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ID0300904300

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    Deutscher Bundestag 9. Sitzung Bonn, den 23. Januar 1958 Inhalt: Nachruf auf den Abg. Dr. Brönner 297 A Glückwünsche zum 65. Geburtstage des Abg. Dr. Baade 297 C Begrüßung des Sonderbeauftragten des Europarates für Flüchtlingsfragen, Pierre Schneiter 321 B Erklärung der Bundesregierung In Verbindung damit: Große Anfrage der Fraktion der FDP betr. Haltung der Bundesregierung auf der NATO-Konferenz am 16. Dezember 1957 (Drucksache 82) Antrag der Fraktion der SPD betr. Bemühungen der Bundesrepublik um internationale Entspannung und Einstellung des Wettrüstens (Drucksache 54 [neu]) Dr. von Brentano, Bundesminister . . . . 297 C, 311 A 399 D Dr. Mende (FDP) 304 B, 417 D Ollenhauer (SPD) 312 C Kiesinger (CDU/CSU) 321 B Dr. Maier (Stuttgart) (FDP) 333 C Schneider (Bremerhaven) (DP) . 343 C, 414 C, 418 D Dr. Gradl (CDU/CSU) 349 C Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . . 354 C Dr. Adenauer, Bundeskanzler . 363 B, 375 D Erler (SPD) 368 D, 412 A Strauß, Bundesminister 376 A Dr. Dehler (FDP) 384 D Dr. Dr. Heinemann (SPD) . . . 401 A, 415 C Dr. Krone (CDU/CSU) 407 A Schmidt (Hamburg) (SPD) 408 B Höcherl (CDU/CSU) 408 D Cillien (CDU/CSU) 413 B Dr. Baron Manteuffel-Szoege (CDU/CSU) 415 A Dr. Furler (CDU/CSU) 416 A Dr. Mommer (SPD) 417 D Dr. Bucher (FDP) 418 B Nächste Sitzung 419 C Anlagen: Liste der beurlaubten Abgeordneten; Umdrucke 6 und 7, Schriftliche Erklärung des Abg. Dr. Atzenroth 420 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Januar 1958 297 9. Sitzung Bonn, den 23. Januar 1958 Stenographischer Bericht Beginn: 9.01 Uhr.
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    Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Baade 24. 1. Dr. Barzel 24. 2. Bazille 25. 1. Bauer (Würzburg) 31. 1. Dr. Becker (Hersfeld) 8.2. Berendsen 31. 1. Bettgenhäuser 30. 1. Blachstein 24. 1. Conrad 23. 1. Dr. Deist 24. 1. Frau Döhring (Stuttgart) 31. 1. Faller 7. 2. Felder 31. 1. Dr. Friedensburg 23. 1. Gleisner (Unna) 24. 1. Graaff 23. 1. Dr. Gülich 24. 1. Heye 31. 1. Hoogen 2. 2. Dr. Jaeger 8. 2. Dr. Jordan 23. 1. Josten 31.1. Kalbitzer 25. 1. Knobloch 23. 1. Kühn (Bonn) 27. 1. Frau Dr. Dr. h. c. Lüders 31. 1. Majonica 15. 2. Meyer (Wanne-Eickel) 24. 1. Müller-Hermann 15. 2. Paul 28. 2. Dr. Preiß 31. 1. Probst (Freiburg) 5. 2. Rademacher 25. 1. Ramms 24. 1. Rasch 24. 1. Rehs 27. 1. Ruhnke 31. 1. Scharnowski 24. 1. Scheel 24. 1. Schoettle 24. 1. Schröder (Osterode) 31. 1. Dr. Seffrin 23. 1. Dr. Serres 31. 1. Spies (Brücken) 8. 2. Stierle 31. 1. Theis 24. 1. Wacher 3. 2. Dr. Wahl 10. 2. Dr. Weber (Koblenz) 24. 1. Anlage 2 Umdruck 6 Antrag der Fraktionen der SPD, FDP zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der FDP betr. Haltung der Bundesregierung auf der NATOkonferenz am 16. Dezember 1957 (Drucksache 82) Der Bundestag wolle beschließen: Die Bundesregierung wird ersucht, mit der polnischen Regierung in Besprechungen über die Herstellung diplomatischer Beziehungen zu Polen einzutreten. Bonn, den 23. Januar 1958 Ollenhauer und Fraktion Dr. Mende und Fraktion Umdruck 7 Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, DP zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der FDP betr. Haltung der Bundesregierung auf der NATOKonferenz am 16. Dezember 1957 (Drucksache 82) Der Bundestag wolle beschließen: Die Bundesregierung wird ersucht, zur Sicherung des Friedens, zur Bewahrung der Freiheit und zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands 1. sich dafür einzusetzen, daß Verhandlungen des Westens .mit der Sowjetunion fortgesetzt und nach sorgfältiger diplomatischer Vorbereitung - gegebenenfalls durch eine Konferenz der Außenminister - in einer Konferenz auf höchster Ebene durchgeführt werden, die der Entspannung der Beziehungen zwischen Ost und West und dein Ziele der Herbeiführung der deutschen Wiedervereinigung dienen, 2. darauf hinzuwirken, daß die Verhandlungen mit der Sowjetunion über eine kontrollierte Abrüstung alsbald wieder aufgenommen werden, sei es im Rahmen der Vereinten Nationen oder auf einer Konferenz auf der Ebene der Außenminister, und daß bei der Vorbereitung dieser Verhandlungen jeder ernsthafte Vorschlag zur allgemeinen oder teilweisen Abrüstung geprüft und auf seine politischen und militärischen Folgen untersucht wird, 3. dafür Sorge zu tragen, daß bei den aufzunehmenden Verhandlungen nur solche Lösungen in Aussicht genommen werden, die nicht zu einer Anerkennung des Status quo in Europa führen, sondern geeignet sind, die deutsche Teilung zu überwinden, 4. ihre Bemühungen zur Koordinierung der Außenpolitik der westlichen Verbündeten energisch fortzusetzen. Bonn, den 23. Januar 1958 Dr. Krone und Fraktion Schneider (Bremerhaven) und Fraktion 422 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Januar 1958 Anlage 3 Schriftliche Erklärung des Abgeordneten Dr. Atzenroth zu der Abstimmung über den Umdruck 6. An der Abstimmung über den Umdruck 6, Antrag der Fraktionen der SPD, FDP zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der FDP betr. Haltung der Bundesregierung auf der NATO-Konferenz am 16. Dezember 1957 — Drucksache 82 — habe ich mich nicht beteiligt, da ich an dem Beschluß, der die Unterschrift unter den obigen Antrag zur Folge hat, nicht mitgewirkt habe.
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    Rede von Herbert Schneider


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Namens der Fraktion der Deutschen Partei möchte ich folgendes erklären.
    Ich habe gewiß keine Zensuren zu verteilen; aber ich nehme mir doch die Freiheit, zu bemerken, daß eine außenpolitische Debatte nicht zum Objekt des innenpolitischen Kampfes gemacht werden sollte, wie es leider heute morgen hier vom Vorsitzenden der FDP-Fraktion zum Teil gemacht worden ist. In Lebensfragen der Nation hört unseres Erachtens die Parteipolitik auf.

    (Sehr gut! bei der DP.)

    Darüber hinaus, meine Damen und Herren, muß vor der Öffentlichkeit auch klargestellt werden, daß die Außenpolitik nicht mit dem Rechenschieber berechnet werden kann, daß wir hier allesamt, gleichgültig, wo wir in diesem Hause sitzen, praktisch nur unsere Meinung zu den Dingen zu sagen vermögen; im übrigen ist die Außenpolitik so wandelbar, daß wir uns jeweils den Gegebenheiten anpassen müssen. Es gibt also keine Patentrezepte; und wenn wir uns hier oftmals gegenseitig — es ist heute nicht so schlimm gewesen wie in den verflossenen Debatten — einzureden versuchen, daß nur dieser oder jener Weg richtig sei, dann sollte vor aller Öffentlichkeit einmal festgestellt werden, daß es eben kein Patentrezept gibt und daß man erst an dem Tage, an dem sich gewisse Dinge entscheiden oder an dem gewisse Dinge passieren, festzustellen vermag, daß dieser oder jener recht gehabt hat.
    Wir müssen uns in der Lage, in der wir uns befinden, überhaupt fragen, ob unser politisches Tun und Handeln der Wirklichkeit in dieser Welt, in der wir uns heute befinden, immer noch voll und ganz entspricht. Die Wirklichkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist doch die, daß ganz offensichtlich völlig neue Faktoren in die weltpolitische Auseinandersetzung gekommen sind, die wir mit den alten Methoden, die schon oftmals so wenig erfolgreich gewesen sind, einfach nicht mehr zu bewältigen vermögen. Anders ausgedrückt: Die Ergebnisse der atomaren und nuklearen Forschung erfordern unseres Erachtens den Mut, sich von Betrachtungsweisen zu lösen, die gestern vielleicht noch Gültigkeit gehabt haben, für heute aber einfach nicht mehr ausreichen. Sie erfordern den Mut, sich vom rein militärpolitischen, militärtechnischen Denken zu lösen, die Politik wieder stärker in den Vordergrund zu schieben und miteinander zu sprechen, zu reden; nicht Briefe zu schreiben, in denen es dann oftmals von Unterstellungen und Verdächtigungen nur so strotzt. Ich glaube, meine Damen und Herren, das Gefühl dafür, daß der Primat der



    Schneider (Bremerhaven)

    Politik gewahrt werden muß, wenn es nicht eines Tages zu einem Zusammenstoß kommen soll, ist in weitesten Teilen nicht nur in Deutschland, sondern auch in der übrigen Welt verbreitet.
    Ich kann aus der Anerkennung dieser veränderten Situation nach Auffassung meiner Fraktion nur folgendes sagen: Es ist notwendig, endlich zu begreifen, daß nicht nur das deutsche Volk, gleichgültig, zu welchem politischen Auffassungen immer wir uns bekennen, in einem Boot sitzt, sondern daß darüber hinaus, real betrachtet, sich kein Volk dieser Welt mehr aus dem gemeinsamen Schicksal und aus der gemeinsamen Verantwortung hinwegstehlen kann.
    Deshalb spreche ich hier mit voller Absicht noch einmal von einem Gedanken, der in der Vergangenheit von allen Gutwilligen immer wieder als ein Wunschbild herausgestellt worden ist. Ich meine das Bekenntnis zu einer in den Grundauffassungen übereinstimmenden Außenpolitik. In der heutigen Debatte haben sich wieder einmal erfreuliche Ansätze dazu gezeigt. Ich darf die Frage stellen, ob wir es uns in unserer Lage überhaupt gestatten können, nicht eine gemeinsame Außenpolitik zu betreiben, die wenigstens in den Grundsätzen zwischen Regierung und Opposition übereinstimmt. Diese Forderung, meine Damen und Herren, ist aus unserer Sicht mehr als die banale Forderung: „Seid nett zueinander!" Diese Forderung bedeutet auch nicht etwa den Verzicht auf die Darlegung eigener Überzeugungen und Überlegungen, sie bedeutet auch keineswegs ein billiges Verwischen der verschiedenen Standpunkte. Sie bedeutet aber die absolute Notwendigkeit, sich in unserer Situation zu gemeinsamen Anstrengungen zusammenzufinden, um mit unseren Kräften beizutragen, das zu verhindern, was Millionen von uns bereits wieder als ein drohendes Ungewitter über ihren Köpfen spüren. Ich wage das so freimütig auszusprechen, weil ich mir darüber im klaren bin, daß Angst und Verwirrung nicht nur in unserem eigenen Volke vielfältig, sondern auch in der übrigen Welt herrschen und daß die Beseitigung dieser Unsicherheit einer der wesentlichsten Faktoren ist, wenn auch die Regierungen zu einem vernünftigen Gespräch gelangen sollen.
    In welcher Situation wir uns befinden, hat meines Erachtens ganz besonders deutlich das Erscheinen der künstlichen Monde der Russen am Welhimmel gezeigt, eine Tatsache, die nicht von allen Nationen mit Beifall begrüßt wurde, sondern die teilweise, ich möchte sagen, eine Hysterie in der Welt ausgelöst hat. Wir sind also auch gar nicht mehr frei, uns über eine großartige technische Leistung nur zu freuen, sondern an ihr wächst auch sofort der Verdacht und wächst das Mißtrauen. Auch diese Dinge gilt es abzubauen.
    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich allerdings auch mit aller Eindeutigkeit zum Ausdruck bringen, daß die Versuche der Opposition, und zwar sowohl der SPD wie der FDP — wenn ich noch mit einem kurzen Streiflicht auf die Grundzüge einer gemeinsamen Außenpolitik zurückkommen darf —,
    z. B. ausgerechnet in den Tagen der Pariser NATOKonferenz in den Landesparlamenten der Bundesrepublik außenpolitische Debatten zu entfesseln, um daraus parteipolitisches Kapital zu schlagen, die begrüßenswerten Ansätze zu einer gemeinsamen Außenpolitik leider von vornherein wieder zerstört haben. Da lobe ich mir — mit allem Respekt darf ich es sagen — die Neujahrsrede des Herrn Bundespräsidenten, die bekanntlich nicht nur in unserem Lande, sondern darüber hinaus auch in allen übrigen politischen Zentren dieser Welt große Aufmerksamkeit und weitgehende Zustimmung gefunden hat. Besonders seine ernste Warnung vor der Öffentlichkeit zwischenstaatlicher Gespräche, die immer wieder in eine Propagandapolitik ausartet, ist mit großer Aufmerksamkeit gehört worden. Seine Forderung nach Rückkehr zu einer klugen Geheimdiplomatie wurde als beachtenswerter Rat eines erfahrenen Politikers gewertet, und ich möchte für meine politischen Freunde diese Ausführungen und diese Auffassungen des Herrn Bundespräsidenten an dieser Stelle mit allem Nachdruck noch einmal unterstreichen.
    Meine Damen und Herren! Wir meinen, daß diese Worte des Herrn Bundespräsidenten im abgewandelten Sinne auch für unsere außenpolitischen Auseinandersetzungen in Westdeutschland ihre volle Bedeutung haben. Es genügt nämlich nicht, daß insbesondere die Opposition einem Satz des Herrn Bundespräsidenten wie dem „Politik ist unser Schicksal" zustimmt. Notwendig ist vielmehr, daß wir allesamt bereit sind, auch ,aus den anderen Mahnungen unseres Staatsoberhauptes die Konsequenzen zu ziehen, d. h. insgesamt gerade in unserem Lande als gespaltenes Volk in einem der Hauptbrennpunkte der großen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West endlich auf jede Propagandapolitik zu verzichten, die alle bisherigen Auseinandersetzungen immer so unfruchtbar gemacht hat.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Was hat es noch mit ernsthafter Politik zu tun — und hier wende ich mich an den Vorsitzenden der Fraktion der Freien Demokratischen Partei —, wenn in diesem Augenblick, wo es darum geht, vielleicht erste Möglichkeiten zu erfolgversprechenden Kontaktaufnahmen zu entwickeln, der Vorsitzende der FDP-Fraktion nichts Besseres zu empfehlen weiß, als nunmehr schleunigst eine Bundestagsdelegation nach Moskau zu entsenden?

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Zu einer solchen Methode, Herr Kollege Mende —in aller Freundschaft möchte ich es sagen —, muß ich erklären, daß uns die Lage als zu ernst erscheint, als daß wir versuchen dürften, mit derartigen, sagen wir einmal, Schlagzeilenvorschlägen kleine innenpolitische Augenblickserfolge zu erzielen.

    (Zurufe von der SPD.)

    Ich behaupte, meine Damen und Herren, daß weder die „Intouristen" Springer und Zehrer noch eine Bundestagsdelegation in Moskau erfahren wird, was man dort wirklich will.

    (Beifall bei der DP und der CDU/CSU.)


    Schneider (Bremerhaven)

    Wie sieht es in der Welt denn wirklich aus? Das Zusammenleben der Nationen, speziell der politisch und militärisch führenden Nationen ist trotz aller voraufgegangenen schweren Erschütterungen und der jeweils erfolgten Ernüchterung durch ein Ausmaß von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen gekennzeichnet, daß es im Augenblick oftmals schier ausweglos erscheint, ohne einen Abbau dieser Grundstimmung auch nur zu einem ersten Schritt der Verständigung zu kommen, noch dazu, wenn eine Weltmacht der anderen ständig aggressive Absichten unterstellt und letztere wiederum alle Vorschläge, die nicht von vornherein in ihr eigenes Konzept passen, als utopisch und nicht realisierbar betrachtet. Man fragt sich manchmal wirklich, ob denn die Weltmächte von allen guten Geistern — ich bitte um Verzeihung für dieses Wort — verlassen sind; aber es ist ihnen offenbar nicht mehr möglich, in dieser Lage eine andere Entwicklung als zu einem immer weiter gesteigerten Rüstungswettlauf fortzusetzen.

    (Abg. Erler: Sehr wahr!)

    Hier stimme ich — ich bekenne es: auch das gehört zu den Grundzügen einer gemeinsamen Außenpolitik in diesem Hause — den Befürchtungen des Kollegen Ollenhauer insoweit zu, als auch wir befürchten, daß bei einer Aufrüstung von sehr viel mehr Staaten mit atomaren Waffen natürlich gewisse Gefahren größer werden, als dann, wenn sich diese Waffen in Händen nur einiger führender Mächte befinden. Die waffentechnische Entwicklung speziell der letzten zehn Jahre hat natürlich — so sehr man das auch immer beklagen mag, und wir beklagen es sehr — dazu beigetragen, daß das Gleichgewicht der militärischen Kräfte wenigstens einen Zustand bewirkt hat, den wir in schöner Selbsttäuschung als „Frieden" bezeichnen, der in Wahrheit aber nichts anderes ist als — ich muß das so offen aussprechen — eine mühselig aufrechterhaltene Fiktion des wirklichen Friedens, wie ihn sich die Völker der Welt wünschen.
    Wer aber von uns stellt sich nicht täglich wieder die Frage, wann jener Funke in das Pulverfaß fällt, der dieses heute noch mühsam aufrechterhaltene Gleichgewicht in seinen Grundfesten erschüttert. Und hier beginnt auch für uns als den Teil des deutschen Volkes, der noch in Freiheit seine Auffassungen zur Weltlage äußern kann, die Verantwortung, von der uns niemand freisprechen kann. Diese Verantwortung heißt: mit allem Ernst die Situation zu durchdenken, für uns realisierbare Entschlüsse zu fassen und alles in unserer Kraft "Stehende zu tun, um besserer Einsicht und besserem Willen zum Durchbruch zu verhelfen.
    Wie kann das aussehen? Lassen Sie mich das Wort eines der größten Staatsmänner zitieren. Bismarck — wie oft ist er verkannt worden, gerade auch in den letzten zehn Jahren unserer Geschichte — erklärte 1876:
    Es ist meines Erachtens ein Irrtum, wenn öffentlich angenommen wird, der Friede könne dadurch erhalten werden, daß staatsmännische Weisheit ein Arkanum
    — ein Geheimmittel, um es mit einem deutschen Wort zu sagen —
    erfinde, während doch in der Tat seine Sicherstellung nur auf dem Wege gefunden werden kann, daß eine oder mehrere der beteiligten Mächte den anderen Konzessionen machen, indem sie entweder ihre Ansprüche oder ihr Miß- trauen herabmindern. Wenn das von keiner der beteiligten Seiten geschieht, so glaube ich nicht, daß menschliche Weisheit ein Rezept erdenken kann, welches dem schließlichen Zusammenstoß der einander widerstrebenden Kräfte vorbeugte.
    Genau an diesem Punkt stehen wir nach unserer Überzeugung heute. Ich stehe wohl außerhalb des Verdachts, vor Ihnen als Abgesandter irgendeines östlich dirigierten Weltfriedenskongresses zu sprechen. Aber wenn wir zu einem richtigen Ansatz kommen wollen, müssen wir uns der Mühe unterziehen, die Positionen und Absichten des Gegenspielers so klar wie möglich zu erkennen. Nach unserer Auffassung spielen die Machthaber in Moskau ein großes Spiel, bei dem sie in Europa zwei Ziele mit aller Konsequenz anstreben: entweder durch Aufweichung der NATO dieses Verteidigungssystem der westlichen Welt zum Einsturz zu bringen und auf diese Weise die Vereinigten Staaten von Amerika aus Europa hinauszudrängen, um dann um so leichteres Spiel mit ihren weiteren Zielen zu haben, oder in einer globalen Absprache mit den Vereinigten Staaten den augenblicklichen Zustand in Europa wenigstens für absehbare Zeit zu zementieren. Also auch hier wieder nur die Fiktion des wirklichen Friedens. Es gibt im Augenblick, meine Damen und Herren, keine Anzeichen dafür, daß Moskau bereit wäre, auf diese Pläne zu verzichten.
    Aber zu einer realistischen Analyse der Situation gehört ebenso die Erkenntnis, daß das Mißtrauen in Moskau gegenüber den Absichten und Plänen der westlichen Welt und auch der Bundesrepublik offenbar um keinen Grad geringer ist als das Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion, das die westliche Welt als stärkste Klammer heute miteinander verbindet. Der viel zitierte George Kennan hat mit vollem Recht darauf hingewiesen, in welchem Ausmaß die Sowjetunion selbst inzwischen ein Opfer ihrer eigenen jahrzehntelangen Propaganda geworden ist. Aber auch dieser Sachverhalt ist natürlich eine nicht wegzuleugnende Realität in der großen politischen Auseinandersetzung. Die Frage, die uns gestellt ist, lautet deshalb: Was kann geschehen, um dieses gegenseitige Mißtrauen abzubauen und zu Vereinbarungen zu kommen, deren Hauptfolge eine Herabminderung der Spannungen sein müßte?
    Lassen Sie mich auf diese Frage ebenfalls mit aller Deutlichkeit erklären: Der sicherste Weg zum Mißerfolg in Verhandlungen, von denen wir alle hoffen, daß sie letztlich doch zum Erfolge führen werden, ist der Selbstmord aus Angst vor dem Tode, d. h. die Kapitulation vor jeder Drohung, d. h. der Verzicht auf das notwendige Maß an Selbstschutz und Selbstbehauptungswillen und die Sucht, jeden von irgendeiner in die Debatte geworfenen



    Schneider (Bremerhaven)

    Plan ohne großes Besinnen und Nachdenken als
    einen rettenden Ausweg und als das Allheilmittel
    zu betrachten; (Beifall bei der DP)

    denn genau diese Methode verhindert das, was in dieser Situation notwendig ist: ohne Druck von irgendeiner Seite alle Pläne einer wirklich eingehenden Prüfung und Überlegung unterziehen zu können mit dem Ziel, herauszubekommen, in welcher Weise sie vielleicht doch zu einem für beide Seiten tragbaren Ergebnis führen könnten. Ich meine also ganz klar, daß es darauf ankommt, weder jeden vorgebrachten Plan vorbehaltlos aufzunehmen noch ihn ebenso vorbehaltlos als utopisch oder unrealistisch in den Papierkorb zu werfen.
    Wenn man der Überzeugung ist, daß es nicht von vornherein eine globale Lösung aller bestehenden Probleme gibt, dann müssen eben alle erkennbaren Möglichkeiten wahrgenommen werden, damit man wenigstens zu Teillösungen gelangt. Ich glaube, daß Sie dieser Auffassung zustimmen. Daß hierbei alle Gesprächspartner, natürlich in erträglichen Grenzen, zurückstecken müssen, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit.
    In diesem Zusammenhang darf ich mir erlauben, auf den viel besprochenen Plan des polnischen Außenministers Rapacki zu kommen, der eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa unter Einschluß Westdeutschlands, der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik, der Tschechoslowakei und Polens vorsieht. Es ist bekannt, meine Damen und Herren, daß dieser Plan in den verschiedenen Staaten eine unterschiedliche Aufnahme gefunden hat, und es ist notwendig, sich in dem Zusammenhang noch einmal daran zu erinnern, welche Gründe Westdeutschland bewogen, 1955 dem Schutz- und Verteidigungsbündnis der NATO beizutreten. Haben wir etwa vergessen, daß es die Politik der europäischen Verständigung und der daraus resultierende Vertrag waren, die uns unsere durch den Krieg zerschlagene politische Bewegungsfreiheit im Rahmen der Möglichkeiten eines gespaltenen Landes an der Grenzlinie zwischen Ost und West zurückgegeben haben? Damit endete allerdings jene bequeme Ara des passiven Zuschauens im Welttheater, wo andere sich um unser Schicksal und um das der Welt bekümmerten, während wir uns der Illusion hingeben konnten, wir hätten für alle Zeiten den Frieden für den westdeutschen Teilstaat gerettet. Diese Zeit des „Du, glückliche Bundesrepublik, arbeite, während andere für deinen Schutz sorgen" ist nun vorbei, und die Verantwortung steht riesengroß auch vor uns.
    Was haben wir in dieser Situation festzustellen? Doch erst einmal zwei Dinge, meine Damen und Herren. Erstens ist die Bundesrepublik Deutschland aus dem Kreise der Großmächte, die das Schicksal dieser Welt bestimmen, ausgeschieden. Man mag das beklagen; aber das ist ein reales Faktum. Zweitens hat Europa oder, besser gesagt, der noch freie Teil Europas seine Rolle als führender Kontinent auf dieser Erde zumindest vorläufig ausgespielt.
    Niemand anders als der sozialdemokratische Präsident des Bremer Senats, Wilhelm Kaisen, hat das
    vor einigen Tagen noch einmal unterstrichen, als er allen Gedanken an ein Europa als dritte Kraft zwischen den beiden großen beherrschenden Weltmächten eine deutliche Absage erteilte. Er erklärte wörtlich:
    Das Gewicht zwischen Ost und West kann sich deshalb zugunsten des Westens nur behaupten, wenn Amerika mit Europa verbunden bleibt. Wenn manchmal davon gesprochen wird, durch die Vereinigung der westeuropäischen Staaten könnte so etwas wie eine dritte Kraft zwischen Amerika und Rußland entstehen, so halte ich
    — Kaisen —
    das für wirklichkeitsfremd.
    Das heißt, daß es keinen Ausgleich mit der Sowjetunion in Europa geben darf und geben kann, als dessen Folge ein Hauptziel der sowjetischen Europapolitik verwirklicht wird, nämlich die Herausdrängung der Amerikaner aus dem Kontinent.
    Bezüglich des Rapacki-Plans hat der Herr Bundeskanzler in seiner kürzlichen Rundfunkrede die Situation klargestellt. Der Rapacki-Plan, in der vorliegenden Form verwirklicht, kann zu keinem anderen Ergebnis führen als dem Rückzug der amerikanischen Truppen aus der Bundesrepublik.
    Lassen Sie mich, meine Damen und Herren von der Opposition, an diesem Punkte die Frage stellen, in welch ganz anderer Position sich die Bundesrepublik heute befände — auch gerade bei der Diskussion über den Rapacki-Plan —, wenn nicht Sie in den vergangenen Jahren mit allen Ihren politischen Möglichkeiten die Verwirklichung des deutschen Verteidigungsbeitrags verzögert und behindert hätten.

    (Sehr wahr! bei der DP.)

    Denn es wird an diesem Punkt der Auseinandersetzungen völlig klar, von welcher Bedeutung die konventionellen Waffen in Europa werden, wenn das Problem einer atomwaffenfreien Zone ernsthaft behandelt wird.

    (Erneute Zustimmung bei der DP.)

    Und in diesem Augenblick, wo allen Einsichtigen und Sachverständigen diese Zusammenhänge klarwerden, hält es leider eines der prominentesten Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion für notwendig, sich sogar gegen die Errichtung von Raketenbasen für Luftabwehrraketen — wohlgemerkt, für Luftabwehrraketen — auszusprechen.
    Trotzdem sollte der Gedanke verfolgt werden, ob in dem Rapacki-Plan eventuell doch Ansätze vorhanden sind, die es verdienen, ergründet und weiterentwickelt zu werden. Es sollte die Frage geprüft werden, ob es möglich ist, dadurch in Mitteleuropa einen Zustand der Entspannung herbeizuführen, der einmal den Absichten und Interessen beider Weltmächte entgegenkommt und zum andern so gestaltet ist, daß er das übrige Europa doch nicht des Schutzes der Vereinigten Staaten zu berauben braucht. Der Rapacki-Plan, möge er sein, wie er will, ist jedenfalls oder sollte eine Diskussionsgrundlage sein.
    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2a. Januar 1958 347
    Schneider (Bremerhaven)

    Dabei stellt sich eine derartige Fülle von Fragen ein, die von den oftmals reichlich kritiklosen Befürwortern des Plans offenbar nicht einmal in Ansätzen überschaut werden. Eine derartige Lösungsmöglichkeit ist, um nur diesen Punkt hier anzuführen, in stärkstem Maße von der Frage abhängig, auf welche Weise die Nichteinmischung der Weltmächte in einer solchen Zone realisiert und garantiert werden kann, um zu verhindern, daß auch nur die kleinste selbständige Regung in diesem Gebiet sofort den dritten Weltkrieg auslöst. Dieser Hinweis genügt allein schon, um zu zeigen, daß wir erst am Anfang der geistigen Bewältigung der uns gestellten Aufgaben stehen.
    Die ganze Kompliziertheit der Situation wird uns aber erst deutlich, wenn wir uns fragen, auf welche Weise eine Verbindung zu dem Hauptanliegen des deutschen Volkes, nämlich der Wiedervereinigung der gespaltenen Nation, hergestellt werden kann.
    Ich kann es mir nicht versagen, an dieser Stelle auf die Äußerungen des Kollegen Professor Carlo Schmid von der SPD vor dem Straßburger Europarat zu verweisen, in denen er deutlich gemacht hat, daß auch die Opposition einsehe, daß angesichts des Berges von Problemen, deren wichtigste die Abrüstung und Entspannung sind, kein Patentrezept für die Wiedervereinigung gefunden werden kann. Er hat damit die ständigen Vorwürfe der Opposition gegen die Bundesregierung selber als unbegründet entlarvt. Wenn ich dies als einen Fortschritt auf dem Wege zu der Einsicht im gesamten I Hause werten darf, daß es in diesem Hause niemanden gibt, der die Wiedervereinigung weniger oder mehr will, dann möchte ich dies ausdrücklich begrüßen.
    Ob der vom Kollegen Schmid aufgezeigte Verzicht im übrigen bei künftigen Verhandlungen um einer schnelleren Erreichung des Ziels der Abrüstung und Entspannung willen notwendig werden wird oder nicht, vermag ich im Augenblick, ehrlich gesprochen, noch nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall bleibt es aber für alle Deutschen eine beruhigende Gewißheit, daß die Bereitschaft unserer westlichen Verbündeten, uneingeschränkt für die deutsche Wiedervereinigung einzutreten, vor aller Weltöffentlichkeit festgestellt bleibt. Dabei sollten wir selbstverständlich jene Stimmen im Ausland, die sich, aus welchen Gründen auch immer, gegen eine Wiedervereinigung ausgesprochen haben, nicht überbewerten, aber auch nicht unterschätzen. Unsere Aufgabe ist es, mehr noch als bisher deutlich zu machen, daß es keinen wirklichen Frieden in diesem Teile der Welt geben wird, solange nicht dem deutschen Volke das Recht auf Selbstbestimmung und Wiedervereinigung in Freiheit zurückgegeben worden ist.
    Wenn Herr Bulganin sich immer wieder berufen fühlt, in seinen Reden und Propagandabriefen Klage darüber zu führen, daß noch nicht alle Völker auf dieser Erde frei ihr Schicksal bestimmen könnten, dann haben gerade wir als Deutsche ein Recht, daran zu erinnern, daß es in seine Macht gegeben ist, diesen Zustand jedenfalls in Mitteleuropa für
    das deutsche Volk zu beenden. Wenn er weiter darüber klagt, daß die friedlichen Absichten der Sowjetunion gerade in der Bundesrepublik auf so viel Mißtrauen stoßen, dann muß auch an dieser Stelle wiederum erklärt werden, worauf dieses Mißtrauen des freien Teiles des deutschen Volkes zurückzuführen ist, nämlich darauf, daß die Sowjetunion nach wie vor offenbar nicht bereit ist, dem deutschen Volke im Herzen Europas das zu gewähren, worauf es Anspruch hat: das Recht auf Selbstbestimmung. Das ist ein Umstand, der hinsichtlich der Ehrlichkeit des Bemühens um Entspannung nicht schwerwiegend genug gekennzeichnet werden kann.
    So einmütig wir alle in diesem Hause dieser Feststellung zustimmen mögen, so sehr besteht auch Übereinstimmung in der Auffassung, daß es auch in dieser Frage keine Lösung geben kann, solange die eine Seite der anderen ihre Vorstellungen ohne Einschränkungen aufzuzwingen versucht. Wenn die Sowjetunion in nicht zu überbietender Starrheit auf die Forderung des deutschen Volkes nach Wiedervereinigung nur mit dem Verlangen nach Anerkenntnis der Existenz zweier deutscher Staaten und Schaffung eines Staatenbundes zwischen beiden Teilen Deutschlands antwortet, dann sei an dieser Stelle auf den Schlußabsatz der so viel geschmähten Berliner Erklärung vom 29. Juli 1957 hingewiesen, in dem Möglichkeiten angedeutet werden, die sich vom sowjetrussischen Verhalten ganz erheblich unterscheiden. So heißt es dort unter anderem — ich bitte um die Erlaubnis, Herr Präsident —:
    Bevor es zu ernstlichen Verhandlungen kommt, können die Westmächte ihre Auffassung zu allen Punkten nicht endgültig festlegen. Auch können sie nicht im voraus die Gewährung von Zugeständnissen erwägen, bei denen gegenwärtig nicht mit einem entsprechenden Entgegenkommen der sowjetischen Seite gerechnet werden kann. Wenn Verhandlungen erfolgreich sein sollen, müssen beide Seiten sie in einem Geiste der Verständigungsbereitschaft und der Beweglichkeit beginnen.
    Ich glaube, es ist notwendig, diesen Passus der Berliner Erklärung der gesamten Öffentlichkeit wieder einmal ins Gedächtnis zurückzurufen.
    Diese Hinweise genügen, so meine ich, um deutlich zu machen, vor welch einer Fülle von Problemen wir in den kommenden Monaten und — leider! — Jahren stehen werden. Sie zu bewältigen bedarf es in Wahrheit der Phantasie und der Aktivität, von der der Herr Bundeskanzler in seiner Rede vor der NATO-Konferenz am 16. Dezember vorigen Jahres in Paris gesprochen hat.
    Ich möchte aber die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, ohne an dieser Stelle unserer großen Befriedigung auch darüber Ausdruck zu geben, daß die NATO speziell durch die Rolle des deutschen Regierungschefs auf der Pariser Konferenz einen starken politischen Akzent erhalten hat. Das ist eine Entwicklung, die wir, so glaube ich, alle nur begrüßen können und von der wir wünschen, daß sie sich fortsetzen möge. Ist es doch gerade die Festig-



    Schneider (Bremerhaven)

    keit im Grundsätzlichen und die Wandelbarkeit und Geschmeidigkeit in den Methoden, die bei der heutigen schwierigen Weltlage allein zu Erfolgen führen kann. Nicht nur wir, sondern wohl die ganze Welt spürt, daß ein Denken allein in militärischen Vorstellungen nicht mehr ausreicht, um der Probleme Herr zu werden, vor denen wir stehen.
    Dabei sollten wir uns daran erinnern, daß Europas Gedanken, seine Intuition und seine schöpferische Kraft zu allen Zeiten sein kostbarstes Geschenk an die Welt gewesen sind. Wenn eines nicht zu diesem alten Kontinent gehört, so ist es ein Maginot-Geist des Denkens.
    In diesem Zusammenhang begrüßen es meine Freunde auch, daß auf der NATO-Konferenz in Paris ernsthafte Überlegungen angestellt worden sind, auf welche Weise es gelingen kann, die Absichten der freiheitlichen Welt gegenüber den sogenannten neutralen und nichtgebundenen Staaten deutlicher und verständlicher als bisher zu machen. Das gilt auch für die deutsche Politik, Ich habe bereits in meiner Antwort auf die Regierungserklärung von diesem Platze aus Anfang November vorigen Jahres darauf hingewiesen, von welcher Bedeutung es für uns ist, die Unterstützung der nichtgebundenen Nationen für die Erreichung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes zu gewinnen. Dank an alle, die in dieser Frage in der Vergangenheit Verständnis für unsere Sorgen bewiesen haben.
    Vor einigen Tagen haben nun acht afrikanische und europäische Länder in London eine Stiftung für gegenseitigen Beistand in Mittelafrika angekündigt. Wir haben meines Erachtens alle Veranlassung, solche Pläne mit großer Befriedigung zur Kenntnis zu nehmen, sollten gleichzeitig aber auch der Erwartung Ausdruck geben, daß die westliche Welt in einem viel größeren Umfange als bisher den nichtgebundenen Staaten und ihren Sorgen Verständnis entgegenbringt und ihnen wirkliche Hilfe anbietet, aber keine Almosen. Auf diesem Gebiet darf der Sowjetunion nicht das Feld allein überlassen werden, wenn es gelingen soll, im Zusammenwirken aller Kräfte zu einem wirklich friedlichen Ausgleich in der Welt zu kommen.
    Was ich hier an Aufgaben für die westliche Welt gegenüber den Menschen der sogenannten nichtgebundenen Staaten aufgeführt habe, gilt aber nach Auffassung meiner Freunde in verstärktem Maße auch für unser eigenes Volk. Herr Ollenhauer hat noch kürzlich wieder davon gesprochen, daß der geistigen und sozialen Aufrüstung der Vorrang vor der Wiederherstellung der Verteidigungsbereitschaft gebühre.
    Lassen Sie mich hier die Frage stellen, was denn nun in den vergangenen Jahren wirklich für diese geistige Aufrüstung in unserem Volke geschehen ist. Der Herr Bundeskanzler hat noch kürzlich von der Verwirrung gesprochen, die weite Teile unseres Volkes erfaßt hat. Für uns bedeutet dieser Zustand keine Überraschung. Ich habe vorher schon davon gesprochen, daß wir alle uns daran gewöhnen müssen, wieder selber die Verantwortung für unser Geschick in die Hand zu nehmen. Der Platz in der Loge, von dem aus man als mehr oder weniger unbeteiligter Zuschauer das Weltgeschehen beobachten konnte, ist inzwischen zu einem Platz inmitten der Arena geworden.
    Haben wir — das ist die Verantwortung aller in diesem Hause — unsere Bevölkerung auf diese Situation vorbereitet? Haben wir alles getan, deutlich zu machen, daß Freiheit und Sicherheit, insbesondere auch materielle Sicherheit, keine Geschenke sind, sondern einen Preis erfordern, der immer wieder von neuem gezahlt werden muß? Es wird heute wohl niemand in diesem Hohen Hause bestreiten, daß in dieser Beziehung in den vergangenen Jahren große Versäumnisse begangen und schwere Fehler gemacht worden sind. Im Gegenteil, ich hoffe, daß endlich Einmütigkeit darüber besteht, daß die wichtigste politische Kraft für uns das lebendige Gefühl des ganzen Volkes für die nationale Not ist und der Wille, sie zu überwinden. Einer Lösung unserer politischen Aufgaben dient man nicht dadurch, daß man Tag für Tag immer wieder den Teufel an die Wand malt und unser Volk reif macht für jede Erpressung und Atomdrohung, die im gegebenen Augenblick den Machthabern in Moskau einfallen könnte, sondern indem man unserer Bevölkerung die feste Gewißheit gibt, daß wir die wiedergewonnene Freundschaft mit den freien Völkern dazu benutzen sollten, um all solchen Drohungen und Erpressungen mutig und geschlossen entgegenzutreten. So unabdingbar unser Wille ist, in Verhandlungen mit den Völkern des Ostens die Tür zur Verständigung zu öffnen, so klar muß es auch sein, daß unter Drohungen und Erpressungen und Verdächtigungen nicht verhandelt werden kann. Das ist keine billige Kraftmeierei, sondern die erste Voraussetzung für eine zielbewußte Politik überhaupt.
    Es schlägt jedoch dem guten Willen der Regierung und letzten Endes dem Interesse der Nation ins Gesicht, wenn unter Ausnutzung der psychologischen Situation in der Öffentlichkeit, ähnlich wie es im letzten Bundeswahlkampf geschehen ist, von seiten der Oppositionsparteien versucht wird, die Regierung von vornherein festzulegen, und insbesondere auch dem Parlament zugemutet wird, Beschlüsse zu fassen, die eindeutig nichts anderes sein können als Vorleistungen, für die Moskau keinen Heller zu zahlen braucht. Man kann nicht auf der einen Seite diplomatische Gespräche und damit Feststellungen über die wahren Absichten der Sowjetunion fordern und auf der anderen Seite, ohne diese Absichten zu kennen, der eigenen Regierung die Hände binden und sie auf Lösungen festzulegen versuchen, deren Auswirkungen für die Sicherheit der Nation unübersehbar und deren Auswirkungen für unsere Verhandlungsposition ebenfalls katastrophal sein müssen.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Meine Damen und Herren von der Opposition, die Sie hier mit Ihrem Antrag vorschlagen, freiwillig sämtliche Vorleistungen an die Sowjetunion zu gewähren, haben Sie schon festgestellt — ich frage
    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21 Januar 1958 349
    Schneider (Bremerhaven)

    Sie —, welche Gegenleistungen die Sowjetunion und ihre Partner dafür zu zahlen bereit sind?

    (Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Das wollen wir bei Verhandlungen feststellen!)

    — Sie wollen aber hier heute bereits die Vorleistung beschließen, Herr Kollege Schmid. Halten Sie es mit den Interessen unseres Landes für vereinbar, wenn Sie alle Faustpfänder für hoffentlich kommende Verhandlungen bereits heute freiwillig aus der Hand geben?

    (Zustimmung in der Mitte.)

    Glauben Sie wirklich, meine Damen und Herren von der Opposition, daß ein Friedensplan mit den Sowjets zu erreichen ist, wenn Deutschland getrennt von seinen westlichen Partnern vorgeht? Das aber bedeuten in der derzeitigen Situation die hier uns vorlegten Forderungen der sozialdemokratischen Fraktion.
    Wir wollen ja verhandeln, verhandeln und noch einmal verhandeln, aber nicht mit leeren Händen. Wollen Sie es riskieren, daß wir uns mit der freiwilligen Preisgabe aller Faustpfänder und insbesondere mit der Preisgabe der Rückenstärkung durch unsere Verbündeten eines Tages zwischen sämtliche Stühle setzen, so daß nicht mehr mit uns, sondern über uns verhandelt wird? Wenn das bislang verhindert werden konnte, dann nur, weil Regierung und Koalition weitsichtig genug waren, alle diese Vorschläge zurückzuweisen.
    Ich stehe hier nicht als Kalter Krieger. Ich habe, ') glaube ich, deutlich genug gemacht, daß wir genauso wie Sie, meine Damen und Herren, die Tür zu Verhandlungen und Besprechungen ganz weit aufzustoßen bereit sind. Aber was wir nicht wollen, ist, daß wir mit leeren Händen in diese Verhandlungen hineingehen.
    Es gibt nach unserer Auffassung nur einen Weg der Entspannung, um dem Frieden und auf diese Weise auch der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes näherzukommen, nämlich den, alles zu tun, um die Voraussetzungen für unseren Selbstschutz und unsere Sicherheit zu schaffen, und gleichzeitig keine Möglichkeit irgendwelcher Art, zu verhandeln und zu ergründen, außer acht zu lassen. Nur auf diese Weise haben wir die Möglichkeit, auch unser Gewicht in die Waagschale zu werfen und dazu beizutragen, daß eines Tages der Druck von der Welt genommen wird, der heute auf ihr lastet. Nur dieser Weg — das eine tun und das andere nicht lassen — bietet Gewähr für die Sicherheit der Nation und für die Aussicht, in Verhandlungen zum Erfolg zu kommen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Dabei wird sich Deutschland in seinem Friedenswillen von keiner anderen Nation übertreffen lassen.

    (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gradl.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Johann Baptist Gradl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mir, wie sich das für einen Neuling in diesem Hause gehört, die Darlegungen insbesondere der Herren von der Opposition sehr sorgfältig angehört. Ich habe mich auch bemüht, unbefangen zuzuhören. Dabei ist mir — das will ich gleich gestehen — eine etwas merkwürdige und sehr ausgeprägte Einseitigkeit der Betrachtungsweise aufgefallen. Kein Zweifel, in den Reden der Opposition wird der gegenwärtige Zustand zutiefst beklagt, der Status quo wird abgelehnt, die Konföderation wird abgelehnt. Niemand wird auch bestreiten, daß Sie sich bei Ihren Überlegungen von einer sehr ernsten Sorge um die deutsche Wiedervereinigung leiten lassen.
    Wenn ich mir aber Ihre eigentliche Argumentation ansehe, wenn ich beobachte, wohin Sie sich mit Ihrem oppositionellen Zorn eigentlich wenden, dann habe ich das Gefühl, daß Sie sich einen falschen Adressaten ausgesucht haben. Es sieht so aus — vielleicht merken Sie das gar nicht mehr, weil Sie schon seit einer geraumen Zeit in dieser Weise argumentieren —, als ob Sie glaubten — vielleicht glauben Sie es tatsächlich —, die Ursache dafür, daß der gegenwärtige Zustand unseres Landes anhält, liege in erster Linie in der Haltung der westlichen Politik, insbesondere in der Haltung der Bundesregierung. Ich bin der Ansicht, daß in diesem Punkt einiges zurechtgerückt werden muß. Dabei wird sich nicht vermeiden lassen, daß ich meinerseits mit einer gewissen Einseitigkeit nach dem Osten sehe. Die Sowjetunion ist ja ohnehin ein Gesprächsteilnehmer. Ich werde mich bemühen, das nicht in einer Weise zu tun, daß ich das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und unserem Land unnötig belaste. Ich werde mich bemühen — vorhin ist ein diesbezüglicher Zwischenruf gemacht worden —, nicht zu reizen.
    Ich halte es für erforderlich, daß in dieser Diskussion gegenüber der Argumentation der Opposition bestimmte Realitiäten klar dargestellt werden. Die entscheidende Realität scheint mir die Haltung zu sein, die die Sowjetunion gerade in den letzten Monaten und gerade angesichts der internationalen Diskussion eingenommen hat; ich meine ihre Sprache, ihre Handlungen, ihr Verhalten, das insbesondere in und gegenüber unserem eigenen Land.
    Wir können uns, wenn wir die Haltung der Sowjetunion beurteilen wollen, zunächst nur auf ihre eigenen Meinungsäußerungen stützen, — nicht auf das, was wir in ihre Meinungsäußerungen hineingeheimnissen, sondern nur auf das, was die Sowjetunion selbst sagt, insbesondere wenn sie das unentwegt immer wieder sagt.
    Es ist nicht leicht, sich durch die Dokumentationen, die einem die Sowjetunion zur Erkenntnis ihrer eigenen Auffassung bietet, hindurchzuarbeiten. Ich gestehe wiederum, daß ich jede Note, jedes Interview und jede Äußerung, die von der Sowjetunion kommen, nicht nur mit der notwendigen Gründlichkeit, sondern auch mit einer gewissen Befangenheit lese. Ich suche nämlich jedesmal — vielleicht denkt manch einer: das ist ein Naivling, wenn er das nach diesen vielen Jahren immer noch tut — in diesen Äußerungen nach irgendeinem lösenden Wort, nach



    Dr. Gradl
    einem Wort, von dem man sagen kann: Hier endlich werden wir in der deutschen Frage auch einmal vom Osten, von der Sowjetunion her ein Stückchen weitergebracht.
    Der Herr Kollege Ollenhauer hat heute mittag hier gesagt, von der Bundesregierung höre er immer nur ein Nein. Ich glaube, dem Sinne nach zitiere ich das richtig. Vielleicht darf ich an das Memorandum der Bundesregierung vom September 1956 zur Frage der Wiedervereinigung erinnern, das damals der Sowjetunion überreicht worden ist und in dem sich — wenn man es nur unbefangen liest — eine Fülle konkreter Darlegungen und Anregungen für ein vernünftiges Gespräch mit der Sowjetunion finden.
    Dann haben wir eben von dem Herrn Kollegen Maier das nette Wort gehört: „Er sagt nein, du sagst nein, ich sage nein; das ist doch phantasielos." Meine Damen und Herren, ich glaube, gegen unsere Seite und gegen die Bundesregierung kann man diesen Vorwurf der Phantasieslosigkeit nicht erheben.

    (Zuruf von der SPD: O doch!)

    Wenn man ihn erheben will, kann man nach allem, was wir von der Sowjetunion bisher als Beitrag zu dieser Frage bekommen haben, nur sagen. daß bei ihr Phantasielosigkeit das Wort führt.

    (Beifall in der Mitte. — Abg. Erler: Sicher!)

    Die eigentliche Enttäuschung ist, daß man in den Verlautbarungen der Sowjetunion immer wieder mit einer tatsächlich bedrückenden Monotonie wiederkehrend liest und hört: Anerkennung des Status quo, Anerkennung der bestehenden Verhältnisse. Übrigens ist das auch die Grundlage für den Rapacki-Plan.
    Der Herr Kollege Ollenhauer hat vorhin gesagt: Ja, wir wissen, die Sowjetunion wird hart verhandeln, und wir werden eben auch hart verhandeln. Sehr gut. Nur störte mich daran das Wort „wird". Denn im Grunde bewegen wir uns ja in den ganzen Jahren schon irgendwie in Verhandlungen, und die Sowjetunion zeigt dabei durch ihr Verhalten, daß sie nicht nur später einmal hart verhandeln wird, sondern daß sie in der Gegenwart sehr hart handelt. Das ist offenbar gegenwärtig ihre Form des Verhandelns. Es ist ja doch nicht Mangel an politischen Einfällen, der die Sowjetunion dazu veranlaßt, immer mit dieser Monotonie von uns die Anerkennung der bestehenden Verhältnisse zu verlangen. Sicherlich ist es auch nicht Mangel an Erkenntnisvermögen und an Einfühlung in das, was etwa auf unserer Seite hier empfunden wird. Nichts gibt es, was die Sowjetunion hindern könnte, erkennbar zu machen, daß sie bereit ist, ernsthaft über eine Öffnung wenigstens des Weges zur Wiedervereinigung zu verhandlen. Dennoch tut sie das alles nicht. Nun frage ich: Warum tut sie das nicht? Ich glaube, daß der Grund hierfür gar nicht so schwer zu erkennen ist.
    Ich nehme das Beispiel des Rapacki-Planes, der hier besonders intensiv debattiert wird. Es ist gar kein Zweifel, daß bei der isolierten Durchführung
    des Rapacki-Plans die militärische Position des
    Westens mehr betroffen würde als die des Ostens.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Ich nehme, um das zu demonstrieren, eine Erklärung, die amerikanische Deutschland-Experten in diesen Tagen abgegeben haben in einer Stellungnahme zu den Vorträgen von Mr. Kennan. In dieser Erklärung der amerikanischen Deutschland-Experten — unter denen sich eine ganze Reihe uns allen bekanter Männer befindet, von denen wir wissen, daß für sie auch die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands ein sehr ernstes Anliegen ist — heißt es — ich darf das verlesen —:
    Gewiß schlösse die atomwaffenfreie Zone, die Kennan vorschlägt, auch Ostdeutschland, Polen und die Tschechoslowakei ein. Doch ist dieses Zugeständnis ohne Bedeutung, da Westeuropa dem Beschuß durch sowjetische Mittelstreckenraketen offenliegt, die von russischem Gebiet aus abgeschossen werden können.

    (Abg. Dr. Mommer: Das wissen wir!) Dann heißt es weiter:

    In Anbetracht des sowjetischen Vorteils bei den konventionellen Streitkräften würde sich ähnlich auch eine Ächtung taktischer Atomwaffen in den Satellitenländern und Ostdeutschland nur zugunsten der Sowjets auswirken.
    Diese Erklärung trägt übrigens die Unterschrift auch eines Mannes, der früher jedenfalls zur Sozialdemokratischen Partei gehört hat. Er unterzeichnet „Gerhard Seger, früher Mitglied des Reichstags".

    (Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Darum wird die Erklärung nicht richtiger!)

    Ich sage nicht, daß ich jede Einzelheit der ganzen Erklärung für zutreffend halte. Aber die Feststellung ist zweifellos richtig, daß bei einer isolierten Durchführung des Rapacki-Planes die militärische Position zugunsten der Sowjetunion verbessert würde.
    Ich will das, was ich damit ausdrücken will, in aller Vorsicht und völlig unaggressiv zu formulieren suchen: Je mehr die militärischen Elemente in Zentraleuropa abgebaut werden, um so behaglicher wird für die Sowjetunion das politische Verbleiben in diesem Raum,

    (Sehr gut! in der Mitte)

    um so interessanter wird für die Sowjetunion das politische Besitztum, das die sowjetisch besetzte Zone für sie darzustellen scheint. Darüber, was dieses politische Besitztum für sie bedeutet, sollten wir uns nach den Erfahrungen, die wir in den ersten Jahren nach der Besetzung bereits gemacht haben, keinen Illusionen hingeben. Diese sowjetisch besetzte Zone ist für die Sowjetunion ein ungemein wertvolles Besitztum; denn sie ist eine kommunistische Bastion hier in Mitteleuropa, und sie kann unter Umständen, wenn man sie über alle Fährnisse der jetzigen internationalen Auseinandersetzung hinweg bewahren kann, in der Zukunft irgendwann einmal als eine kommunistische Sprungschanze benutzt werden.



    Dr. Gradl
    Nun hat der Herr Kollege Ollenhauer vorhin in ähnlichen Zusammenhängen gesagt, wir machten uns die Sache zu leicht, wenn wir alles ablehnten, ehe die Frage der Wiedervereinigung gelöst sei. Daran ist richtig, daß wir nicht erwarten können, daß die Frage der Wiedervereinigung in der gegenwärtigen Situation der allgemeinen Spannung und des allgemeinen Mißtrauens gelöst werden wird. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition — und ich darf dabei etwas unterstreichen, was der Herr Kollege Schneider eben schon gesagt hat —, verstehen Sie denn eigentlich wirklich nicht, daß es bei den politischen Entscheidungen, die wir in unserem Land zu fällen haben, keine schwierigere Frage gibt als die der Grenze, die man beachten muß, wenn man durch Vorleistungen nicht eine neue Realität schaffen will, die der Sowjetunion ein weiteres echtes Konzessionenmachen in der deutschen Frage ersparen könnte. Das ist doch ein entscheidendes politisches Problem.
    Die Sorge vor unentgeltlichen Vorleistungen muß um so größer sein, wenn wir daran denken, wie hart gerade dieser politische Gegner ist. Seine volle Härte sehen wir doch an seinem Auftreten in unserem eigenen Land. Ich habe nicht die Absicht, das nationale Gefühl in Wallung zu bringen. Wir alle sind ohnehin zutiefst bewegt von dem, was sich im sowjetischen Besatzungsbereich in unserem Lande tatsächlich vollzieht. Es ist auch nicht nötig, daß man, um die Härte dieses politischen Gegners an seinem tatsächlichen Verhalten hier in unserem Lande zu demonstrieren, nun die ganze Misere noch einmal darstellt, die in der sowjetischen Besatzungszone besteht. Dazu genügt wahrscheinlich eine einzige Zahl: daß nämlich allein im vergangenen Jahr 265 000 deutsche Männer, Frauen und Kinder die sowjetische Besatzungszone als Flüchtlinge verlassen haben und daß es sogar jetzt trotz der Erschwerungen jede Woche 2- bis 3000 Menschen sind, die aus der sowjetischen Besatzungszone hierher kommen.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

    Seit einigen Monaten — schon deshalb, Herr Kollege Mende, gehört es hierher — ist etwas Neues in diesem Bereich eingetreten. Dieses Neue, meine ich, muß gerade hier im Rahmen einer außenpolitischen Debatte hervorgehoben werden, und zwar nicht nur deshalb, weil die neuen Erschwerungen der Lebensverhältnisse im sowjetischen Besatzungsbereich ohnehin wichtig genug sind, um auch hier zur Kenntnis genommen zu werden, sondern vor allen Dingen deshalb, weil sie gerade in diesem Zeitpunkt vorgenommen werden, in diesen Monaten, in denen sich die Welt und auch wir uns alle möglichen Gedanken darüber machen, wie man zu einer besseren Ordnung und zu einer tatsächlichen Entspannung kommen könnte.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)

    In dieser Situation hält es die Sowjetunion für richtig, oder — ich will noch vorsichtiger sein —, sie läßt es jedenfalls zu, daß sich in ihrem Verantwortungsbereich die neuen Erschwerungen der Lebensverhältnisse vollziehen, die wir in der sowjetischen Besatzungszone feststellen müssen, Erschwerungen,
    die einmal darin bestehen, daß die menschlichen Beziehungen innerhalb unseres gesamten Vaterlandes erneut und stärkstens behindert werden, und zum anderen darin, daß man in der sowjetischen Besatzungszone nun so weit geht, sogar einen weltanschaulichen Bürgerkrieg durchzuführen.
    Was die Erschwerung der menschlichen Verbindung zwischen drüben und hier gerade in dieser Zeit angeht, so genügt es im Grunde, wenn ich dazu nur zwei, drei Zahlen nenne. Der Deutsche Bundestag hat ja noch in der letzten Sitzung des alten Jahres einmütig und sehr scharf gegen diese Erschwerungen Stellung genommen. Sie kennen den Protest gegen die Einführung des Paßzwanges und gegen die Strafandrohungen eines nicht genehmigten Hinüberreisens aus der sogenannten DDR in die deutsche Bundesrepublik. Aber, meine Damen und Herren, mittlerweile wissen wir, was das tatsächlich bedeutet. Im letzten Dezember sind nur noch 123 000 Zonenbewohner aus der Zone in die Bundesrepublik herübergefahren gegen 261 000 im Dezember 1956. Das heißt: bereits im Weihnachtsmonat ist der Reiseverkehr aus der Sowjetzone in die Bundesrepublik unter die Hälfte des früheren Standes herabgedrückt worden. Und wenn Sie die allerletzten Zahlen nehmen: in der zweiten Januarwoche ist es den Zonenherren sogar gelungen, den Reiseverkehr auf den Stand von 38 % der gleichen Zeit des Vorjahres herabzudrücken.

    (Hört! Hört! in der Mitte.)

    Was das für den einzelnen, der drüben zu leben gezwungen ist, bedeutet, brauche ich in diesem Hause nicht darzulegen; es genügt das Faktum an sich, ein Faktum, das demonstriert, wie die Sowjetunion gegenwärtig einen Beitrag zur Entspannung der allgemeinen Atmosphäre leistet oder leisten läßt.

    (Abg. Dr.-Ing. E. h. Arnold: Sehr richtig!)

    Aber — und das muß ich nun etwas ausführlicher darstellen — schlimmer noch vielleicht als das, was sich in der Erschwerung der menschlichen Beziehungen vollzieht, ist das, was auf dem Gebiete des Religions- und Kirchenkampfes geschieht. Dabei wissen wir, daß dieser Kampf als solcher nicht neu ist. Wir haben in den vergangenen Jahren eine Fülle von Vorgängen erlebt, die diesen Kampf deutlich gemacht haben. Wir wissen z. B. aus dem Jahre 1953 um den Kampf gegen die Jugendgruppen in der sowjetischen Besatzungszone; wir wissen um die Eingriffe und Verbote gegen die Bahnhofsmission, gegen die Seelsorge in Krankenhäusern usw. Wir wissen auch, wie im vergangenen Jahr der Evangelische Kirchentag dadurch verhindert worden ist, daß man ihm unerträgliche politische Auflagen zu machen suchte.
    Das alles ist aber wenig gegen das, was sich jetzt — ich betone wiederum: ausgerechnet in dieser Zeit — drüben vollzieht und bei dem eine solche Gewaltmaßnahme wie die Verhaftung des Leipziger Studentenpfarrers Schmutzler und der Prozeß gegen ihn, die als Einzelvorgang hier in der Bundesrepublik besondere Aufmerksamkeit gefunden haben, eben doch nur ein Einzelvorgang, wenn auch leider ein typischer Vorgang ist. In dem Gerichts-



    Dr. Gradl
    saal, in dem der Pfarrer Schmutzler verurteilt worden ist, steht übrigens über der Richterbank der Satz: „Neue Macht schafft neues Recht". Wir kennen das ja wohl. Man kann es auch übersetzen: „Recht ist, was dem System nützt".
    Aber, meine Damen und Herren, es handelt sich bei dem, was sich jetzt dort vollzieht, beileibe nicht etwa um Übergriffe irgendeiner Schar wildgewordener Funktionäre, sondern um einen ganz systematischen Kampf gegen Religion und Kirche, der in der ganzen Breite und mit der ganzen Wucht abrollt, die einem totalitären Apparat zur Verfügung steht, der sich gegen den einzelnen genau so richtet wie gegen die Kirchen als solche. Dafür gibt es eine Fülle von Beispielen. Das vollzieht sich unter dem Leitmotiv — man kann das da drüben auch recht wissenschaftlich formulieren —: „Der Sieg des Sozialismus ist unmöglich ohne die Überwindung der Unwissenheit und des Obskurantismus in Form von religiösem Glauben unter der Arbeiterklasse". Dies ist gewissermaßen das Leitmotiv, zu lesen in einer angeblich wissenschaftlichen Schrift, die gerade jetzt im Dietz-Verlag in Ost-Berlin herausgekommen ist. In das Vulgärpolitische übersetzt, sieht das folgendermaßen aus. In Frankfurt an der Oder z. B. hat der Erste Sekretär der SED beim Beginn der Jugendstunden erklärt:
    Bei uns wird die Wahrheit gelehrt, und die ist einfacher zu begreifen als bestimmte Hirngespinste. Der künstliche Erdtrabant geht doch nicht um die Erde, um dem lieben Gott und den Engeln guten Tag zu sagen!