Herr Kollege Dr. Gerstenmaier, Sie nehmen mir bereits die Interpretation unserer Entschließung vorweg. In Ziffer 1 unserer Entschließung wird die Bundesregierung ersucht, „einen Beitrag zur allgemeinen Abrüstung durch den Verzicht auf die Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Waffen zu leisten." Das sagt eindeutig, daß wir diesen Verzicht nicht absolut sehen, sondern relativiert durch die allgemeine Abrüstung, die in der ersten Zeile genannt ist. Ich werde noch Gelegenheit haben, dies im einzelnen bei der Behandlung der Frage der möglichen Verhandlungen und Hingaben — do ut des — näher zu erläutern.
Als wir vor Jahresfrist schon diese Gedanken — entspannte Zonen — darlegten, ist es uns nicht gut ergangen. Die deutsche Öffentlichkeit weiß, daß sich unser Kollege Pfleiderer härteste Vorwürfe machen lassen mußte, als er erkennen ließ, daß sein Glaube an die EVG nicht groß war. Nun, er hat zwar nicht gewettet wie der Herr Bundeskanzler mit dem Kollegen Erler; aber er hätte die Wette auch gewonnen. Die EVG ist gescheitert.
Dann haben wir später die Edensehen Gedankengänge , die ja im wesentlichen auf den entspannten Zonen, die Pfleiderer vorschlug, aufbauten, immer wieder in die Öffentlichkeit gebracht. Es ist uns nicht gut gegangen dabei. Sie wissen, ich mußte mich vor Jahresfrist im Bundestag dagegen verwahren, daß die Antwort des amtierenden Außenministers auf einen modifizierten Eden-Plan war: Der Mann soll doch lieber mit dem Sandkasten spielen. Ich weiß nicht, ab 'der gleiche Vorwurf jetzt dem Präsidenten Eisenhower gemacht werden wird, der genau die gleichen Gedankengänge aufnimmt, allerdings als ehemaliger General mit dem Sandkasten ebenfalls etwas zu tun hatte, aber etwas länger als ich. Ich habe mich nur 10 Jahre damit befaßt, in 51/2 davon wurde zum Sandkasten scharf geschossen.
Sie sehen, Herr von Brentano, wie gefährlich es ist — und es steht in den amtlichen Protokollen —, Sachargumente mit persönlichen Abwertungen zu beantworten. Wir erleben gerade angesichts dessen, was der Präsident der Vereinigten Staaten vor zwei Tagen gesagt hat, daß alles in Fluß gekommen ist und daß wir in ,diesem Augenblick — solange noch die geringsten Chancen für die Wiedervereinigung Deutschlands und für gewisse konkrete Ergebnisse der Londoner Abrüstungskonferenz sichtbar sind — nichts tun dürfen diese Chancen zu mindern. Der Präsident Eisenhower hat zu der Londoner Abrüstungskonferenz erklärt, niemals je zuvor habe eine Abrüstungskonferenz so große Hoffnungen erweckt wie diese.
Was war denn — und hier bitte ich den Herrn Kollegen Dr. Gerstenmaier, einen Augenblick zuzuhören — unser aller Konzept, auch meines. von 1950 bis 1954? Wir waren ja mitgegangen, mitgefangen! Ich will das gar nicht leugnen. Wir glaubten nicht nur, daß dem weiteren Vordringen des Stalinismus durch die atlantische Verteidigungsgemeinschaft ein Stopp geboten werden würde,
sondern daß im Gegenteil die Hoffnung bestand, es werde durch die riesige große Klammer im Norden, in der Mitte und im Süden Europas um den Sowjetblock — verlängert um die SEATO-Klammer in Asien — gelingen, die Sowjets auf die innere Linie zurückzubringen. Man sitzt nicht gern auf der Vorderseite einer großen Einschließung, sondern versucht, möglichst auf die innere Linie zurückzugehen, und so sagten wir uns: Politik der Stärke! Die geballte Kraft der freien Welt wird es zuwege bringen, die Sowjets zu überzeugen, daß es besser ist, aus Mitteldeutschland, aus Polen, aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn auf die innere Linie zurückzugehen, als sich in diese große Umklammerung zu begeben.
Mit dieser Politik der Starke, mit diesem Versuch, einen Druck im Sinne einer Freigabe Mitteleuropas und Osteuropas durch die Sowjets auszuüben, war es in dem Augenblick zu Ende, als es den Sowjets im August 1954 gelang, die Wasserstoffbombe explodieren zu lassen. Das atomare Gleichgewicht hat alle ,diese Pläne — wir müssen es bekennen — zunichte gemacht. In der ersten Genfer Konferenz 1955 hat man daher ganz anders miteinander gesprochen. Man steht heute nun einmal in der gegenseitigen gleichen Bedrohung der beiden Weltmächte, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion.
Nunmehr kommen wir zu einem neuen Konzept und sagen: Unsere Position wird jetzt noch einmal stark, wenn wir die Stützpunkte von Norwegen über Dänemark und die Bundesrepublik bis herunter nach Afrika, Griechenland und der Türkei mit atomaren Abschußbasen ausrüsten; unter diesem geballten Druck werden wohl die Sowjets dann wenigstens auf die innere Linie zurückgehen. Ich bin aus der Erfahrung der vergangenen sechs Jahre des Bestehens dieser These der Überzeugung, daß auch sie wiederum falsch ist. Auf Druck pflegt Gegendruck zu kommen, und die Sowjetunion ist nun einmal in einer großen atomaren Klammer, auch jetzt schon, ohne die deutschen Bundeswehrsoldaten mit Atomwaffen. Ich fürchte, ihre Reaktion wird nicht in der Richtung des Nachgebens, sondern eher in der Richtung einer Verhärtung des Zustandes liegen, möglicherweise mit der Gefahr einer Kurzschlußhandlung. Ich habe einmal gelernt, daß man sich möglichst auch in die Geisteshaltung der anderen Seite hineindenken soll, um zu prüfen, welche Reflexwirkung eigene Maßnahmen. zum Teil ungewollt, bei der anderen Seite auslösen oder auslösen können.
Wir glauben, daß der Frieden am besten gesichert ist. wenn der einen großen atomaren Macht der Vereinigten Staaten möglichst nur eine große atomare Macht gegenübersteht. Der Frieden ist dann am ehesten gewährleistet wenn die Dynamik der gegeneinanderliegenden Kräfte sich aufhebt, also eine Statik eintritt. Das ist doch das Geheimnis, warum es seit Jahren keinen großen Krieg gab. Das ist ja auch das Geheimnis, warum es beim Suez-Konflikt keinen atomaren Krieg gab, — nicht etwa, weil die Vereinigten Staaten ihn nicht wollten oder die Sowjetunion ihn nicht wollte, sondern weil beide gemeinsam ihn nicht wollten, sich darüber einig waren und in den Vereinten Nationen entsprechend handelten, mußten sich Engländer und Franzosen genauso wie die Israeli, so peinlich es für alle war, zurückziehen. und so ist uns der dritte, atomare Weltkrieg erspart geblieben.
Nun ist die berühmte sowjetische Abrüstungsnote gekommen. Hier teile ich allerdings die Auffassung des Herrn Kollegen Dr. Gerstenmaier. Justament in dem Augenblick, da die Sowjetunion uns — im vorigen Herbst — eine Abrüstungsnote übermittelte, war der Paukenschlag einer Wasserstoffexplosion in Sibirien hörbar, und wir haben damals mit Recht erklärt: ihr werdet so lange mit euren Abrüstungsvorschlägen unglaubwürdig sein, wie ihr mit der einen Hand das fortsetzt, was ihr mit der anderen Hand bei anderen einzustellen versucht. Es kann hier nur eine Zug-um-Zug-Leistung geben. Ich zitiere hier das, was mein verehrter Kollege Dr. Becker in Straßburg beim Europarat erklärt hat und was sich zum Teil mit dem deckt, was Kollege Erler bezüglich der Kontrolle atomarer Explosionen gesagt hat. Es gibt eine Chance einer gewissen Vorleistung auf Zeit — sonst nur Zug um Zug! Herr Kollege Becker sagte:
Die erste Forderung, die im Namen der Menschlichkeit und im Interesse der Menschheit zu erheben wäre, ist die Forderung nach einer Einstellung der Explosionsversuche. Die Möglichkeit der Kontrolle solcher Versuche ist gegeben. Es steht also einer Vereinbarung, diese Versuche zu unterlassen, nichts im Wege. Es wäre vorzuschlagen, daß eine Atommacht auf diesem Wege mit dem Angebot vorangeht, innerhalb des nächsten Jahres keine Versuche vorzunehmen, verbunden mit der Ankündigung, diese Versuche wiederaufzunehmen, wenn die andere Macht diesem Beispiel nicht folge. Ein solcher Schritt würde den Beifall der Menschheit finden. Würde die andere Macht nicht folgen, so fiele sie dem Verdikt der Öffentlichkeit anheim, sicher auch bei ihrem eigenen Volk.
Das deckt sich in etwa mit dem, was der Kollege Erler vormittags sagte. Eine atomare Explosion ist registrierbar mit minutiöser Genauigkeit, und keiner kann sich mehr verbergen. Dazu ist die Erde gottlob zu klein und das Firmament gottlob durch Reflexwirkung atomarer Explosionen auf den Mond und dessen Rückstrahlung durchaus einzusehen.
Wir haben ebenfalls zurückzuweisen den Versuch der Einmischung der Sowjets in diesen Streit. Ich zitiere hier das, was Professor Weizsäcker vor den Bonner Studenten gesagt hat, und mache es mir völlig zu eigen; genau so könnte ich hier sprechen. Weizsäcker bedauerte die letzte sowjetische Atomnote an die Bundesregierung. Wenn den Sowjets wirklich — so sagte Weizsäcker — an einer atomaren Abrüstung liege, so schadeten sie diesem Vorhaben mit Noten dieser Art. Wenn auch in der Note stehe, sie sei nicht als Drohung gemeint; so müsse der Sowjetregierung doch klar sein, daß sie als Drohung verstanden werde. Es sei zweierlei, ob man in der Bundesrepublik und überhaupt im Westen sich zur atomaren Abrüstung bereitfinde, weil man sie wünsche, oder ob man sich dazu bereitfinde, weil man einer Drohung nachgebe. Professor Weizsäcker fuhr wörtlich fort:
Wir dürfen den Russen glauben, daß sie die Atomwaffen entwickelt haben, weil sie sich bedroht fühlten. Wir dürfen ihnen das schon deshalb glauben, weil gerade sie andere Mittel haben, ihre politischen Ziele zu erreichen, als einen Weltkrieg. Sie müssen aber auch einsehen, daß es gerade die Furcht vor ihnen ist,
die im Westen die Atomrüstung immer weiter vorantreibt. Deshalb sind russische Drohnoten Wasser auf die Mühlen jener Toren im Westen, die aus Angst vor den Russen den atomaren Selbstmord vorbereiten.
Meine Damen und Herren, dieser Auffassung von Weizsäcker ist nichts hinzufügen. Wir glauben, daß die Sicherheit dieser Welt am ehesten gewährleistet ist, wenn der Einsatz atomarer Waffen noch überschauba. ist. Er ist noch überschaubar, wenn lediglich zwei Mächte diese furchtbaren Waffen haben. Wenn es aber so wird, wie die Physiker behaupten, daß man in wenigen Jahren nicht mehr Uranium und Plutonium nötig haben wird, sondern daß Meerwasser genügen wird, um die schwersten Kernspaltungen mit ihren gewaltigen Explosionswirkungen auszulösen, um wieviel mehr müssen wir darauf achten, daß nicht eine Vielzahl von mittleren und kleinen Mächten in den Besitz dieser Waffen kommt!
Die Kontrolle wird in dem Maße schwieriger werden, in dem auch kleine und kleinste Länder sich in den Besitz der Herstellungsverfahren und der Waffen setzen werden. Mit Recht ist heute vormittag die Frage gestellt worden: was wäre geschehen, wenn Ägypten, wenn Syrien, wenn Israel, wenn die in erheblicher Gegnerschaft zueinander lebenden Völker des Nahen Ostens allesamt atomare Raketen hätten! Wie wäre es dann noch möglich, einen Konflikt zu lokalisieren? Ja, wäre es möglich, in Deutschland einen Konflikt wie den am 17. Juni 1953 zu lokalisieren, wenn dieser Konflikt nicht mehr nur mit Panzern und Geschützen, sondern mit Atomraketen geführt werden kann! Bei dem deutsch-englischen Gespräch in Königswinter hat man uns immer wieder gefragt: Was würde geschehen, wenn in Magdeburg sich Budapest wiederholen würde, mit allen in Rundfunk und Presse wiedergegebenen Stimmungen, die uns damals bei der ungarischen Tragödie bewegt haben? — Es gibt keine Garantie, so haben wir den englischen Freunden gesagt, daß dann nicht auch wir aus einer allgemeinen Volksbewegung heraus uns aus dem Gefühl der Schicksalsverbundenheit mit den Magdeburgern solidarisch erklären und eingreifen würden. Wer wagt es, hier die Garantieerklärung abzugeben, daß das niemals möglich ist?
Die Atomgroßmächte müssen also selbst ein Interesse daran haben, die atomaren Waffen unter Kontrolle zu halten.
Ich sehe die Situation, in der sich diese Welt befindet — ich nehme da ein etwas vulgäres Beispiel — etwa so: Es stehen sich zwei Träger von Maschinenpistolen auf einer Entfernung von 10 oder 20 Metern gegenüber. Jeder von ihnen richtet die Maschinenpistole auf die Brust des Gegners. Der eine Gegner hat einen Stern in rot auf seinem Barett, der andere einen Stern in weiß. Man könnte auch sagen: der eine raucht Machorka und der andere Lucky Strike, der eine speit Sonnenblumenkerne aus, der andere Kaugummi.
Diese beiden, die sich in Schach halten, wissen: der, der abzieht, schießt mit einer Garbe von 15 Schuß den anderen um, aber der, gegen den geschossen wird, zieht beim Aufblitzen des Mündungsflämm-
chens seinerseits ab. Er schafft nicht 15 Schuß; aber der andere fällt mit 8 Schuß in der Brust auch um. Es ist nur relativ, ob ich mit 15 oder mit 8 Schuß getötet werde. Es ist nur relativ, ob der Atomschlag des Angreifers 300 Bomben ins Ziel bringt, weil er einen Vorsprung von 30 Minuten hat, und der Angegriffene nur 150 Atombomben ins Ziel bringt, weil von seinen Basen 150 bereits durch den ersten Schlag zerstört wurden.
Das ist die Situation der Welt im Zeichen der Fernraketen, die über Tausende von Kilometern geschossen werden, und zwar nicht mehr mit dem atomaren Kopf. Ach, die Atomrakete ist wahrlich nicht mehr vergleichbar mit der Wasserstoffrakete; denn 20 000 t Sprengstoff und 20 bis 40 Millionen t Sprengstoff, das ist ein Unterschied nicht nur in der Quantität, sondern auch in der Qualität! Ich denke da an die Auswirkung der radioaktiven Gammastrahlen.
Deswegen ist das Wort des Präsidenten Eisenhower richtig: Nie zuvor gab es mehr Chancen für die Abrüstung als jetzt, da das atomare Gleichgewicht geschaffen ist und gewisse Differenzierungen nur relativen Charakter haben.
Sie werden fragen: Ja, wie ist denn unsere Situation? Wir hocken mit allen westeuropäischen Völkern zu Füßen des Mannes mit dem weißen Stern, des großen atlantischen Bruders, der uns mit seiner Maschinenpistole beschützt, und das halbe Deutschland und das andere halbe Europa hocken zu Füßen des Mannes mit dem roten Stern, von dem wenigstens die Führer oben glauben, daß dieser rote Bruder sie beschützt, nicht die Völker, wie wir wissen. Wenn wir uns zwischen den beiden auch noch gegeneinander stellen — wir werden durch die eine wie durch die andere Garbe in jedem Fall durchlöchert. Das heißt übertragen auf die nukleare Situation: ein Krieg zwischen den beiden Giganten macht Deutschland beiderseits von Elbe und Werra, macht vielleicht Europa zum Atombombenversuchsfeld beider Parteien.
Man sollte wohl unterscheiden zwischen Abschreckung und Ernstfall. Hier sind die Begriffe sowohl beim Herrn Bundesverteidigungsminister in der Regierungserklärung wie auch bei dem verehrten Kollegen Dr. Gerstenmaier leider durcheinandergeraten. Abschreckung heißt, durch die Gleichgewichtigkeit der atomaren Rüstung beide Seiten davon zu überzeugen, daß es keinen Sinn hat, auf den Knopf zu drücken! Ernstfall? — Da ist es schon geschehen! In der Abschreckung liegt unsere Hoffnung, und, meine Damen und Herren, liegt der Frieden. Im Ernstfall liegt so oder so die Vernichtung des deutschen Volkes, ob mit oder ohne Atomraketen bei der Bundeswehr.
Hier darf ich nur auf einige Zahlen verweisen, die auch heute vormittag hier schon erwähnt wurden, einige Zahlen aus der Erklärung der Professoren bezüglich der Wirkung der kleinsten Atomwaffe. Der Kanzler hat seinen Irrtum historisch erklärt, mit dem berühmten Schiff, das im Hafen ankommen sollte. Wir haben es quantitativ verstanden, nicht historisch, als er sagte: Die taktischen Atomwaffen sind nur eine Fortentwicklung der Artillerie. Die Raketen sind eine Fortentwicklung der Artillerie, nicht die Atomraketen, von denen die kleinste bereits die Wirkung von 10 000 Luftminen des zweiten Weltkrieges hat oder von 10 Großangriffen mit je 1000 Flugzeugen, wie wir sie auf Hamburg oder Dresden erlebt haben, nur
mit dem Unterschied, daß sich die konzentrierte Wirkung in wenigen Sekunden ergibt. Wie kann man angesichts dieser Wirkungen den Versuch machen, die taktischen Atomwaffen zu verniedlichen?
Über das Manöver „Schwarzer Löwe" ist gesprochen worden. Ich überschätze Manöver nicht. Manöver pflegen von Lagen auszugehen, aber die Lageannahmen pflegen die Dinge realistisch zu sehen, und die Lage des Manövers „Schwarzer Löwe" ist nun einmal die: Wir sind im Ernstfall so oder so als Volk ausgelöscht; die letzte uns noch verbliebene Substanz ist dahin. Darum sollten wir mehr an die Abschreckung denken, für den Ernstfall allerdings jenen relativen Schutz anstreben, den es gibt; es gibt keinen absoluten, sondern nur einen relativen. Es erhebt sich die Frage: Haben wir diesen relativen Schutz bereits angestrebt; haben wir bereits etwas geschaffen? Lassen Sie mich das an einer Kritik unserer atomaren Luftschutzmaßnahmen hier darlegen.
Aber zuvor noch ein anderes Problem, das wir Freie Demokraten schon aufgegriffen haben. Wir sind immer etwas früher. Das ist manchmal sehr ärgerlich, das bringt einem Kritik ein. Nachher wird alles als selbstverständlich empfunden. Schopenhauer hat nun einmal recht: Jeder große Gedanke muß drei Stadien durchlaufen. Im ersten wird er von allen verlacht, im zweiten von vielen entschieden bekämpft und im dritten von allen als selbstverständlich empfunden. Wir haben also schon — vor Ihnen, Herr Kollege — in der Drucksache 2576 unter dem 28. Juni 1956 einen Antrag gestellt, der folgenden Wortlaut hat:
Der Bundestag wolle beschließen:
Die Bundesregierung wird beauftragt,
bei den Vereinten Nationen oder unmittelbar bei den Mächten, die Atom- und Wasserstoffbomben herstellen, dahingehend vorstellig zu werden, daß
1. Versuche mit Atom- und Wasserstoffbomben bis auf weiteres eingestellt werden,
2. solche Versuche erst dann wiederaufgenommen werden, wenn wissenschaftlich objektiv festgestellt ist, daß die dadurch hervorgerufene Radioaktivität der Atmosphäre keine Schädigung für die Menschheit verursacht.
Dieser Antrag trägt die Unterschrift unseres atomaren Fachmannes, des Diplomingenieurs Dr. Drechsel. Auch er stammt aus Göttingen. Ich hoffe, daß man diesen Antrag nicht in die Nähe neutralistischer Tendenzen rücken wird. Was ist mit diesem Antrag geschehen? Erst acht Monate später, am 22. Februar 1957, war er im Plenum, wurde diskutiert und an den Ausschuß verwiesen, und aus dem Ausschuß liegt nunmehr ein Bericht vom 2. Mai 1957 vor.
Lassen Sie mich auch noch auf die Frage des Schutzes der Bevölkerung eingehen. Hier glaube ich, daß das, was die Bundesregierung heute vormittag erklären ließ, zumindest sehr optimistisch in den Zahlenwertungen ist. Wir haben in einem Vergleich der Luftschutzaufwendungen der Vereinigten Staaten, Englands, Frankreichs, der Schweiz und Schwedens mit unseren Aufwendungen in den letzten Jahren feststellen müssen, daß unsere Aufwendungen wesentlich unter denen die-
ser wesentlich weniger bedrohten Mächte liegen. Zu unserem Bedauern ist unlängst ein Antrag auf Erhöhung der Etatposten für den Luftschutz abgelehnt worden.
Wo ist, so frage ich, die Anhäufung von Medikamentendepots auf dem Gebiet der Bundesrepublik?
Ich habe die Mittagspause dazu benutzt, die dazu gegebene Erklärung nachzuprüfen, und mir hat ein Vorstandsmitglied des Fachverbandes der pharmazeutischen Industrie aus Nordrhein-Westfalen, das es wissen müßte, erklärt: Solche Depots gibt es nicht, uns ist nicht einmal von Rundschreiben etwas bekannt, nach denen solche Depots eingerichtet werden sollten. Ich habe mich ferner bemüht, noch einmal die Gutachten herauszusuchen, die Professor Dr. Neuffer, der Präsident des Deutschen Ärztetages, der Vizepräsident der Bayerischen Ärztekammer, Dr. Sondermann, und der medinische Berater des Heimkehrerverbandes, Dr. Gursky im Verteidigungsausschuß zu der sanitären und atomaren Versorgung der deutschen Bevölkerung abgegeben haben. Ihre Darlegungen sind erschütternd; sie gipfeln in folgender Feststellung:
In einem atomaren Konflikt ist die Zahl der Verwundeten, vor allem der mit schwersten Verbrennungen, so unermeßlich groß, daß für ihren Abtransport binnen 24 Stunden allein, wenn man 50 000 Verwundete annimmt, 2000 Ärzte gebraucht werden, einige Tausend freiwillige in der ersten Hilfe ausgebildete Helferinnen und Helfer, 100 bis 300 Lastwagen zum Abtransport und 80 bis 100 Güterwagen zum An- und Abfahren des Materials.
Meine Damen und Herren, wir alle sind doch in unseren Wahlkreisen Zeugen. Was ist denn bisher im Hinblick auf die Sicherstellung dieser sanitären Versorgung durch Anlage von Depots, durch Ausbildung unserer Bevölkerung in der Ersten Hilfe geschehen? Die Zahl von einer Million ausgebildeten Helfern wage ich auf Grund der Kenntnis dieses Problems zu bestreiten.
Man hat wahrscheinlich alle im Roten Kreuz tätigen, alle im Luftschutz Tätigen summiert und ist am Ende zu einer Million gekommen. Fragen Sie doch einmal Rot-Kreuz-Helferinnen und Rot-KreuzMitglieder; sie sitzen doch hier auf der Tribüne. Ich habe es in der Mittagszeit getan. Sie erklärten: Keine Spur, wir sind bisher in keiner Weise über die Folgen atomarer Verletzungen geschult worden.
Sind denn weiter die Blutgruppen bestimmt worden? Hat jeder von uns jene Blutgruppen bestimmung bei sich, die es gestattet, ihm nach wenigen Minuten das Blutplasma zu transfundieren? Hier ist die Erkennungsmarke des Bundeserkennungsdienstes der Bundesrepublik Deutschland. Vor fünf Jahren wurde dieses Muster fabriziert. Auf diesem Muster stehen der Name des Trägers, Vorname, Geburtsdatum, die Blutgruppe, der Fingerabdruck in Miniatur. Es stehen die Adressen der nächsten Angehörigen darauf. Es ist jener schreckliche Dosimeter mit einer roten Nadel dabei, und es steht hier in Miniatur auch die Bedienungsanweisung für den Dosimeter. Da heißt es:
Bedienungsanweisung
1. Nur auf Anordnung mit Nadel alle Löcher der E-Marke durchstechen. Dadurch erfolgt die Übertragung der Lochschriftregistriernusnmer auf den Meßfilm in der Kassette.
2. Hohlniet lösen und Kassette von der E-Marke abtrennen.
3. Kassette zur Meßfilmauswertung an Sammelstelle abliefern.
4. Vor Hitze und Nässe schützen.
Warum sind diese Erkennungsmarken noch nicht wenigstens an die Kinder und Frauen im Bundesgebiet ausgegeben, damit wir nicht noch einmal diesen schrecklichen Kindersuchdienst erleben? Tausende von Kindern suchen heute noch ihre Eltern trotz Rundfunk und Kindersuchdienst des Deutschen Fernsehens, und Tausende Eltern suchen heute noch ihre Kinder. Nicht einmal das Primitivste ist geschehen, noch nicht einmal diese Erkennungsmarken der Bundesrepublik Deutschland sind ausgegeben worden, aus Angst, daß man der Bevölkerung die volle Wahrheit sagen müßte.
Meine Damen und Herren, man kann daher nicht so tun, als wenn wir uns in der Frage des Schutzes unserer Zivilbevölkerung wirklich so bemüht hätten, wie wir es hätten tun sollen. Ich spreche den Vorwurf hier gegen uns alle aus. Wir haben vor lauter Diskussionen um die Aufstellung mobiler Verbände, vor lauter neuen Milliarden für die aktive Verteidigung auch nicht das Primitivste für den Schutz der deutschen Zivilbevölkerung getan. Das ist der Vorwurf gegen alle hier,
niemand darf sich ausnehmen! Er mag hier und da modifiziert werden. Die Regierung trägt mehr Verantwortung, die Opposition weniger, sie hat gelegentlich darauf hingewiesen.
Main sollte also in Iden kommenden Beratungen des Haushalts. noch bei der dritten Lesung, versuchen, eine Relation zwischen den Ausgaben für die aktive Verteidigung und den notwendigen Ausgaben für die passive Verteidigung, für den Schutz der Zivilbevölkerung, zu finden. Man sollte die Bevölkerung über Atomschäden aufklären; man sollte sie über die Erste Hilfe bei Atomverbrennungen ,aufklären. Man sollte ihr sagen, was Selbstschutz ist und was der einzelne dafür tun kann. Man sollte versuchen, die Nachbarschaftshilfe dafür zu mobilisieren. Es ist besser, seinem Volk alle bittere Wahrheit zu sagen, wie Churchill es 1940 tat, als er England nur Blut und Tränen versprach, als es in einer Euphorie eines bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders zu halten und der Realität nicht ins Auge zu sehen.
Lassen Sie mich weiter zu der Frage des Schutzes der Zivilbevölkerung sprechen. Als wir unlängst bei der NATO waren — ich will keine militärischen Geheimnisse preisgeben; das zu tun können Sie nicht von mir erwarten —, haben wir auch über ,die Frage der Evakuierung gesprochen. Man hat uns erklärt, daß durch die Entwicklung der Kontinental- und Transkontinentalraketen das frühere Evakuierungsprogramm der NATO überholt sei; denn man habe gar keine Zeit mehr, große Mengen der Bevölkerung zu bewegen. Aber selbst
wenn man sie irgendwohin bewegte, kann niemand eine Garantie dafür geben, ob nicht der evakuierte Teil durch radioaktive Verseuchung infolge der Unbilden ,der Witterung, die sich ja nicht vorausberechnen lassen, wesentlich mehr bedroht ist als der Teil, aus dem sie gerade evakuiert sind.
Die Warnzeit für Deutschland und für Westeuropa, sagte ein hoher verantwortlicher Fachmann, beträgt drei bis fünf Minuten. Wie wollen Sie dann, so sagt der Fachmann, noch in Großbunker kommen? Aber selbst wenn Sie dahin kommen, wie wollen Sie sicherstellen, daß Sie da bei der kolossalen radioaktiven Verseuchung auch überleben? Die Konsequenz war — und 'auch die forderte dieser hohe verantwortliche Mann —: Das beste ist der relative Schutz, der Selbstschutz in dem unmittelbar erreichbaren Raum, wiederum etwas vulgär ausgedrückt, das Panzerdeckungsloch oder der kleine Behelfsbunker im eigenen Garten mit der 10-Liter-Wasserkanne zwischen dien Beinen, dem Esbit-Kocher in der Tasche und dem Vaterunser auf den Lippen.
Aber das müssen wir doch dier Bevölkerung klar sagen, was sie überhaupt noch für Chancen hat. Und nun lese ich — ich bejahe dieses Gutachten —, daß ein relativer Schutz möglich ist, kein absoluter. Jawohl! Schlimm würde es mit uns stehen, wenn wir uns selbst aufgäben. Aber die Angabe in diesem Gutachten, daß auch noch 30 % der Bevölkerung evakuiert werden könnten, ist überholt. Niemand von uns wird annehmen können, daß man von den 15 Millionen Einwohnern Nordrhein-Westfalens in hochgespannten Zeiten 5 Millionen ordnungsgemäß irgendwohin evakuieren, ordnungsgemäß unterbringen, verpflegen und versorgen könnte. Wir sollten uns vielmehr einstellen auf den Selbstschutz, auf die Auflockerung unserer Wohnweise, d. h. mehr denn je gilt der Satz: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Die Zeit des Massenschutzes ist bei der Reichweite und Schnelligkeit der interkontinentalen Raketen leider vorbei.
Aber auch die normalen Versuche haben Folgen :gezeitigt; wir können sie im Bericht dier amerikanischen Wissenschaftler dier Nationalen Akademie für Wissenschaften in Washington nachlesen. Ich gebe sie Ihnen hier bekannt, weil sie auch zu einigen optimistischen Darstellungen der atomaren Gefahr in Widerspruch stehen, wie wir sie von Regierungsseite gehört haben. Es heißt hier — und ich bitte Sie, genau zuzuhören — in der Übersetzung des Gutachtens, das mehr als hundert Wissenschaftler aller Fachrichtungen in Amerika erarbeitet haben:
Es gibt keine ungefährliche Dosis. Aus diesen Feststellungen ziehen wir eine wichtige Schlußfolgerung. Man hat teilweise angenommen, daß es eine bestimmte Dosisleistung gäbe, die der Mensch ohne direkte Schädigung seiner eigenen Person ertragen könne. Eine solche Toleranz-Dosis-Leistung gibt es jedoch für die genetische Schädigung nicht.
Was hier zählt, ist nur die Gesamtdosis vom Beginn des Lebens bis zum Zeitpunkt der Zeugung der Kinder.
Das Problem, genetische Schäden zu definieren und zu bestimmen, ist außerordentlich schwierig. Wir müssen hier mindestens drei verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen. Der erste Gesichtspunkt legt Gewicht auf die unmittelbare und spätere Nachkommenschaft der Personen, die aus gewerblichen oder anderen
Gründen eine beträchtlich höhere Strahlendosis als im Mittel die Gesamtbevölkerung erhalten hat.
Der zweite Gesichtspunkt befaßt sich mit der Wirkung einer mittleren Dosis auf die Bevölkerung als Ganzes.
Der dritte Standpunkt betrachtet schließlich die Möglichkeit, daß durch eine größere, dauernde Strahlenbelastung die Todesrate ansteigen und die Geburtenzahl der Gesamtbevölkerung vermindert wird. So kann es zu einer Abnahme und eventuell zum Aussterben der Bevölkerung kommen. Wir sind zur Zeit noch völlig im ungewissen, wie groß die Dosis dieser gefährlichen Grenze für die menschliche Bevölkerung ist. Um so mehr müssen wir mit einer weiteren Strahlenbelastung der Gesamtbevölkerung vorsichtig sein.
Das ergänzt das, was heute vormittag schon bezüglich der Äußerungen Seiner Heiligkeit des Papstes Pius XII., Albert Schweitzers und des bekannten amerikanischen Atomphysikers erklärt wurde.
Es gibt in der Bundesrepublik seit wenigen Wochen oder Monaten eine sensationelle Entdekkung. Auch das erfahren wir nicht aus den Informationen des Verteidigungsministeriums oder des Atomministeriums oder aus .dem Ausschuß für Innere Verwaltung, dier sich mit Luftschutzfragen beschäftigt. Professor Rajewski, der im Auftrag der Bundesregierung die Verseuchung von Atmosphäre und Wasser untersucht, hat festgestellt, daß geringere Dosen als 25 Mikroröntgen, die ursprünglich als Toleranzdosis angesehen wurden, Funktionsstörungen beim Menschen auslösen können. Das Problem der radioaktiven Einwirkung auf dein lebenden Organismus scheint nach allen internationalen Äußerungen nicht eindeutig und erschöpfend geklärt zu sein. Immerhin muß es uns alle äußerst beunruhigen, wenn Professor Schweitzer feststellt, daß die inzwischen durch die Versuchsexplosionen erfolgte radioaktive Aufladung der Atmosphäre, selbst wenn weitere Experimente nicht mehr stattfinden, die Atmosphäre radioaktiv verseucht hat und diese Verseuchung noch auf Jahrzehnte hin anhalten wird.
Nun hat ein westdeutscher Arzt, dessen Namen ich dem Bundesinnenminister gern bekanntgebe, festgestellt, daß es ein Instrument gibt — er ließ es bei den physikalisch-technischen Werkstätten in Wiesbaden-Dotzheim fabrizieren —, das genaue Aufklärung über das Energiegeschehen im menschlichen Körper ermöglicht, und zwar mit Hilfe einer Ultrarotstrahlenmessung. Mit diesem Gerät gelingt ein Nachweis der Störung menschlicher Energieverhältnisse schon bei niedrigen Strahlendosen. „Es mag sein. daß mancher", so schreibt dieser Wissenschaftler, „von diesen Feststellungen über Frühschäden durch Radioaktivität nichts wissen will". Entscheidend ist aber, daß nach dem Forschungsergebnis des erwähnten Arztes solche frühen Störungen durch Eingriffe in den Energieablauf biologisch behoben werden können. Nun das Interessante: bei diesem Arzt, der nicht weit von hier in der Gegend rides Lahntals wohnt. sind wohl Vertreter der amerikanischen Behörden aus Los Angeles, ein Mitglied der südamerikanischen Atomenergiekommission und leider auch Vertreter des Pankower Gesundheitsministeriums aufgetreten. Aber keine der dafür verantwortlichen
offiziellen Banner Regierungsstellen, auch nicht die Gesundheitsabteilung des Bundesinnenministeriums, hat sich bisher bemüht, mit diesem Arzt in Verbindung zu treten, um zu erfahren, ob es nicht doch schon ein Minimum gewisser therapeutischer Maßnahmen gibt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen. Herr Kollege Becker hat mir, von Straßburg zurückkommend, noch ein weiteres Argument mitbringen können bezüglich des Unterschiedes, Herr Kollege Dr. Gerstenmaier, zwischen atomarer Bewaffnung und thermonuklearer Ausrüstung, d. h. der Ausrüstung mit Wasserstoffbomben und der Ausrüstung mit den sogenannten taktischen atomaren Waffen. In dem Dokument Nr. 38 der Versammlung der Westeuropäischen Union, im Bericht dies Berichterstatters Fens, heißt es auf Seite 38 in Artikel 17 — es ist ein sehr wichtiger Artikel, ich übersetze ihn —:
Die Frage, wer die Ermächtigung zur Anwendung der Atomwaffen gibt, hat offenlichtlich die hohen Offiziere sehr beschäftigt. Es ist klar, daß die Anwendung der Wasserstoffbombe auf höchster Ebene im politischen Bereich beschlossen werden muß.
Das heißt, 'daß die politisch verantwortlichen Instanzen sich die letzte Entscheidung vorbehalten. Aber es heißt weiter:
Aber ,die taktischen Atomwaffen, die sicher ein wesentlicher Bestandteil der Standard-Ausrüstung moderner Armeen sein werden, werfen eine andere Frage auf. Der Zukunftskrieg wird ohne Zweifel ein plötzlicher sein, ein Blitzkrieg sein. Die taktischen Planungen werden nicht warten können, bis eine Entscheidung aus Washington oder anderswo eintrifft.
Das heißt, während bei der Wasserstoffbombe wenigstens die verantwortlichen Politiker die letzte Entscheidung, auch rein technisch, noch haben können, ist beider Ausstattung mit atomaren Waffen eine solche Einschaltung politischer Instanzen, die die oberste Verantwortung tragen, technisch nicht mehr- möglich. Das heißt, der jeweils die Kommandogewalt innehabende Befehlshaber wird dann, ganz gleich was wir hier denken, die Auslösung befehlen.
Damit komme ich wieder zu der Forderung — das ist ein weiteres Argument —, bei aller Bejahung moderner Gliederung, Ausrüstung und Bewaffnung der Bundeswehr die Ausrüstung mit taktischen Atomwaffen nicht durchzuführen. Solange auch nur noch die geringste Chance für die Wiedervereinigung Deutschlands besteht, sollten wir nicht noch mehr Sprengstoff mitten in unserem Land anhäufen, sondern wir sollten versuchen, durch die Weiterverfolgung der Edenschen Gedankengänge zur Entspannung beizutragen und damit zur Wiedervereinigung und damit letzten Endes auch zur Schaffung eines größeren Europa, das 'durch Deutschlands Wiedervereinigung überhaupt erst möglich wird.
Wir Deutschen sollten mit gutem Grund die Initiative ergreifen. Schließlich ist es der Zusammenfügung der Einsteinschen Relativitätstheorie mit der Planckschen Quantentheorie und der Strassmanschen und Hahnschen Kernenergiespaltung insgesamt zu verdanken, daß der Natur das Geheimnis entlockt wurde. Genauso wie nach der
antiken Sage Prometheus, ,als er den Göttern das Feuer nahm und es den Menschen brachte, ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte eingeleitet hat, so hat die Kernspaltung durch jene Kombination Einsteinscher, Planckscher und HahnStrassmannscher Gedankengänge ein neues Zeitalter für unsere Menschheitsgeschichte eingeleitet. Es stimmt, was Einstein noch vor seinem Tode erklärte: „Die Menschheit steht vor der Wahl, ob sie diese Erkenntnisse ihres Geistes zu ihrer Selbstvernichtung oder zu friedlicher Entwicklung mißbrauchen oder gebrauchen wird." Ich stimme völlig dem zu, was in moralisch-ethischer Hinsicht unser Kollege Dr. Schmid und unser Kollege Dr. Gerstenmaier hier gesagt haben; sie bezogen sich zum Teil auf die Äußerungen des Theologen Professor Thielicke, zum Teil auf andere Männer des deutschen Geisteslebens, zum Teil auf Männer aus Kirchen und Kultur. Aber gerade daß auf deutschem Boden die erste Kernspaltung erfolgte, ist, wenn man schon in der Politik die moralisch-ethische Verpflichtung sieht, für uns eine Verpflichtung, eben hier vom deutschen Boden aus zur Bannung des Verhängnisses aufzurufen.
Schließlich haben wir außerdem die größte Hypothek des zweiten Weltkrieges zu tragen. Wir haben 7 Millionen Tote und Vermißte. Das sind 10 % unserer Substanz und ist damit die 'höchste Verlustzahl aller kriegführenden Nationen des zweiten Weltkrieges. Was wir anderen durch eine kurzsichtige Gewaltpolitik zugefügt haben, das haben wir um ein Vielfaches ,gebüßt. 'Sehen wir die Entwicklung der Geschichte so, 'daß sich aus der besonderen Lage Deutschlands die Verpflichtung ergibt, uns auch mit besonderen sittlichen Beiträgen an der Lösung des schwerwiegenden Problems zu beteiligen! Was nützen uns alle Siege, alle Erfolge, wenn dieser Substanzverlust von 7 Millionen Menschen in einem möglichen dritten Weltkrieg um ein Vielfaches übertroffen würde!
Der Krieg ist nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Diese neuen Waffen haben den Krieg nicht quantitativ, sondern qualitativ verändert. Der Mensch ist von der Materie übermannt, und es muß gelingen, daß sein Geist wieder Herr über die Materie wird. Ideen bewegen die Welt. Lassen wir uns doch nicht durch kurzsichtige Planungen irgendwelcher Art von dem Fernziel ablenken, das sowohl in der Freiheit für das ganze deutsche Volk wie in der Sicherheit für die ganze Welt und den Frieden liegen muß.
Wir Freien Demokraten haben Ihnen auf Umdruck 1096*) eine Entschließung vorgelegt. Wir haben den ersten Absatz der Entschließung der sozialdemakratischen Opposition**) nicht aufgenommen, weil wir es für selbstverständlich halten, daß man von den in diesem ersten Absatz niedergelegten Erwägungen ausgeht. Warum soll man wiederholen, was in einem Antrag steht? Aber in den anderen Absätzen legen wir Wert auf gewisse Differenzierung, und ich bitte, in Absatz 1 das Junktim zu sehen — ich ,habe Ihre Frage nicht vergessen, Herr Kollege Dr. Gerstenmaier —, das nicht nur formell, sondern 'auch materiell zwischen der Frage der Rüstung dieser Erde einerseits und der Chance der Londoner Gespräche und der Abrüstung andererseits besteht. Sollten alle Ergeb-
*) Siehe Anlage 4 **) Siehe Anlage 3
nisse fehlschlagen, sollte die letzte Hoffnung der Menschheit auf den Frieden fehlgehen, — dann ist es aus, dann ist das apokalyptische Verhängnis da; dann ist aber auch alles, was wir hier an schönen Reden ,gehalten haben, nichts mehr als nur noch Makulatur für die Papierzerreißmaschine. Der Absatz 1 heißt:
Die Bundesregierung wird ersucht,
einen Beitrag zur allgemeinen Abrüstung
durch den Verzicht auf die Ausrüstung der
Bundeswehr mit atomaren Waffen zu leisten.
In temporärer Hinsicht sind wir für die Vorleistung. Die Bundesrepublik soll eine Vorleistung erbringen. In materieller Hinsicht sind wir für eine Relation dieses Problems mit den Fragen der Abrüstung der gesamten Erde.