Herr Kollege Dr. Mende, ich möchte zweierlei sagen. Es kommt mir überhaupt nicht darauf an, daß die Bundeswehr mit Atomwaffen ausgestattet wird, —
um das klipp und klar und genau zu sagen.
— Meine Damen und Herren, bitte, machen wir uns doch die Diskussion nicht noch unnötig schwer. Es geht ja heute nicht etwa um einen Beschluß,
daß die Bundeswehr mit Atomwaffen ausgestattet werden soll.
- Nein, nein, meine Damen und Herren, auch wenn es schwierig ist, so feine Unterschiede zu machen, sie müssen im Interesse der Sachgerechtigkeit gemacht werden! Es geht heute nicht um den Beschluß: Die Bundeswehr muß mit Atomwaffen bewaffnet werden! Keine Spur!
Ich stimme übrigens darin dem Kollegen Bucher zu, daß es töricht wäre, eine solche Forderung unter dem Gesichtspunkt zu erheben: Die Deutschen können nicht schlechter bewaffnet sein als die anderen. Keine Spur von all dem! Nein, Herr Kollege Dr. Mende, ich gründe meine Weisheit auf das, was zu diesem Punkt sehr viel sachverständigere als ich gesagt haben, nämlich die Generale Heusinger und Speidel. Auf diese Fachweisheit stütze ich mich. Die Herren erklären doch: Es ist einfach nicht möglich, in einer integrierten Armee auf die Dauer eine prinzipielle Verschiedenartigkeit zu installieren, wie sie sich dann ergeben würde, wenn der Deutsche Bundestag beschlösse, unter allen Umständen einen Verzicht auf die atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu leisten.
— Meine Damen und Herren, das ist doch kein Ausweichen! Ich verstehe ja, daß es mühsam ist, immerfort in diesen Differenzierungen zu reden, aber wir kommen in der ganzen Geschichte nicht weiter, wenn wir uns nicht die Mühe machen, differenziert vorzugehen.
Ich kann mich jedenfalls nicht zu der Ansicht bekennen, daß in einem Ernstfall Deutschland nur deshalb vor Atomgeschossen sicher wäre, weil seine — Herr Kollege Mende, das werden Sie nicht bestreiten — auch in diesem Ernstfall ja als NATO-Kontingent operierende Bundeswehr keine atomare Bewaffnung besäße oder in Deutschland im übrigen keine Atomwaffen stationiert wären. Ich bin noch nicht 'dahintergekommen, worin eigentlich die Chancen liegen sollen, daß wir dann vor dem Atomschlag sicher wären und ausgespart würden.
Ich kann nur sagen, wir müssen davon ausgehen, daß wir seit den Äußerungen der militärischen NATO-Führer wissen — Herr Kollege Mende, wenn Sie das widerlegen könnten, so wäre das sicher interessant, nicht nur für das Haus, sondern für das deutsche Volk —, daß eine dauernde verschiedenartige Bewaffnung, eine prinzipiell verschiedenartige Ausbildung der nationalen Kontingente zwangsläufig die militärische Zerrüttung, die teilweise Lähmung der NATO in ihrem seitherigen Rahmen zur Folge haben würde.
- Bitte sehr!
Ich frage: Darf man die Konsequenzen, die sich aus einer solchen Schwächung unseres jetzigen Schutzsystems ergeben, ignorieren? Wir halten das für ganz unvertretbar, und zwar nicht nur im
j Blick auf die ernste Minderung der westlichen Machtposition für den Angriffsfall, sondern unabhängig vom Angriffsfall, also von der militärischen Operation, schon jetzt für den von uns gesuchten und mit allen Kräften angestrebten Verhandlungsfall.
Denn auf ihn kommt es doch heute an. Wir stimmen deshalb mit dem belgischen Sozialisten Spaak überein, der sich nicht weniger entschieden als der Bundeskanzler der Zumutung der Sowjetunion widersetzt hat, daß irgendeine NATO-Macht ohne eine angemessene russische Gegenleistung auf die Dauer auf gleichwertige Bewaffnung verzichtet.
Aber wie steht es nun mit dem politischen Verhandlungswert der Atomwaffen? Auch ich komme hier zurück auf die noble Rede, die Professor von Weizsäcker kürzlich vor den Bonner Studenten gehalten hat. Herr von Weizsäcker hat zwei lapidare Sätze aufgestellt. Den einen davon hat der Kollege Schmid heute morgen schon zitiert. Ich möchte es noch einmal tun. Herr von Weizsäcker hat gesagt:
Die großen Bomben erfüllen ihren Zweck, den Frieden und die Freiheit zu schützen, nur, wenn sie nie fallen. Sie erfüllen ihren Zweck aber nicht, wenn jedermann weiß, daß sie nie fallen werden.
Nun, diese Sätze haben ganz gewiß etwas Bestechendes. Aber, meine Damen und Herren, denken wir darüber nach. Sie sind nur zur Hälfte richtig; denn Herr von Weizsäcker hat zwar damit recht, daß die großen Bomben der Abschreckung dienen und ihren positiven Zweck in der Tat nur dann erfüllen, wenn sie nie fallen; aber, meine Damen und Herren, so schrecklich ist die Welt, daß niemand wissen kann, daß sie nie fallen!
Wer an Angriff denkt, muß im Gegenteil damit rechnen, daß sie sicher fallen. So unerhört stehen die Dinge jedenfalls heute ohne internationale Entspannung und ohne kontrollierte Abrüstung.
Ich glaube, es ist von großer Wichtigkeit, ganz gleichgültig, welche Schlüsse wir im einzelnen daraus ziehen wollen, daß wir das jedenfalls ernst nehmen. Niemand kann den zweiten Satz von Herrn von Weizäcker beweisen, daß jedermann wissen kann, daß sie nie fallen. Nein, selbst wenn wir Deutsche nicht damit einverstanden wären, daßauch im Angriffsfall Atombomben fallen, würde das an der bestehenden Situation nichts ändern. Wir würden nur isoliert, ohne jede Mitsprache-und Einflußmöglichkeit auf die Strategie und den Waffeneinsatz der kriegführenden Mächte sein. Wir wären prädestiniert zum Schlachtfeld der konventionellen oder der Atomwaffen der anderen, ohne im mindesten auch nur eine Einsprachemöglichkeit zu haben. Mindestens aber liefen wir Gefahr, daß ,der Osten wie der Westen bemüht wären, Deutschlands Industriepotential dem gegnerischen Zugriff entweder durch Vernichtung oder durch Besetzung zu entziehen.
Damit wäre Deutschland nicht zwischen, sondern in zwei Feuern. Oder glaubt jemand, daß eine selbst fünfmal teurere und größere deutsche Nationalarmee in der Lage wäre, so etwas zu verhindern? Nein, meine Damen und Herren, die Neutralisierung ist eben, auch in ihrem nur-militärischen
Kostüm, von allen moralischen und politischen Zusammenhängen abgesehen, kein Ausweg für uns.
NATO und atomare Rüstung der NATO besagen heute nicht mehr und nicht 'weniger als dies: Wenn wir oder einer von uns schuldlos mit der Waffe angegriffen werden, dann reagieren wir unverzüglich ,entsprechend.
Es ist wahr, daß, so wie die Dinge heute stehen, in diesem „entsprechend" eine große Schwierigkeit liegt. Es ist das Problem des großen und des kleinen Krieges, das ,die Frage enthält, ob und wann Atomwaffen eingesetzt werden. Wir kennen die amerikanische Erklärung, daß ein Angriff mit Atomwaffen zurückgewiesen werde. Als sicher muß man annehmen, daß ein sowjetischer ,atomarer Angriff den sofortigen atomaren Gegenschlag zur Folge hätte. Dank der Automatik der integrierten NATO würde dann der — zugegeben — seltene Fall eintreten, daß, selbst wenn ein solcher Überfall tödlich wäre, der Angreifer noch immer alles verlieren und seinen Angriff mit der eigenen Vernichtung bezahlen 'würde. In der Situation sind wir nun, ob wir es beklagen oder begrüßen. Hier gilt: Angriff heißt Selbstvernichtung! Dafür zu sorgen, daß dieser Satz wahr bleibt, das und nicht weniger ist die Aufgabe der NATO.
Es tut mir leid, daß wir das Problem, das uns quält, bis in diese Konsequenzen hinein ansprechen müssen. Aber das ist notwendig, um die tatsächliche Lage, ihren Ernst und ihre Konsequenzen klar ins Auge zu fassen. Aber es ist auch notwendig, um dem deutschen Volk einen Eindruck davon zu geben, daß wir, die Christlich-Demokratische und Christlich-Soziale Union, uns nicht mit Ausflucht oder Schönfärberei abzufinden bereit sind.
Ich verstehe, daß angesichts dieser Konsequenzen eines atomaren Gegenschlages ein gequältes menschliches Herz sich sagt:. Dann geschehe, was mag — dies ohne mich! Das, meine Damen und Herren, mag in der Tat heute die Grundstimmung — nicht weniger — im deutschen Volke sein. Um die Welt und das Leben zu retten, das sie lieben, nicht nur das menschliche, sondern das naturhaftkreatürliche, meinen sie, daß im Angriffsfall ganz grundsätzlich rauf den atomaren Gegenschlag verzichtet werden müsse. Ich meine, daß eine solche Haltung nicht nur nicht die Abweisung verdient: illusionär, sondern daß sie Respekt verdient. Aber die Denkenden, die dieser Überzeugung folgen, können doch auch nicht in Abrede stellen, daß mit einem solchen erklärten Verzicht die Gefahr des Angriffs, auch des Atomangriffs, nicht kleiner, sondern größer wird.
Und weil sie das gelten lassen müssen, stürzen sich gerade die guten Köpfe, die nämlich so weit denken in unserer Zeit, mit einem Salto mortale der Verzweiflung in die vollständige Resignation und sagen, daß uns nur noch die Wahl bliebe zwischen dem Atomtod und der Sklaverei.
Nun, wir sagen, daß diese Alternative, dieses Entweder-Oder, unwahr ist. Dieses Entweder-Oder kennzeichnet nicht die tatsächliche Lage, in der sich das deutsche Volk heute befindet. Dieses Entweder-Oder ist eine Vision der Verzweiflung, aber nicht der Wirklichkeit, die vor uns liegt.
Wäre jene Vision wahr, dann wäre es allerdings am besten, die Hände in den Schoß zu legen, aufzuhören, Bundestagsabgeordneter zu sein, und die Natur zu genießen, solang' sie uns noch blüht. Aber, meine Damen und Herren, diese Vision ist nicht wahr, und sie wird auch nicht wahr werden, solange wir uns in der freien Weh nicht blind und unbesonnen und tatenlos machen lassen von den Manövern Moskaus.
Zu den Gefahren, mit denen wir uns heute selber gefährden, nicht Sie, die Opposition, uns, sondern das deutsche Volk sich selber, gehört die Infragestellung des Rechts zum Widerstand. Ich weiß, daß diese Frage in der Epoche der Atombombe über ihre seitherigen Bereiche weit hinausgeht. Bei Carlo Schmid ist es heute morgen angeklungen: Wer kann sich dem entziehen! Es ist wahr; in der Epoche der Atombombe, wo, wie die Atomphysiker mit Recht sagen, auch der atomare Gegenschlag das Ende nicht nur für den Gegner, sondern für uns selbst wäre, geht die Frage mach dem Recht dies Widerstandes weit hinaus über die Bereiche, in denen wir sie zu diskutieren oder zu praktizieren gewöhnt waren.
Ich verzichte dabei von vornherein auf die Auseinandersetzung mit denen, die das Recht zum Widerstand überhaupt und grundsätzlich bestreiten. Aber wir können nicht an jenen vorübergehen, die im Blick auf die Weltgefährdung dies Atomkrieges die Inanspruchnahme des Widerstandsrechts in Zweifel ziehen. Ich verstehe diese Zweifel nicht nur, ich achte sie. Das ist keine Frage, über die man mit Mehrheit befinden kann, sondern ich weiß, daß das schließlich eine Frage des Gewissens des einzelnen ist. Aber ich glaube nicht, daß die weltgeschichtliche Situation, in der wir uns heute befinden, das Widerstandsrecht sinnlos macht und seiner realen Wirkung beraubt. Ich glaube vielmehr, daß uns dieses Recht heute in einer neuen, gewaltigen Dimension als eine unabweisbare Pflicht gegeben ist. Im Anblick sehr eindeutiger Situationen haben wir Deutsche leider höchst zu- rückhaltend von idem Widerstandsrecht Gebrauch gemacht. Damals ging es um die Herrschaft des Rechtes oder des Unrechtes im eigenen Vaterland, und dann ging es um Sein oder Nichtsein unserer Nation. Ich gebe zu, heute geht es möglicherweise um die Existenz der Welt, mindestens um die Existenz der freien Welt. Das verändert die Lage. Aber das verändert nicht die kategorische Geltung des sittlichen Rechtes und der darin beschlossenen Pflicht zum Widerstand.
Was heißt human sein? Human sein heißt doch, seine menschliche Berufung zu erfassen. Nun, mit der Berufung das Menschen zur Freiheit ist es auf unabsehbare Zeit vorbei, wenn wir, die Völker der freien Welt, die uns heute .gegebenen Chancen ausschlagen.
Worin, frage ich, bestehen diese Chancen? Erstens in der Einigkeit und in der Einigung der freien Welt, zweitens in ihrem ebenso zähen wie geduldigen Bemühen um Ausgleich und Frieden und drittens — ich muß es sagen — in ihrer Entschlossenheit zum Widerstand gegen jeden Angriff und notfalls mit allen Mitteln. Ist das nun eine Drohung? Das ist keine Drohung, meine Damen und
Herren, jedenfalls keine Drohung im aggressiven Sinn des Wortes, sondern das isst eine höchst wirksame und, Gott sei es geklagt, einstweilen leider unentbehrliche Abschreckung.
— Ja, mit allen Mitteln; sehen Sie, so schrecklich ist die Welt
— Ja, wissen Sie: das heißt auch, man sell keinen Mord geschehen lassen.
Heute heißt das Gebot: Du sollst nicht töten; alle Kräfte her zu denen, die gewillt sind, dem Mörder in den Arm zu fallen, damit er den Stoß nicht führen kann.
Der Mann, der als erster das Atom gespalten hat
— es ist ein Deutscher —, fragte neulich im „Münchner Merkur" : Warum entwickelt man die Wasserstoffbombe? Er antwortete darauf selbst:
Ich könnte mir zwei kurze Antworten denken, die eigentlich das gleiche bedeuten: Angst respektive Friedensliebe. Angst vor einem Gegner, der ebenfalls in der Lage ist, Wasserstoffbomben herzustellen, Friedensliebe, um den Gegner zu hindern, einen Atomkrieg zu entfesseln, weil der Gegenschlag dann einsetzen würde.
Professor Hahn fährt fort:
Wir erinnern uns an die Warnung von Churchill aus dem Jahre 1942 an Hitler vor der AnWendung von Giftgas im Kriege und der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen mit den gleichen Waffen. Vermutlich war es diese Warnung, daß Giftgase während des zweiten Weltkrieges nicht verwendet worden sind; vorhanden waren sie auf beiden Seiten.
So Professor Otto Hahn am 27. April 1957.
Heute früh war hier schon die Frage angesprochen worden: Was hat eigentlich den Ausbruch des zweiten Weltkrieges gefördert, oder was hätte ihn verhindern können? Es ist immer mißlich, über eine abgeschlossene geschichtliche Situation hinterher zu reden. Man ist hinterher immer viel klüger. Aber ich glaube, man kann gegen den Einwand nicht viel vorbringen, daß damals der Angriff Hitlers auf Polen mit dadurch zustande gekommen ist, jedenfalls eher gefördert als gehindert wurde, weil Hitler in Kenntnis der denkbar schlechten Rüstungssituation seiner potentiellen Gegner, also der Amerikaner, der Engländer und der Franzosen, war.
Nun machte ich noch etwas sagen, und es tut mir leid, daß ich es in Kontroverse zu meinem Freund Carlo Schmid sagen muß. Heute morgen ist mit großem Nachdruck die These aufgestellt worden, daß doch eine Differenzierung stattfinden müsse, die sich aus der besonderen Situation Deutschlands — aus unserer Lage vorn in der ersten Reihe — im Vergleich zu den sehr viel tiefer dahinterliegenden Atommächten Großbritannien und Amerika ergebe. Auf der anderen Seite aber hat der Kollege Erler durchaus einleuchtend klargemacht — und wir sind doch davon alle
überzeugt —: wenn ein Atomkrieg losginge, würde er offensichtlich nicht nur ganze Völker, sondern voraussichtlich die ganze Welt — ich nehme mindestens an: die europäisch-atlantische Welt —, auf das tiefste in Mitleidenschaft ziehen.
Ich komme aus der Inkonsequenz nicht heraus, die nach meinem Eindruck darin besteht, daß auf der einen Seite die Weltgefahr des Atomkrieges richtig erkannt und richtig angesprochen wird und daß sich niemand erlaubt hat, sie zu beschwichtigen oder zu bagatellisieren, daß man aber auf der anderen Seite doch noch meint im Ernstfall mit der taktischen, prinzipiellen, politischen Differenzierung oder Distanzierung der Bundesrepublik etwas ausrichten zu können.