Ich bin gefragt worden. Herr Kollege Schmid, ob der Verzicht der Bundesregierung ohne dolus eventualis gilt. Ich erkläre
— darf ich vielleicht ,die Antwort aussprechen! —, daß der Verzicht der Bundesregierung, wie er in den Pariser Verträgen zum Ausdruck gebracht wird, auf die Herstellung von atomaren Kampfmitteln, biologischen Kampfmitteln und chemischen Kampfmitteln auch heute noch gilt und daß von unserer Seite keinerlei Schritte beabsichtigt sind, diesen Verzicht zu widerrufen oder den von Herrn Erler genannten einstimmigen Beschluß — der sowieso eine Utopie wäre, dessen Herbeiführung ein politischer Irrealismus wäre — herbeizuführen.
Ich erlaubte mir zu kommentieren. — Herr Kollege Schmid, ich werde auf die Frage, die Sie stellen, in meinen Gesamtausführungen antworten.
Da habe ich vorher erklärt, daß ein bedingungsloser, auf alle Zeiten erklärter Verzicht erstens auf Ausstattung mit Atomwaffen aller Art, auch der leichtesten Atomwaffen — deren Wirkungen ich zu kennen glaube —, zweitens die Verweigerung der Ausstattung der USA-Streitkräfte mit Atomwaffen eine Vorleistung gegenüber den Sowjets bedeuten würden, die die konkreten Hoffnungen auf ein Abrüstungsabkommen erheblich vermindern würde.
Ich darf vielleicht den Gedanken, den ich gegenüber Ihnen, Herr Kollege Erler, zum Ausdruck bringen wollte, sagen: Wir sind erklärte Gegner einer Ausdehnung der Atomwaffenproduktion auf immer mehr mittlere und kleinere Völker. Wir sind erklärte Gegner einer nationalen Verfügungsgewalt über solche Atomwaffen,
weil wir wissen, daß Atomwaffen in den Händen von Staaten mit nationalistischer Politik und hochexplosiven politischen Zielen zu dauernder erheblicher Gefährdung führen. Wir haben uns feierlich und laut immer dagegen ausgesprochen.
Wenn man uns fragt: Welchen Beitrag leisten wir?, so darf ich im Namen der Bundesregierung allerdings erklären: In diesen Bestimmungen des Pariser Vertragswerkes erblickt die Bundesregierung einen wichtigen Ansatzpunkt für eine allgemeine Abrüstung.
Die Frage 7 lautet:
Trifft es zu, daß ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums in den Vereinigten Staaten die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen verlangt hat, und ist das die Auffassung der Bundesregierung?
Die Antwort der Bundesregierung lautet: Nein! Frage 8:
Hält die Bundesregierung an der im Zusammenhang mit .der Unterzeichnung der Pariser Verträge schriftlich abgegebenen Erklärung fest, wonach die Bundesrepublik Deutschland keine Atomwaffen herstellen wird?
Die Antwort der Bundesregierung lautet: Ja!
Frage 9:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung getroffen, um die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland vor den möglichen Auswirkungen der Stationierung von Atomwaffen auf 'ihrem Gebiet zu schützen, und ist die Bundesregierung bereit, die Bevölkerung über diese Maßnahmen aufzuklären?
Ich darf die Frage beantworten. Diese Frage soll offenbar den Eindruck hervorrufen, als ob die Bevölkerung der Bundesrepublik durch die Stationierung von Atomwaffen besonders gefährdet würde, sei es wegen der Lagerung, sei es wegen der attraktiven Wirkung für feindliche Angriffe. Diese Auffassung ist irrig.
Eine reine Lagerung von Atommunition erfolgt nach den strengen Vorschriften der Vereinigten
Staaten, wie sie dort im eigenen Lande und auch
in Großbritannien im Interesse des Schutzes der
Zivilbevölkerung sehr streng gehandhabt werden.
Die Bundesregierung hat auch gegen die Auswirkungen der Atomwaffen im Verteidigungsfall Schutzmaßnahmen geplant, mit deren Durchführung bereits begonnen ist. Dazu gehören u. a. das vorläufige Luftschutzprogramm der Bundesregierung vom 11. Juli 1955, die Einbringung des Ersten Gesetzes zum Schutz der Zivilbevölkerung und die Inangriffnahme nachstehender praktischer Maßnahmen: die Schaffung des Bundesluftschutzverbandes als der wichtigsten Selbstschutz- und Aufklärungsorganisation mit zur Zeit 35 000 Helfern, die Vorbereitung des Luftschutzwarndienstes, von dem ein Musterwarnamt bereits arbeitet, die Entwicklung und Beschaffung des modernsten Geräts für den vorgesehenen Luftschutzhilfsdienst, die Bevorratung mit Arzneimitteln, insbesondere die Ausbildung von mehr als einer Million Helfern durch das Deutsche Rote Kreuz, den ArbeiterSamariter-Bund, ,den Johanniter- und den Malteser-Orden.
Alle Planungen und Maßnahmen der Bundesregierung beruhen auf sorgfältiger wissenschaftlicher und technischer Vorbereitung. Drei Unterzeichnete der sogenannten Göttinger Erklärung, nämlich die Professoren Haxel, Maier-Leibnitz und Riezler, haben inzwischen ausdrücklich folgendes bestätigt:
Wir halten die Pläne der Bundesregierung, die ,die Einrichtung eines schnellen und sicheren Warnsystems, den Bau von Schutzräumen, die Aufstellung eines Luftschutzhilfsdienstes, die Anlegung von Arzneimittelvorräten und im Faille der Gefahr gewisse Evakuierungsmaßnahmen vorsehen, für zweckmäßig.
Die Bundesregierung spricht die dringende Bitte aus, daß der Bundestag in den nächsten Wochen und noch vor seiner Auflösung das in den Ausschüssen durchberatene Erste Gesetz zum Schutz der Zivilbevölkerung, in dem sie ein Kernstück ihrer Maßnahmen erblickt, verabschiedet.
Die Bundesregierung weist auch in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der sicherste Schutz für ganz Deutschland in einer Politik besteht, die darauf ,abgestellt ist, einen Krieg zu verhindern. Die Bundesregierung ist mit den Regierungen der übrigen vierzehn NATO-Staaten auf Grund der Ergebnisse der bisherigen Politik ,der festen Überzeugung, daß bis zum Inkrafttreten eines umfassenden Abrüstungsabkommens allein dieser Weg der richtige ist und sein Verlassen unübersehbare Gefahren auf uns herabbeschwören würde.
Es muß auch darauf hingewiesen werden, daß die moderne Waffenentwicklung frühere Raumvorstellungen bereits überholt hat und in immer größerem Maße überholen wird. So sind die Vereinigten Staaten von Amerika als Produzenten, als Träger der atomaren Rüstung und als strategischer Rückhalt für die Verteidigung der freien Welt durch einen sowjetischen Atomangriff am stärksten gefährdet, stärker jedenfalls, als die Bundesrepublik gefährdet ist. Im europäischen Bereich gilt dasselbe für Großbritannien, das aber gerade in seiner atomaren Aufrüstung den stärksten Schutz sieht und nach einem offiziellen Weißbuch die Absicht hat, sein Gebiet zur Basis einer hauptsächlich atomaren Verteidigung zu machen. — Ich erlaube mir diese Ausführungen, um der Auffassung entgegenzutreten, daß speziell die Bundes-
republik als einziges Land in Europa davon bedroht und allein für uns das Problem zu lösen sei.
Die jüngste Entwicklung veranlaßt ,die Bundesregierung, auf folgendes hinzuweisen. Die Bundesregierung teilt die tiefe Besorgnis unseres ganzen Volkes, die durch die fortschreitende Ausrüstung der Weltmächte mit Atomwaffen hervorgerufen ist. Diese Sorge unseres Volkes, das durch die Schrecken des zweiten Weltkrieges am härtesten getroffen ist und seine politischen Auswirkungen heute noch täglich zu spüren bekommt, ist verständlich und berechtigt. Die Bundesregierung weiß aber auch, daß sie den Willen des deutschen Volkes erfüllt und den deutschen Lebensinteressen am besten dient, wenn sie eine realistische Friedenspolitik betreibt. Im Bewußtsein ihrer Verantwortung muß die Bundesregierung davor warnen, angesichts der Haltung der Sowjetunion in dem Bestreben nach Sicherung der Freiheit nachzulassen.
Die Sowjetunion hat eine neue Phase des Nervenkrieges eingeleitet. Die freie Welt in ihrer Gesamtheit und einzelne Staaten und Völker werden auf allen Ebenen abwechselnd mit Drohungen und Lockungen überhäuft. Die Absicht, dadurch die Verteidigungskraft ,des Westens insgesamt zu untergraben und den Verteidigungswillen der Völker von innen heraus entscheidend zu treffen, ist unverkennbar. Mit dieser Einschüchterungsoffensive will ,die Sowjetunion die Möglichkeit wiedergewinnen — ich sage: wieder gewinnen —, ihre militärischen Machtmittel zur Durchsetzung ihrer unverändert gebliebenen politischen Ziele einzusetzen.
Die Bundesregierung fordert die deutsche Öffentlichkeit und insbesondere alle politischen Kräfte auf, den von der Sowjetunion unternommenen Versuch, Angst, Unruhe, Furcht und Panikstimmung zu erzeugen, rauch nicht unbewußt zu unterstützen,
sondern ihm entschieden und entschlossen entgegenzutreten, wie .es .auch die übrigen von dein sowjetischen Drohungen überfallenen Völker getan haben.
So verständlich die Sorgen sind, so schlechte Ratgeber sind Angst und Furcht.
Die Bundesregierung faßt ihre Auffassung zusammen:
Erstens. Nach wie vor ist die Bundesrepublik durch das militärische Potential und die unverändert gebliebene politische und ideologische Zielsetzung der Sowjetunion einer ernsten Bedrohung ausgesetzt.
Zweitens. Eine isolierte Sicherheitspolitik der Bundesrepublik ist heute nicht mehr möglich. Nur im Verein mit unseren Bundesgenossen können die einzig wirksamen Maßnahmen getroffen werden, die geeignet sind, den Ausbruch eines Krieges zu verhindern und damit ganz Deutschland vor ihm zu schützen.
Drittens. Diese Maßnahmen, die ausschließlich der Erhaltung des Friedens und der Sicherung unserer Freiheit dienen, können von der Sowjetunion nicht als Bedrohung aufgefaßt werden und werden von ihr in Wirklichkeit auch nicht als Bedrohung aufgefaßt.
Die Sowjetunion weiß ganz genau, daß die NATO einzig und allein als Verteidigungsbündnis funktionsfähig und nach der demokratischen Mentalität ihrer Regierungen und Völker für eine aggressive Politik ungeeignet ist.
Viertens. Die Bundesregierung versichert erneut ihre Bereitschaft, alles zu tun, was in ihren politischen Möglichkeiten liegt, um ein umfassendes Abrüstungsabkommen herbeiführen zu helfen. Die beste Voraussetzung für ein solches Abkommen ist allerdings die Beseitigung der Spannungsherde. Entspannung, Abrüstung, Sicherheit und Wiedervereinigung gehen Hand in Hand. Alle Bemühungen in dieser Hinsicht sind bis jetzt ausschließlich am Widerstand der Sowjetunion gescheitert.
Ihre Politik besteht in der Praxis nach wie vor darin, ganz Deutschland zu einem sowjetischen Satelliten zu machen.
Fünftens. Die Bundesregierung hat die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen bisher weder verlangt noch ist sie ihr angeboten oder aufgedrängt worden. Es ist ihr ausgesprochener Wunsch, daß durch den Abschluß eines Abrüstungsabkommens sich dieses Problem von selbst erledigt.
— Auf welche Weise? Hören Sie mich doch weiter. — Unser Land hat als einziger Staat der Welt auf die Herstellung von Massenvernichtungsmitteln verzichtet. Vivant sequentes! Innerhalb der Westeuropäischen Union hat sich die Bundesrepublik gemeinsam mit ihren Partnern einer Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle unterworfen. Das sind konkrete Beiträge der Bundesrepublik zu den Abrüstungsbestrebungen in der Welt.
Sechstens. Bis zum Erfolg der Abrüstungsbemühungen kann die Bundesregierung im Interesse der Sicherheit der Bundesrepublik den Streitkräften der Vereinigten Staaten, dem Rückhalt der gemeinsamen Verteidigung, die Bereitstellung solcher Waffen nicht verweigern, die denen der Roten Armee im entsprechenden Bereich mindestens gleichwertig sind.
Siebtens. Zum Schutz der Bevölkerung sind, unter Berücksichtigung des neuestens Standes der Technik, wirksame Maßnahmen geplant.
Ihre Durchführung hat bereits begonnen und wird nach Verabschiedung des Gesetzes über den Schutz der Zivilbevölkerung in verstärktem Maße fortgesetzt werden. Zugleich mit dem Aufbau der Bundeswehr dienen auch diese Schutzmaßnahmen der Sicherheit des einzelnen und der Abwehrbereitschaft des Staates. Auch sie sind ein Beitrag zur Verhinderung des Krieges.
Achtens. Die Sowjetunion ist nach wie vor eine gewaltige Militärmacht, die über die stärksten konventionellen Streitkräfte und über Atomwaffen aller Art verfügt. Bisher liegt leider kein Beweis dafür vor, daß die Sowjets ihre aggressive politische Zielsetzung aufgegeben haben. Die Bundesregierung warnt davor, in der praktischen und psychologischen Verteidigungsbereitschaft nachzu-
lassen, bevor die Sowjetunion eine sichtbare Bereitschaft zeigt, einen Ansatz dieser Bereitschaft zeigt, die Spannungsherde zu beseitigen und nach jahrelangen Verhandlungen endlich einem Abrüstungsabkommen zuzustimmen. Die Bundesregierung ist bereit, sich einem solchen Abkommen jederzeit zu unterwerfen. Bis zu diesem Zeitpunkt, den niemand mehr als das deutsche Volk herbeisehnt, muß aber auch für uns der Leitspruch aller in der atlantischen Sicherheitsgemeinschaft vereinigten Nationen gelten: „Vigilia pretium libertatis." — Frei bleibt nur, wer auf der Hut ist.