Rede von
Margot
Kalinke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Der Zuruf des Herrn Kollegen Stingl: „Wenn das gestrichen wird, dann ist auch der § 4 erledigt", würde zutreffen, wenn eine Aussicht bestünde, daß der eben vertretene Antrag der SPD angenommen wird. Ich glaube nicht, daß diese Aussicht im Plenum des Hauses besteht. Deshalb muß ich leider unsere Änderungsanträge begründen. Ich möchte bitten, um der Verkürzung der Debatte willen dabei gleich zu den eben gemachten Ausführungen Stellung nehmen zu dürfen.
War haben seit fast 12 Jahren immer wieder über die Probleme sprechen müssen, die uns manchmal heiße Köpfe und heißes Blut gemacht haben, nämlich über die unterschiedliche Rechtsentwicklung in der Sozialversicherung im allgemeinen und in der Krankenversicherung im besonderen. Es ist mir ein Bedürfnis, hier folgendes festzustellen. Ebenso erfreulich, wie die Sachlichkeit der Debatte in der ersten Lesung war, ist der Tatbestand, daß wir mit diesem schwierigen Problem im Ausschuß für Sozialpolitik in einer eintägigen Sitzung fertig geworden sind.
Ich meine, daß wir bet der Schwierigkeit und angesichts des Sprengstoffs, der in diesem Problem enthalten ist, über die wichtigen politischen Fragen, um die es hier geht, in sehr viel gründlicherer Form sprechen sollten, als das eben bei der Begründung durch den Antragsteller geschah. Er meinte schlechhin, daß es sich bei der Rechtsangleichung der Krankenversicherungsanstalt Berlin, ihrer Auflösung und der Schaffung gleichen Rechtes nach der Reichsversicherungsordnung für alle Deutschen, also auch für die Berliner, um ein Problem der Reform der Krankenversicherung oder der besonderen finanziellen und organisatorischen Verhältnisse in Berlin handele. Weil es weit mehr ist, sind wir der Auffassung, es ist nun wirklich höchste Zeit, daß auch in Berlin die endgültige Rechtsangleichung erfolgt.
Die Fraktion der Deutschen Partei hat sich darüber gefreut, daß im Sozialpolitischen Ausschuß in fast allen Teilen Übereinstimmung der Koalitionsparteien erzielt wurde und daß in der Beratung -
bis auf den § 4 — eine Verständigung möglich war. Wir haben deshalb darauf verzichtet, weitere Änderungsanträge zu den übrigen Paragraphen zu stellen. Wir sind aber der Meinung, daß der § 4 als ein Teil des in dem sozialdemokratischen Antrag behandelten Problems so bedeutend und von so grundsätzlicher Art ist, daß wir darüber etwas sagen müssen.
Die Überschrift des Gesetzentwurfs der CDU/CSU, der zur Beratung stand, hieß: „Angleichung des Rechts der Krankenversicherung". Der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion betonte, daß dieser Gesetzentwurf eine Reform der Krankenversicherung verhindere. Es handelt sich also weder nach der Überschrift des CDU-Entwurfs noch nach der Meinung der sozialdemokratischen Fraktion bei diesem Gesetz um eine wirkliche Angleichung des Rechts der Krankenversicherung. Tatsächlich handelt es sich nur um ein Angleichung des Rechts der Selbstverwaltung und nur um eine Teilangleichung des Rechts der Krankenversicherung.
Zu diesem Problem und gleichzeitig zur Begründung unseres Antrages möchte ich noch einiges sagen. Die Fraktion der Deutschen Partei hat immer anerkannt, daß die besondere politische und wirtschaftliche Lage in Berlin unsere besondere Fürsorge und unser besonderes Nachdenken und auch besondere Opfer erfordert. Wir haben uns immer zu diesem Einsatz und zu diesen Opfern bekannt. Wir können aber wirklich nicht feststellen und wirklich nicht finden, wieso die Vereinbarungen, die in Berlin getroffen worden sind und die eine wirkliche Anpassung des Rechts auf der Bundesebene verhindern, um eine Anpassung nach dem Berliner Anpassungsgesetz zu erreichen — das weiterhin für Berlin als Ausnahmerecht bestehenbleiben soll —, etwas mit der politischen und wirtschaftlichen Situation Berlins zu tun haben. Wir können nicht verstehen und ergründen, wieso die Beseitigung der unterschiedlichen Versicherungs-
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1957 189
Frau Kalinke
pflichtgrenze — 660 DM ist sie nach reiflichen Überlegungen im Bundesgebiet, und 750 DM ist sie in Berlin —, der unterschiedlichen Beitragsbemessungsgrenze, nach der bei uns nach 660 DM, in Berlin dagegen nur nach 600 DM Monatseinkommen Beiträge erhoben werden, der unterschiedlichen Behandlung von Angestellten, die bei Bundesbehörden und solchen, die bei anderen Berliner Betrieben beschäftigt sind, die politische oder wirtschaftliche Situation Berlins gefährden würde, wenn wir nun endlich dieses Berliner Recht an das Recht der Bundesrepublik anpaßten. Wir können auch nicht verstehen, warum besonderes Recht für die Weiterversicherung oder besonderes Satzungsrecht für die AOK Berlin erhalten bleiben soll, während die übrigen Kassen von diesem Satzungsrecht keinen Gebrauch machen können; denn eine Betriebskrankenkasse, die im Bundesgebiet und in Berlin vertreten ist, kann sicherlich nicht in Berlin andere Leistungen geben als im Bundesgebiet. Und die Ersatzkassen, die ihre Mitglieder über das ganze Gebiet betreuen, werden auch nicht willens sein, die Berliner Mitglieder nach anderem Recht zu behandeln und ihnen andere Leistungen zu geben als im Bundesgebiet.
Wenn noch etwas die Richtigkeit unserer immer wieder zum Ausdruck gebrachten Bedenken bestätigt hat, dann waren es die Ausführungen des Berliner Senators im Ausschuß für Sozialpolitik. Er hat selbst erklärt, es sei unerträglich, daß in Berlin unterschiedliches Recht bestehe, und er hat den Vorschlag gemacht, die damals von Berlin selbst angeregte Gesetzesänderung wieder rückgängig zu machen und nun auch das Berliner Recht auf die Berliner Bundesbehörden zu übertragen.
Ich möchte gegenüber dem, was in den vorangegangenen Debatten zum Ausdruck gekommen ist, hier ohne Ressentiment sagen, daß wir den Sprecher der SPD nicht verstehen, der sagte, daß nun eine besondere Krankenversicherung in Berlin in ihrer Entwicklung gestört und die Finanzkraft eines Versicherungsträgers, der sich in der Krise bewährt habe, gefährdet werden solle. Allen Kennern der Materie ist bekannt, wie die Dinge in Wirklichkeit liegen. In Berlin beruht die notwendige Beitragserhöhung auf denselben Grundlagen wie im Bundesgebiet; es sind dieselben Voraussetzungen für Beiträge und Leistungen gegeben wie im Bundesgebiet, sie sollen nur in Berlin andere bleiben und im Bundesgebiet andere werden. Man verschweigt dabei, daß die KVA Berlin eine bessere Startmöglichkeit und höhere Einnahmen dadurch gehabt hat, daß das Recht des § 189 RVO den Angestellten, die Anspruch auf Gehaltszahlung haben, vorenthalten worden ist, sie mußten in Berlin höhere Beiträge entrichten. Wir meinen aber, es sei nun an der Zeit, deutlich zu machen, daß Koalitionsvereinbarungen in einem Land nicht etwa Grundsatzentscheidungen beeinflussen dürfen, die wir hier im Bundestag zu treffen haben und die die Bundespolitik angehen. Das gilt sowohl für Berlin als auch für Nordrhein-Westfalen und für Niedersachsen. Nachdem so oft über diese Dinge gesprochen wird, muß ich hier aus politischen Gründen deutlich machen, daß die Wähler, die uns gewählt haben, von uns erwarten, daß wir die Rechtseinheit im Bundesgebiet und in Berlin herstellen.
— Auch die Wähler, die Sie in der CDU und in der SPD gewählt haben! Ich habe das „uns" umfassend für das ganze Parlament gemeint. Wir haben den Auftrag, Bundesrecht zu schaffen, und nicht den, auf besondere Schwierigkeiten Rücksicht zu nehmen. Dabei kann ich mir gar nicht denken, daß ein kluger Kommunalpolitiker oder Landespolitiker etwa von diesem § 4 und von der Frage der Angleichung des Berliner Rechts an das Bundesrecht seine politischen Entscheidungen abhängig macht, zumal keinerlei Sprengstoff darin enthalten ist.
Wir bitten Sie daher, meine Kollegen aus allen Fraktionen, sorgen Sie mit Ihrer Entscheidung dafür, daß in Berlin das gleiche Recht gilt wie im Bundesgebiet, daß zumindest eine wirkliche Anpassung erfolgt bezüglich der Ausnahmebestimmungen der §§ 9, 11, 12, 13, 14 und 18 des Berliner Anpassungsgesetzes, in denen es sich um die andere Versicherungspflichtgrenze, um die andere Beitragsbemessungsgrenze, um das besondere Recht hinsichtlich der Weiterversicherung und das Satzungsrecht handelt. Die übrigen Paragraphen, nach denen in Berlin höhere Leistungen gewährt werden, mögen bis zur Reform der Krankenversicherung bestehenbleiben. Insofern will ich anerkennen, daß es vielleicht schwierig für Sie ist, sie zu beseitigen. Unmöglich ist es keineswegs, zumal jede Anpassung des Rechts immer damit erkauft werden muß, daß der Politiker mit guten Gründen das Opfer wie das Geschenk zu erklären und zu vertreten in der Lage sein muß. Weil es keine guten und sachlichen Gründe für die Beibehaltung dieses Berliner Sonderrechts gibt, sind wir der Meinung, daß es an der Zeit ist und endlich eine gute Tat wäre, wenn wir hier dazu beitragen, die Rechtseinheit zwischen Berlin und dem Bundesgebiet so weitgehend wie nur möglich und so weit, als es für Berlin keine Schwierigkeiten bedeutet -
weder politische noch wirtschaftliche —, herzustellen.
Ich bitte Sie daher, den Antrag der Sozialdemokratischen Partei abzulehnen, weil er diese Angleichung des Rechts verhindern will, und dem Antrag der Fraktion der Deutschen Partei zuzustimmen.