Herr Kollege Erler, ich bedanke mich für Ihre Frage; es ist genau das, was ich hier sagen will, und ich freue mich dieser Übereinstimmung und daß wir in dieser Weise diskutieren. Ich will meinerseits nur sagen: so wie die Dinge heute liegen — und auch darin werden wir uns nicht unterscheiden —, halte ich es jedenfalls für unrealistisch, daß den Bemühungen um eine weltpolitische Entspannung etwa in Verbindung mit einer neuen Einigung über die Kompetenzen und Funktionen der Vereinten Nationen und ihres Weltsicherheitsrats weniger Chancen gegeben werden als über die Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems. Die Chancen für die Revision, für die Heilung der Vereinten Nationen und ihrer Weltfriedensordnung scheinen mir im Augenblick, solange eine durchgreifende internationale Entspannung mit kontrollierter Abrüstung nicht stattgefunden hat, so schlecht zu sein wie die Chancen für die Errichtung eines davon unabhängigen europäischen Sicherheitssystems.
Ich möchte nun nicht noch einmal riskieren, daß mir bei dieser kritischen Betrachtung der Vereinten Nationen irgendwie unterstellt wird, daß ich eine unehrerbietige Kritik an ihnen üben möchte. Meine Damen und Herren, das liegt mir vollkommen fern. Ich meine nur, daß es einstweilen mit den Chancen eines europäischen Sicherheitssystems und damit mit der Konzeption, aus der heraus die heute zur Debatte stehenden konkreten Forderungen der SPD begründet und von der sie getragen sind, mindestens so schlecht bestellt ist wie mit den Chancen der Verbesserung der Situation der Vereinten Nationen und der durchgreifenden Revision ihres Weltsicherheitsrats.
Graf Coudenhove-Kalergi — Hut ab vor dem Veteran der europäischen Einigung! — hat kürzlich in Gelsenkirchen eine Rede gehalten, die mich eigentlich erschüttert hat, weil dieser Mann, der doch ernsthaft die Fragen erörtert hat, ob nicht nur eine europäische Einigung, sondern am Ende nicht auch eine Weltregierung möglich ist, ja, angestrebt werden müsse, dort gesagt hat: „Tribüne des Völkerhasses und Schauplatz des Kalten Krieges". Meine Damen und Herren, es ist nichts damit getan, wenn wir das für eine unehrerbietige Kritik halten. Das ist nämlich keine unehrerbietige Kritik, sondern das ist ein vollendeter Ausdruck der Verzweiflung darüber, daß die große Hoffnung der Menschheit nach dem zweiten Weltkrieg, die sich gerade auf diese Weltfriedensordnung der Vereinten Nationen gegründet hat, gescheitert — oder dürfen wir sagen: einstweilen gescheitert? — ist.
Ich lasse dahingestellt, ob und wie sich die Opposition den Fortgang der europäischen Integration, zu der sie sich, wenn auch mit Zurückhaltung, bekannt hat, vorstellt, wenn der Status in Kraft treten sollte, den sie in ihrem europäischen Sicherheitssystem für das wiedervereinigte Deutschland vorgesehen hatte. Ich lasse schließlich sogar die Frage beiseite, ob die angestrebten Garantien der beiden Weltmächte als gleichwertig und gleichgewichtig angesehen werden können.
Ich habe verstanden, daß heute morgen in der Diskussion zwischen dem Herrn Bundesverteidigungsminister in seiner Eigenschaft als Abgeordneter der CSU und dem Herrn Kollegen Schmid gerade diese Frage angesprochen worden ist. Mir liegt überhaupt nichts daran, Öl in das Feuer zu gießen, jedenfalls gar nicht bei dieser innenpolitisch und außenpolitisch wichtigen Frage. Ich habe seit Jahr und Tag einer aktiven deutschen Rußlandpolitik mit dem Ziele des Ausgleichs und der Versöhnung das Wort geredet, und ich möchte es auch heute tun, obwohl die Weltlage alles andere als ermutigend dafür ist. Aber schließlich und endlich hat es ja keinen Zweck, nur unsere Wünsche und unsere Grund- und Herzensgesinnung der Welt vorzutragen, sondern wir müssen uns vergegenwärtigen, was wirklich ist. Schließlich haben uns
die russischen Panzer in Budapest an die rauhe Wirklichkeit erinnert.
— Eine Sekunde, meine Damen und Herren! Ich sage das nicht deshalb, weil das noch in aller Erinnerung ist, und auch nicht deshalb, weil ich damit irgend etwas verschärfen möchte, sondern ich glaube, daß das wichtig ist für die Beurteilung der Frage, ob sich in der inneren Entwicklung Rußlands, etwa in der Auffassung der regierenden Kräfte Moskaus, zwischen 1947 und 1957 irgend etwas geändert hat. Man hätte sich ja vorstellen können, daß etwa die Männer, die jetzt das Schicksal Rußlands und eines großen Teils der Welt bestimmen, die Stalin-Entgötterung nicht nur unter allgemeinen ideologischen Gesichtspunkten der inneren Politik Rußlands betrieben haben, sondern daß sie auch gegen Stalins Außenpolitik und die von ihm gewählten Mittel anzugehen beabsichtigen.
Nun, ich glaube, daß die Ereignisse in Ungarn, das Ereignis Budapest nicht nur deshalb tief bedauerlich sind, weil sie unendlich vielen Menschen wieder das Leben, die Freiheit und die Heimat gekostet haben, sondern daß sie deshalb weltpolitisch so bedeutsam und tief bedauerlich sind, weil darin wieder die alten Methoden bestätigt wurden, exakt die Methoden Stalins. Unter Stalins Herrschaft hat Rußland zwar die Charta der Vereinten Nationen zu San Francisco im Sommer 1945 unterzeichnet, aber es hat keineswegs irgendeine Konsequenz für sein eigenes Verhalten daraus gezogen.
Beide, die Russen wie die Amerikaner, haben
die ebenso klare wie schöne Charta der Vereinten Nationen zu San Francisco unterschrieben. Sie schließt jede Aggression aus. Aber vor welcher Situation hat sich denn zwei Jahre später der ehemalige Bundesgenosse Moskaus, Harry Truman, gesehen? Hat er sich nicht zwei Jahre später, 1947, als ein ganz grausam Getäuschter vor der Notwendigkeit gesehen, dem ehemaligen russischen Bundesgenossen die Atombombe anzudrohen für den Fall, daß er seine Unterwerfung der ost- und südosteuropäischen Nationen auch nach Griechenland hinein fortsetze? Wie war es denn mit der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien? Der Bundesverteidigungsminister hat heute davon geredet. Ich füge nur hinzu: Diese Länder sind ja nicht aus freien Stücken unter die Herrschaft Moskaus getreten, sondern sie sind mit kalter Entschlossenheit und mit brutaler Hand dem sowjetischen Herrschaftsbereich eingegliedert worden, und das exakt in der Zeit, in der der Westen harmlos und sehr einseitig nur Abrüstung machte. Mir ist ein Erlebnis unvergeßlich: Es war wohl im Winter 1947/48, als ich zum ersten Mal durch Amerika reiste. Ich fuhr mit dem Zug von New York oder Washington nach St. Louis. Unterwegs kam ich an einem riesigen, ich weiß nicht wie langen Lager von abgestellten Flugzeugen vorbei. Ich fragte einen der amerikanischen Mitreisenden, was das denn sei. Er sagte: „Das ist Schrott, wir wollen abrüsten, denn jetzt haben wir ja die Vereinten Nationen!" Ich sage das nicht deshalb, weil ich der Meinung bin, daß heute irgend jemand darüber lachen dürfe. Im Gegenteil, das ist ein Erlebnis zum Weinen.
Daß es mit Jugoslawien anders ging, das hat die Welt in der Tat Herrn Tito zu verdanken, und daß es mit Griechenland, mit dem südlichen Korea und mit West-Berlin anders ging, das haben wir Amerika zu verdanken. Warum sollte das nicht gesagt werden? Das muß gesagt werden.
Noch ehe die Organisation der NATO stand, hat Amerika sich aus eigenem Entschluß dem weiteren Einbruch Rußlands in die freie Welt entgegengestellt und hat ihn durch diesen Widerstand — wie ich meine: allein durch diesen Widerstand — zum Stehen gebracht. Geschichtliche Erfahrungen von dieser Eindringlichkeit können nach meiner Überzeugung am allerwenigsten von uns Deutschen ignoriert werden.
Man kann die Frage stellen, ob die pragmatische Geschichtsschreibung einen Sinn habe. Das ist ein Gegenstand für Philosophen und andere Gelehrte. Aber wir können uns auf keinen Fall leisten, in irgendeiner Weise diese Ereignisse, die sich doch uns so nahe abgespielt haben, zu ignorieren.
Ich glaube also, daß die Verwirklichung des sozialdemokratischen Vorschlags eines europäischen Sicherheitssystems und damit des Rahmens, in dem die heute vertretenen Forderungen stehen und gesehen werden müssen, eben nicht nur davon abhängt, ob sich die Russen — was, das sage ich klipp und klar, ein klarer Fortschrit wäre — bereitfinden, auf einen solchen Gedanken einzugehen. Ich bin vielmehr der Meinung, daß die Verwirklichung dieses Gedankens entscheidend daran hängt, ob ein neutrales Gesamtdeutschland des seitherigen Schutzes und Beistandes der Vereinigten Staaten von Amerika unter allen Umständen gewiß sein dürfte. Diese Frage ist offen. Wenn sie offenbliebe — geschweige, wenn sie verneint werden würde —, könnte über die außenpolitische Leitidee der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nach meiner Überzeugung im Ernste überhaupt nicht mehr geredet werden. Meine Herren, seien Sie mir nicht böse, daß ich das so sage. Aber es muß um der Klarheit willen gesagt werden. Ich glaube, Sie könnten sich sogar damit einverstanden erklären. Wenn diese Frage auch nur offenbliebe, könnte über den Leitgedanken Ihres europäischen Sicherheitssystems nicht mehr geredet werden. Die einzige Chance, die in diesem Gedanken nach meiner Überzeugung liegt, ist die, daß immerhin kein Nein dazu erfolgt ist, daß die Frage noch offen ist. Aber wir wissen nur, daß auf der anderen Seite Sowjetrußland bis zu dieser Stunde sich nicht bereit gefunden hat, auf den Gedanken eines europäischen Sicherheitssystems, wie ihn die SPD dem deutschen Volke vorgetragen hat, einzugehen.
Ich glaube, man muß das sagen, trotz des so absichtsvoll beiläufigen Silberklangs „Rapallo" in einigen Äußerungen der hiesigen sowjetischen Botschaft. Nicht einmal von der freien inneren Selbstbestimmung Gesamtdeutschlands — von der äußeren ganz zu schweigen — ist bislang die Rede gewesen, sondern nur von der Notwendigkeit — wenn wir die fabelhaften Dolmetscher von Pankow wenigstens einen Augenblick dafür als Dolmetscher ernst nehmen dürfen —, die sozialistischen Errungenschaften in Mitteldeutschland zu garantieren und sie auf Gesamtdeutschland zu überwälzen.
Das heißt, die Leute in Pankow denken immer noch: Wir müßten alle erst einmal rot, und zwar so blutrot werden, wie die Herren in Pankow das für richtig halten; dann könnte über die Wiedervereinigung geredet werden. Die Sowjetrussen haben bis jetzt nicht die mindesten Anhaltspunkte dafür geliefert, daß sie etwa anderer Meinung wären als diese ihre Dolmetscher von Pankow. Sie haben nicht den mindesten Anhaltspunkt dafür geliefert, daß ein neutrales Deutschland vor ihren politischen Interventionen sicher sein könnte. Von den militärischen rede ich keuscherweise in diesem Augenblick überhaupt nicht.
Auch die größten Kritiker unserer Politik werden auf der anderen Seite nicht in Zweifel ziehen können, daß eine Gefährdung der freien inneren Selbstbestimmung des deutschen Volkes im Sinne der Charta der Vereinten Nationen durch Amerika ganz gewiß nicht befürchtet zu werden braucht. Wir haben eben summa summarum mit den Vereinigten Staaten von Amerika die genau entgegengesetzte Erfahrung wie mit der Sowjetunion gemacht. Die Russen — ich bedaure, das sagen zu müssen — haben dem deutschen Volk den vergifteten Pfahl von Pankow tief in das Fleisch gestoßen, und immer noch wird daran gedreht. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben hingegen mit den anderen NATO-Mächten dem größeren Teile Deutschlands einen so wirkungsvollen Schutz gewährt, daß unter diesem Schirm der wirtschaftliche und der soziale Aufbau Deutschlands ermöglicht wurde und damit die einzig reale Voraussetzung für die Wiederherstellung ganz Deutschlands — in Freiheit jedenfalls — gerettet wurde.
Ich glaube, daß die weltpolitische Situation kurz so zusammengefaßt werden kann: Rußland hat die Vereinten Nationen an den Rand des Ruins gebracht. Ich finde nicht, daß wir uns leisten sollten, über das Weltfriedenskonzept der Vereinten Nationen in irgendeiner Weise geringschätzig zu denken. Es hat auch gar keinen Zweck, wenn wir heute daherkommen und die billige Kritik zulassen, daß die Vereinten Nationen genauso eine illusionäre Fehlkonstruktion wie einstens der Völkerbund seien. Ich billige eine solche Kritik in gar keiner Weise. Der ganze Trend der Weltgeschichte, der weltpolitischen Entwicklung geht auf eine weltumspannende, durchgreifende, exekutiv ausgestattete Weltfriedenssicherung.
Aber noch einmal: Kann man bei den Entscheidungen, mit denen wir es zu tun haben, auch nur einen einzigen Augenblick ignorieren, daß doch nun wirklich niemand anders als Sowjetrußland diese Weltfriedensordnung der Vereinten Nationen an den Rand des Ruins gebracht hat und daß Sowjetrußland dadurch eigentlich auch der wahre Urheber der Ersatzkonstruktion — zugegeben: nur einer sehr partiellen Ersatzkonstruktion — NATO mit gewesen ist? Denn was blieb eigentlich der westlichen, der zur Freiheit entschlossenen Welt übrig? Was blieb ihr denn übrig, nachdem die Weltfriedensordnung der Vereinten Nationen nichts mehr hergab, als in Gottes Namen nach einer Ersatzkonstruktion zu suchen? Diese Ersatzkonstruktion steht in dem Nordatlantikpakt vor uns. Und jetzt — jetzt versuchen die Russen natürlich in dem Maß, in dem sich dieser
Pakt festigt, ganz genau das gleiche mit der NATO zu machen, was sie einstens mit den Vereinten Nationen gemacht haben.
Der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO liegt einfach in der Konsequenz dieser Ereignisse. Ich ziehe daraus nicht den Schluß, daß die Sozialdemokraten, die diesen Beitritt nicht mitgemacht haben
— meine Herren, bitte kein Mißverständnis, auch nicht für den Wahlkampf! —, es mit ihrer erklärten Solidarität mit der freien Wet nicht ernst meinen. Einen solchen Schluß hielte ich für töricht; denn man kann in der Tat über die Methode anderer Meinung sein.
Aber vielleicht könnte man doch zu dem Schluß bommen, daß bei einer so weitgehenden Übereinstimmung — jedenfalls im Ja zur freien Welt — die außenpolitische Linie der SPD und ihre Haltung in einzelnen außenpolitischen und auch in einzelnen Wehrfragen doch auch eine Funktion ihres seitherigen Schicksals sind, Opposition zu sein. Wie dem aber auch sei, meine Damen und Herren, ich bestreite nicht — —
— Bitte, meine Herren, keine Aufregung und keine Heiterkeit! Denn ich bin nach wie vor der Meinung, die ich im September 1949 an dieser Stelle zum ersten Mal ausgesprochen habe, daß es natürlich ein Segen und ein Glück für uns alle gewesen wäre, wenn wir in der einen oder anderen Weise zu einer gemeinsamen Außenpolitik hätten kommen können. Das ist ganz außer allem Zweifel, und bei dem fundamentalen Bekenntnis des ganzen Hauses zu der Solidarität mit der freien 'Welt bin ich nicht der Meinung, daß von allem Anfang an dafür überhaupt keine Chance vorhanden war. Ich will aber nicht alte traurige Kapitel aufblättern. Ich will nur sagen: Ich bestreite nicht, daß der von der SPD geforderte grundsätzliche Verzicht auf die atomare Bewaffnung der Bundeswehr völlig in der Konsequenz ihrer Ablehnung eines deutschen Verteidigungsbeitrages in der NATO liegt. Denn es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß die Annahme der heute von diesem Hause verlangten sozialdemokratischen Verzichtsforderung nicht nur den Wert des deutschen Beitrags in der NATO mindern würde, sondern auch die politisch-militärische Desintegration der NATO in ihrer heutigen Struktur mit größter Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte.
Nun, eine solche Zerrüttung der NATO könnte geheilt werden; aber ich glaube, sie könnte nur geheit werden mit einer neuen Festigung der NATO ohne deutsche Beteiligung und außerhalb Deutschlands. Damit wäre die SPD ganz und gar nicht am Ziel ihrer Wünsche. Wohl aber hätten die Sowjets damit ohne alle Gegenleistung einen gewaltigen Erfolg erzielt.
Ich fürchte, nicht zu übertreiben, wenn ich sage,
daß die geminderte militärische Verteidigungskraft
der NATO — also NATO minus Bundesrepublik
— mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, daß erstens Deutschland aufhören würde, gleichberechtigter Partner im Schutzsystem der NATO zu sein. Ich glaube, daß mindestens die Qualität der Sicherheitsgarantie des
Westens dadurch für uns empfindlich gemindert würde, wenn sie nicht überhaupt verschwinden würde.
Zweitens glaube ich, daß die politische und militärische Behandlung Deutschlands durch den Westen dann zwangsläufig nicht mehr unter bundesgenössischen Gesichtspunkten und den heute geltenden Vertragsbestimmungen zum Schutze unserer Sicherheit erfolgen würde. Denn entsprechend der so reduzierten Verteidigungskraft der NATO wäre die Behandlung Deutschlands im Ernstfalle militärischen und strategischen Erwägungen unterworfen, auf die wir doch mit größter Wahrscheinlichkeit keinen, jedenfalls keinen nennenswerten Einfluß mehr hätten.
Ich glaube, man muß das sehen, und man muß sich dann hier auch entscheiden. Wenn die Opposition in diesem Hause — und das gilt nicht nur für die SPD, die ja den NATO-Beitritt von Anfang an und grundsätzlich im Rahmen ihres anderen Systems abgelehnt hat, sondern das gilt leider auch für die FDP —, wenn die SPD und die FDP das riskieren wollen, dann sollen sie es tun. Wir jedenfalls können das nicht und wollen das nicht.
Deshalb wären wir auch gar nicht bereit, zuzulassen, daß die Bundesrepublik heute schon — ich sage: heute schon — einen grundsätzlichen Verzicht auf die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ausspricht. Wenn der Herr Bundeskanzler gegen
seine Gewohnheit an diesem Punkte schwanken würde, dann würde ihm seine Fraktion dringend empfehlen, hier unter allen Umständen so standfest zu sein, wie er es in den letzten Jahren immer gewesen ist.
Denn was wäre — frage ich — mit einem solchen Verzicht für uns und was wäre für den Frieden der Welt gewonnen?
Ein bedeutender Atomphysiker hat den Appell der Achtzehn damit begründet, daß er sagte, die nukleare Bewaffnung — also zu deutsch die Bewaffnung mit Atomwaffen — der Bundeswehr erhöhe die politische Labilität in der Welt. Ich glaube, das genaue Gegenteil ist richtig. Die Zerrüttung der NATO würde die politische Labilität in Deutschland, in Europa, in der Welt erhöhen.
Sie würde, davon bin ich fest überzeugt, Deutschland schlagartig von einer Krise in die andere stürzen,
weil sie uns in einer unerhörten Weise anfällig machen würde zumindest für die politischen Interventionen der Sowjets.
Ich glaube, daß die Linie der SPD bedauerlich ist, weil gerade darin ihre Gefahren beruhen. Wer den deutschen Beitrag zur NATO entweder zurücknehmen oder seinen maximalen Wert drücken will, der schwächt, so wie die Dinge jedenfalls heute stehen, nicht nur die heute wichtigste Weltorganisation für die Erhaltung des Friedens, sondern der riskiert Deutschland, solange ein anderes,
mindestens gleich verläßliches Schutzsystem für uns nicht besteht.
Noch einmal, meine Damen und Herren — damit gewiß kein Mißverständnis ,aufkommt —: ich verstehe wirklich die Motive und die beabsichtigte Struktur des europäischen Sicherheitssystems, das die deutschen Sozialdemokraten gern hätten. Aber ich verstehe nicht, worauf sie den Glauben gründen, daß ein solches System errichtet werden könnte, ohne daß mindestens ein Gleichgewicht der Kräfte in der Welt vorhanden ist. Und ist die Frage nun nicht erlaubt — mindestens die Frage!
ob dieses Gleichgewicht nicht zugunsten des Ostens ohne jeden Nutzen für Deutschland verschoben würde, wenn sich die derzeitige Außen-und Wehrpolitik der SPD durchsetzte? Wenn schon europäisches Sicherheitssystem nach sozialdemokratischer Vorstellung, dann müßte die SPD doch vor allem auch dafür sorgen, daß ein solches System für die Russen attraktiv wind. Glauben Sie, daß das ,der Fall ist, solange die Sowjets ohne eine solche Bindung, wie sie Ihr Sicherheitssystem vorsieht, abwechselnd mit Offensiven des Lächelns oder mit Offensiven des ,Drohen das deutsche Volk, ja die freie Welt hin- und 'herjagen können, wie sie es für richtig halten?
Es tut mir leid, aber in )den heutigen Forderungen der SPD können wir deshalb nicht mehr sehen als die allerdings konsequenten aktuellen Einzelheiten einer politischen Fehlentscheidung.
Oder sind sie nicht doch mehr? Ich muß gestehen, daß der Versuch, den der Herr Kollege Schmid heute morgen gemacht hat, die Frage in den Bereich der sittlichen Erwägungen zu stellen, mich tief berührt hat. Ich möchte deshalb auf die Frage, ob sie nicht doch mehr sind, nicht einfach mit einem Nein antworten. Ich halte durchaus dafür, daß sie aus noch größerer Tiefe stammen können als aus dem Bereich eines konsequenten politischmilitärischen Kalküls. Es mag wohl sein, daß sich beides in ihnen verbindet: politisch-taktisches Kalkül und }die Urangst unserer Zeit. Wir sind gesonnen — was an uns ist —, 'beides ernst zu nehmen. Deshalb werde ich mir erlauben, nachher darauf noch einmal zurückzukommen.
Zunächst muß ich aber doch noch ein Wort zu der inhaltlich gleichen Forderung der FDP sagen. Denn was bei der SPD eben schon eine Konsequenz ihrer Ablehnung unserer NATO-Mitgliedschaft ist, das steht bei der FDP nun wirklich ganz unkonsequent im politischen Raum.
Die FDP nämlich hat sich damals — und sie hat das in der Zwischenzeit nicht widerrufen — für den Eintritt der Bundesrepublik in die NATO und für die Erbringung eines deutschen Verteidigungsbeitrages in ihrem Rahmenausgesprochen.
— Ausgezeichnet! Ich 'bedanke mich sehr, Herr Kollege Mende. Vielleicht ,explizieren Sie das nachher. Vielleicht sind Sie dann auch so freundlich — Sie sind ja ein viel größerer Militärsachverständiger als ich —,
auf einen Gedanken einzugehen, der mir sehr zu
schaffen gemacht hat, als ich nämlich kürzlich den
ausgezeichneten Artikel unseres Kollegen Dr. Bucher in den „Stuttgarter Nachrichten" gelesen habe. Ich schätze das besonnene Urteil unseres Kollegen Bucher sehr. Er hat kürzlich Ihre Forderungen, die ja inhaltlich mit denen der SPD völlig übereinstimmen, damit begründet, daß es genüge, daß eine andere Weltmacht die Atomwaffen und damit die Möglichkeit des Zurückwerfens, will sagen des atomaren Gegenschlags habe. Das müsse uns genügen. Nun, verehrter Herr Kollege Bucher, man kann sich natürlich auf diesen Standpunkt stellen. Aber ich glaube, man ignoriert dabei den einzigen Fall, auf den es überhaupt ankommt,
nämlich den Ernstfall des Angriffs auf eine Mitgliedsmacht der NATO.
Sehen Sie, Herr Kollege Mende, das ist nun der Punkt, in dem ich mich an Sie als Militär wende: Solange d ie NATO nach dem Grundsatz einer integrierten Armee — nicht nur einer Koalitionsarmee, wie wir sie im 19. Jahrhundert und vielleicht auch noch im ersten Weltkrieg gehabt haben — durchgebaut und geführt wird, muß, wer ihre maximale Funktionsfähigkeit will, auch die Gleichartigkeit der Bewaffnung, der Ausbildung und des Einsatzes ihrer nationalen Kontingente wollen oder zumindest gelten lassen.
Wenn er das nicht will, dann hat er vielleicht Gründe dafür wie den, für die nächsten zwei Jahre einmal zu sehen: Wie wird die Sache im Verlauf der Weltpolitik sich gestalten? Er mag technische Gründe, er mag allgemeinpolitische Gründe dafür haben, aber ich glaube nicht, daß man in einer integrierten Armee, wie es die NATO-Armee sein soll, eine gewisse Gleichartigkeit der Bewaffnung ablehnen kann.