß sich die Sowjetunion leider Gottes für ein echtes Gespräch über diese Dinge nicht zur Verfügung stellt, daß sie vielmehr gegenteilig handelt und Situationen schafft, die den Weg zu einer verständigen Lösung eben nicht verbessern können.
Ich habe gesagt, daß dieser Kampf, der sich gegenwärtig in der sowjetischen Besatzungszone vollzieht, auf der Grundlage systematischer Bedrückung
und Verächtlichmachung der Religion und der Kirchen beginnt. Daß die Kirchen als Gehilfen des „NATO-Imperialismus" oder des „kriegslüsternen Imperialismus" hingestellt werden, ist ohnehin drüben ein vertrauter Wortschatz. Auch das ist dabei kennzeichnend, daß Ende Dezember das „Neue Deutschland" es für notwendig hielt, Verlautbarungen wie „Rerum novarum" und „Quadragesimo anno" der Bevölkerung als eine „Ausbeuteordnung mit päpstlichem Segen" darzustellen. Ich lasse es bei diesen kurzen Hinweisen. Ich sage es nur, um deutlich zu machen, mit welchem Geist tatsächlich in der sogenannten DDR dieser negative Beitrag zur Entspannung in unserem eigenen Lande geleistet wird.
Natürlich ist das wichtigste Instrument in diesem Kampf gegenwärtig die sogenannte Jugendweihe. Man kann das, was sich auf diesem Gebiet jetzt drüben vollzieht, gar nicht ernst genug einschätzen. Die Jugendweihen werden in der sogenannten DDR systematisch zu einem integrierenden Bestandteil der kommunistischen Erziehung gemacht. Dabei ist der Gelöbnistext gar nicht allein entscheidend. Es ist auch nicht entscheidend, daß die Jugendweihe noch nicht zu einer staatlich-obligatorischen Einrichtung gemacht worden ist. In einem totalitären System genügt es bekanntlich, wenn die totalitäre Staatspartei den Willen hat, etwas wirksam werden zu lassen, auch wenn es formal nicht Gesetz ist.
Das Entscheidende und das Verhängnisvolle in dieser Entwicklung ist, daß man die Jugend in Mitteldeutschland nun in eine völlig wesensfremde atheistische Ideologie hineinzudrängen sucht und daß man damit einen tiefen Graben weltanschaulicher Entfremdung und sogar weltanschaulicher Verfeindung mitten durch unser Land zu legen versucht.
Wenn es sich nur darum handelte, in freier Auseinandersetzung Standpunkte zu klären und die Weltanschauungen gegenüberzustellen, wäre vom Standpunkt der Toleranz aus nichts dagegen zu sagen. Aber die Wirklichkeit dort drüben ist ja wieder ganz anders. Die Wirklichkeit ist, daß die eine, die materialistische Weltanschauung sich die gesamte Macht, die gesamten Möglichkeiten des Apparats zunutze macht und daß die andere Seite mit allen Mitteln verhindert wird, in dieser Auseinandersetzung in Freiheit ihre Meinung zu sagen und aufklärend zu wirken. Ich erinnere z. B. daran, daß jetzt da drüben, um diesen Kampf durchzusetzen, die gesamte Lehrerschaft systematisch in den Dienst dieser atheistischen Jugenderziehung gestellt wird. In der „Deutschen Lehrerzeitung" wird gesagt: „Eine besondere Aufgabe haben dabei naturgemäß die Lehrer." Und dann: „Die Lehrer sind dazu besonders berufen." Auch die Elternbeiräte werden eigens dazu aufgefordert. Die Lehrer werden gezwungen, Reverse zu unterschreiben, in denen sie sich verpflichten müssen. Im Zeitalter des angeblichen Wunsches nach Entspannung, den die östliche Seite uns in so zahlreichen Erklärungen einreden will, in diesem Augenblick werden da drü-
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 233. Januar 1958 353
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ben die Eltern, wird die Lehrerschaft, werden die Kinder unter den schlimmsten Gewissenszwang gestellt. Wenn sich dann die Kirchen gegen den Gewissenszwang wenden und die Eltern auf diese Dinge aufmerksam machen, wird das einfach abgetan als ein „Bekenntnis der Gegner unseres Arbeiter- und Bauernstaates zur NATO-Politik". So also müssen sich gegenwärtig die Menschen drüben in der Zone unter dem Zeichen des Entspannungswillens mit diesem Regime, das unter dem Schutz der Sowjetunion steht, auseinandersetzen.
Es darf auch nicht übersehen werden, daß sich ein besonders massiver Kampf gegen die Geistlichkeit und gegen die Kirchen als solche richtet. Dabei wird kein Unterschied der Konfessionen und kein Unterschied des Ranges gemacht. Das geht durch das ganze Land der sogenannten DDR. Eine Zählung, die schon vor anderthalb Monaten durchgeführt worden ist, hat ergeben, daß bereits damals in der Presse der DDR über 60 Geistliche jeden Ranges — das geht vom Bischof bis herunter zum Theologiestudenten und Katecheten — diffamierend genannt worden sind. Das geschieht mit dem Willen, sie einzuschüchtern, sie in den Augen ihrer Gemeinden und der Bevölkerung überhaupt herabzusetzen. Man macht auch Sonderaktionen gegen sie. Einwohnerversammlungen, Aktivs werden zusammengerufen, müssen irgendwelche Beschlüsse fassen, denen man von vornherein ansieht, daß sie von einer zentralen Instanz für alle formuliert worden sind. Es werden Hetzschriften herausgegeben. Ich habe vor wenigen Tagen noch aus der Zone eine solche Betriebszeitung des VEB Kombinat Otto Grotewohl bekommen, in der ein Angriff gegen den evangelischen Pfarrer in Böhlen gerichtet worden ist. Meine Damen und Herren, das „Schwarze Korps" und die SS haben das nicht besser oder, wenn Sie wollen, schlechter gekonnt, als es jetzt drüben geschieht.
Das also und vieles andere vollzieht sich gegenwärtig an hemmungsloser antikirchlicher und antireligiöser Kampagne im Einflußbereich und unter dem Schutz der Sowjetunion in der sogenannten DDR. Und in diesen Hexenkessel des Religions-. und Kirchenkampfes, der Erschwerung der menschlichen Beziehungen, der allgemeinen Not und des allgemeinen Druckes sind nun die Menschen in der Zone hineingestellt und sollen sich darin zurechtfinden, sie, die damit rechnen müssen, wenn sie nicht nachgeben, daß ihnen die materiellen Existenzmöglichkeiten erschwert werden, daß ihren Kindern die berufliche Entwicklung genommen wird. Das, meine Damen und Herren, ist die Realität, das ist der Status quo, den wir anerkennen sollen, das ist der gegenwärtige Zustand in Mitteldeutschland, und das ist friedliche Koexistenz in der Praxis, wie sie uns gegenwärtig demonstriert wird.
Als Leitsatz verkündet die Sowjetunion in aller Welt ihre berühmten Prinzipien der friedlichen Koexistenz, in denen auch von Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse die Rede ist. In Mitteldeutschland aber wird die Wirklichkeit demonstriert. Wenn die Sowjetunion selber nichts dazu beigetragen haben will, daß das gerade jetzt in dieser Zeit
geschieht, dann scheint es mir um so notwendiger zu sein, darauf aufmerksam zu machen, wie es bei uns aufgenommen werden muß.
Nun noch ein Wort zu dem Weg, den uns die Sowjetunion zur Überwindung der Teilung Deutschlands vorschlägt. Sie schlägt uns ja einen Weg vor, mit derselben monotonen Wiederholung wie das Beharren auf dem Status quo: die Konföderation der beiden deutschen Staaten. Ich darf im Namen meiner Fraktion sagen, daß wir jedes Wort unterstreichen, das in der Regierungserklärung für die Ablehnung dieses Weges gesagt worden ist. Wir erkennen dankbar an, daß sich auch die Redner der einzelnen Parteien in dieser Weise geäußert haben. Ich weiß nicht, ob die Sowjetunion sich darüber im klaren ist — aber man muß es ja unterstellen -, was sie in Wirklichkeit von uns verlangt, wenn sie uns als Weg zur Wiedervereinigung die Konföderation der beiden deutschen Staaten vorschlägt. Das heißt nicht nur einfach, daß man damit den Zonenstaat anerkennt und daß man ihn völkerrechtlich sanktioniert, daß man dem Regime, das dort besteht, also völkerrechtlichen Schutz zubilligt. Sondern das würde dann auch heißen, wir stimmen de facto zu, daß dieses Regime auf unbestimmte Zeit bestehenbleibt.
Und wir würden damit hinnehmen, daß die 17 Millionen in der Zone sich weiter unter diesem System durchs Leben quälen müssen. Wenn wir das täten, würden wir im Grunde für diese 17 Millionen die politische Kapitulation aussprechen, während sie selber in einer bewundernswerten Weise immer noch und immer wieder widerstehen.
Man sagt bei der Diskussion der Frage der Wiedervereinigung immer wieder: Wir dürfen doch nicht eine Haltung einnehmen, die der Sowjetunion gewissermaßen eine Kapitulation zumutet. Natürlich hat das etwas Richtiges an sich. Aber zunächst müssen wir davon ausgehen, daß die Sowjetunion mit dem, was sie uns als Weg für die deutsche Wiedervereinigung vorschlägt, uns ganz ungeniert von ihrer Seite aus die Kapitulation zumutet.
Wenn die Welt zur Entspannung kommen soll, dann, so meine ich, kann man in unserem deutschen Bereich jedenfalls eine Entspannung nicht auf den Wegen erreichen, die uns in den offiziellen Äußerungen der Sowjetunion vorgeschlagen werden und die uns in der Praxis ihres Einflußbereichs in Mitteldeutschland vorexerziert werden. Ich vermag jedenfalls in diesem Verhalten keinen positiven sowjetischen Beitrag zur Entspannung in unserem Bereich zu erkennen.
Es wird gesagt — ich erwähnte es schon —, daß man zur Wiedervereinigung nicht kommen kann, wenn man der Sowjetunion eine Kapitulation zumute. Das sei irreal. Dabei versteht man dann unter Kapitulation ein Verlangen an die Sowjetunion, sie möge den Weg zur Wiedervereinigung durch freie Wahlen freigeben, und dann werde man hinterher weitersehen. — Man unterstellt der Regie-
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rung und den Regierungsparteien gerne — ausgesprochen und unausgesprochen —, wir seien so naiv und hätten eine solche Vorstellung von dem Weg zur Wiedervereinigung.