Rede von
Dr.
Marie-Elisabeth
Lüders
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Dr. Gerstenmaier sagte in seinen Ausführungen — wenn ich mich recht entsinne —: Wir stehen in Treue zu allen Lebenden. — Das ist eine Selbstverständlichkeit für uns alle, besonders für uns Frauen. Erlauben Sie mir, daß ich ein paar Worte hierzu sage. Ich möchte diese Worte nicht in meinem Interesse sagen, auch nicht im Interesse meiner Generation, sondern ich möchte sie sagen um der Kinder und der Enkelkinder willen. Ich möchte sie sagen für die Menschen schlechthin, für alle Völker: Lassen Sie mich bitten! Ich möchte heute abend mit wenigen Worten nichts anderes tun, als zu bitten. Ich bitte als alter Mensch, der sich darüber klar ist, daß jeder Tag, der ihm geschenkt wird, eine Gnade ist und daß er mit jedem Tag der Rechenschaftsablegung näherkommt. Ich bitte als alter Mensch nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen mit über 7 Millionen Toten und Vermißten. Verehrte Kollegen, nach den Vermißten suchen wir noch heute voller Angst und Sorge, und wir werden weiter fieberhaft nach ihnen suchen müssen. Ich bitte aus dem Entsetzen heraus über die für mein Gefühl in der Welt ständig zunehmende Parole: „ Der Krieg ist tot, es lebe der Krieg!"
„Es lebe der Krieg!", — ist das das Echo auf die frühere Parole „nie wieder Krieg!"? Ist das das Echo auf die tausendfachen Schwüre: „Wir wollen büßen, wir wollen alle büßen; wir wollen nicht mehr hassen, wir wollen Frieden, wir wollen nichts als Frieden!"? Das haben wir gehört und immer wieder gehört. Und nun? Man kann nur mit Schrecken und Angst sagen: „Wir Völker Europas verderben, wir sterben"; der eine ist Mörder, der andere ist Selbstmörder.
Ich bitte Sie für alle Lebenden und für alle Kommenden, die Erinnerung an all die Schrecken und Leiden, die Erinnerung an all die Unmenschlichkeiten, die in diesem oder jenem Namen geschehen sind, nicht aus Ihrem Gedächtnis zu verwischen. Ich bitte Sie, alle seelischen und physischen Kräfte zum Widerstand dagegen einzuspannen, daß irgend etwas geschieht, was uns dem Krieg wieder näherbringen könnte. Ich bitte vor allen Dingen die Frauen; verleugnen wir unsere Natur nicht, steuern wir dem Wahnsinn des irregehenden menschlichen Geistes, steuern wir Frauen dem gotteslästerlichen Mißbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse. Darf ich Ihnen dazu die Worte einer Frau vorlesen, Worte zu einer Situation, in der wir uns nie wieder befinden dürfen:
Wir Völker Europas haben unsere Knaben
[erschlagen,
wir Völker Europas haben unsere Männer
[erschlagen.
Wir haben Frauen und Kinder geschunden, Hunger und Seuchen losgebunden.
Wir Völker Europas, wir haben Städte
[geschleift,
Ernten verschwendet, ehe sie gereift.
Wir armen Völker Europas, wem sollen wir es
[klagen:
Wir haben alles zerschlagen — zerschlagen —
[zerschlagen.
Diese Völker Europas haben sich bemüht — und insbesondere unser deutsches Volk —, wiederaufzubauen, was zerschlagen worden ist. Soll das alles noch einmal geschehen,
soll es noch einen dritten Weltkrieg geben? Ich weiß, daß wir ihn nicht wollen. Aber ich weiß auch, daß vieles von dem, was vorhin gesagt worden ist, genauso vor 1914 und genauso vor 1933 gesagt worden ist.
Es soll nicht wieder sein, was schon einmal, was schon zweimal war!
Deshalb sage ich — nehmen Sie es mir nicht übel — ein ganz scharfes unmißverständliches Nein zu allem, was eine solche Situation wieder herbeizuführen geeignet sein könnte, auch zu allen Explosionsversuchen.
Ich stehe auf dem Standpunkt —, ganz im Gegensatz zu dem alten lateinischen Satz —: Si vis pacem, para pacem!